Dieter Wellershoff: Der schöne Mann und andere Erzählungen

Erzählungen aus den Jahren 1973 bis 1986 sammelt der Aufbau-Verlag zum zweiten Buch, das in der DDR von Dieter Wellershoff erscheint. Nur „Doppelt belichtetes Seestück“ war zuvor schon einmal bei uns gedruckt, in der Reihe „Erkundungen“ des Verlages Volk und Welt, der in seinem umfangreichen Lesebuch „BRD heute. Westberlin heute“ (1982) das Filmszenarium „Die Freiheiten der Langeweile“ folgen ließ und damit den Boden bereitete für den großen Roman „Der Sieger nimmt alles“, den dann Aufbau 1986 herausbrachte. Es ist hier nicht der Raum zu erörtern, warum wir gerade Wellershoff später als andere wichtige BRD-Autoren für uns entdeckt haben, unser Bild von ihm bekommt jetzt jedenfalls langsam Konturen.

Wellershoff, 1925 geboren, muss mit dem Ruf leben, ein Initiator des so genannten „neuen Realismus“ in der Bundesrepublik zu sein, der in der ersten Hälfte der sechziger Jahre proklamiert und dann, Wandlungen und Variationen unterworfen, auch recht breit praktiziert wurde. Wellershoff selbst hat, was nicht eben die Norm ist in der Literaturgeschichte, sein Programm sehr präzise bedient beziehungsweise umgekehrt seine Schreibpraxis höchst hellsichtig auf die treffenden Formulierungen gebracht. Wohl gibt es Weiterungen bei ihm, in der Substanz jedoch lässt sich noch heute in seiner Prosa erkennen, was er schon 1965 so beschrieb: „An die Stelle der universellen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzten Bereich.“

Die sieben für die bb-Bücherei ausgewählten Erzählungen begrenzen äußerst konsequent ihren Gegenstand auf krisenhafte Mann-Frau-Beziehungen, so konsequent, dass nur geringfügige Details überhaupt kenntlich machen: dies sind Menschen aus der Bundesrepublik, wir haben uns den gesellschaftlichen Hintergrund, das soziale Umfeld hinzuzudenken. „In den Erzählungen dominieren Phantasien vom Glück“ - nannte Wellershoff einmal in einem Interview den bestimmenden Inhalt seiner kürzeren Prosa. Dabei gestaltet er in keiner der vorliegenden Erzählungen etwa das Realwerden solcher Phantasien, real bleiben Einsamkeit und Ängste, Furcht vor ersehnter Nähe, Missverständnis, Kälte.

In der letzten Erzählung „Die Fähre nach England“, die mir neben der – auch schon verfilmten – Titelerzählung „Der schöne Mann“ den stärksten Eindruck hinterließ, schreckt eine Frau vor der Verwirklichung ihres sorgsam gehüteten Traums vom anderen Leben zurück, sie löst das Verhältnis in dem Moment auf, wo es sich erfüllen könnte, die Fähre fährt ohne sie über den Ärmelkanal. Frauen sind es vor allem, denen Wellershoff eine psychologisch tiefe Gestaltung widmet, die sich mir auch dort einprägen, wo sie der Autor aus dem erzählten Vordergrund herausgenommen hat. Allemal eindrücklicher als das Drama des „schönen Mannes“ ist die verdrängte Tragödie seiner Freundin Barbara. Wenn Dieter Wellershoff auch auf formulierte Verallgemeinerungen verzichtet, die wie ein Rezept klingen könnten: ein Gegenbild zu den falschen, den verfehlten, den unglücklichen Leben, die er schildert, hat er doch: Es verblüfft und erschreckt zugleich: „Die Möwen begleiteten die Fährschiffe hin und her zwischen den Häfen. Das war ihr Leben. Nichts daran war falsch.“
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE, Nummer 93, Seite 13, 12, Mai 1989, unter der Überschrift „Freiwilliger Verzicht auf Glück“,
nach dem Typoskript


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