Tagebuch

13. April 2025

Zugegeben: Wenn ich mich jetzt nicht mit Sarah Kirsch beschäftigt hätte, um ihres 90. Geburtstages am kommenden Mittwoch gedenken zu können, wäre „Frauen schreiben“ von Jürgen Serke nicht auf meinem Arbeitstisch gelandet. Mir wäre entgangen, dass er genau heute vor einem Jahr starb. Er schrieb über verbrannte Dichter, über verbannte Dichter und auch über Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. Sein Buch „Böhmische Dörfer“ würde ich gern noch erwerben, es ist mir aber vorläufig selbst antiquarisch noch zu teuer. Über mich hat er nicht geschrieben, obwohl ich auch eigenmächtig blieb, was sogar die Stasi protokollierte. Am 13. April 1995 reisten wir mit dem Bus nach Brüssel, das Hotel „Fimotel“ lag eher im Gewerbegebiet, zu Fuß in die Stadt ging nicht. Für mich war es schon die zweite Belgientour, 26 weitere folgten, meiste kurze, Übernachtungen in Summe exakt 100. Einmal Belgien ist auch 2025 im Plan, jetzt aber geht es erst einmal gen Italien.

12. April 2025

Spitzt man eine Frage hinreichend zu, klingt sie ganz anders. Zum Beispiel: Soll ein Tier lieber legal aussterben als illegal im Privatzoo eines Multimilliardärs weiterleben? Wir sind, medial gut erzogen, natürlich für legales Aussterben. Es würde uns sonst ein guter Grund für öffentliches Weinen fehlen. Es wäre gut, statt weiterer Gender-Lehrstühle solche für Praktische Warnologie einzurichten für sämtliche Einzelfach-Warner, die uns allabendlich die nächsten sieben bis elf Weltuntergänge voraussagen. So viel Wände kann niemand errichten, alle Teufel an sie zu malen. Man müsste eine neue Vorrats-Teufel-Speicherung einrichten, Vorratsdaten allein machen den Kohlrabi nicht fett. Heute verrät uns das einstige Zentralorgan „Neues Deutschland“, dass die Geschichte des Instituts für Sozialforschung neu geschrieben werden muss, weil die Sekretärinnen, Gattinnen und Hilfskräfte darin fehlen. Brecht fragte einst nach dem Koch, war aber nur ein Mann.

11. April 2025

Unsereiner, wenn er an selig-unselige Tage des Studierens in Berlin denkt, denkt nicht immer nur, wie beeindruckend das Fächer-Spektrum sich ausgemacht hätte im fernen Westen: Er studierte Logik, Politische Ökonomie, Psychologie, Ethik, Ästhetik, Deutsche Geschichte, Philosophie und das alles in nur zehn Semestern an einer einzigen Universität. Ich wäre wohl ein Quasi-Wundertier gewesen. Eins hätte ich freilich nie gekonnt: mich als Schüler eines Lehrers zu outen. Ich erinnere mich nur mühsam meiner Lehrer und der einzige, den ich nennen würde, lehrte mich nur Stoff und Vorlesungskunst. Seinen Spuren zu folgen, fiele mir schwer. Woran ich aber leidlich konturierte Erinnerungen habe: an Ferdinand Lassalle, dessen 200. Geburtstag auf heutigen Freitag fällt. Die Sozialdemokraten tragen ihn tapfer als einen ihrer Gründerväter, lieber jedenfalls als den anderen, der Karl hieß und es mit Friedrich hatte. Mich bewegte die „Sickingen-Debatte“ als Quell-Theorie.

10. April 2025

Nachruf für die blaue Blume. Ein AfD-Abgeordneter trug im Bundestag eine blaue Blume am Revers, Doppelpunkt: Ein rechtsextremes Symbol. Lese ich. Nun beiß mich der Honigdachs. War die blaue Blume nicht, verdammte Axt, das Erz-, Ober-, Haupt- und Sonstwie-Symbol deutscher Romantik? Habe ich irgendwas verpasst? Ist die historische Vollverblödung dieses ohnehin von massiver Lernschwäche gebeutelten Volkes noch größer als zu vermuten war nach allen Pisa-, Florenz- und Neapelstudien? Kruzifixundkruzitürken. Blumen am Revers, das geht ja gar nicht. In der Schweiz hat sich ein feministischer Jodelchor gegründet, Name „Echo vom Eierstock“. Das trauen wir denen gar nicht zu, wir Schluchtenjodler. Man stelle sich vor, es würde sich hinter Husum ein machistischer Shanty-Chor gründen, „Die Sackschaukler“. Ansonsten könnten wir an Paul Leppin, Schriftsteller, denken, heute vor 80 Jahren in Prag gestorben, ebenda 1878 geboren.

9. April 2025

Dass die Hamburger ZEIT sich entschlossen hat, Kiew in Kyjiw zu verwandeln, kann man korrekt finden, muss aber nicht. Schließlich findet das selbe Wochenblatt Moskau oder Prag keineswegs unkorrekt, gar nicht zu reden von Albanien, welches sich selbst so gnadenlos anders nennt als wir alle, ich kannte das schon als junger Briefmarkensammler vor sechzig und mehr Jahren. Als junger Ungarn-Reisender erfuhr ich, dass die Ungarn, die sich auch nie Ungarn nannten, keinerlei Problem damit, hatten Dresden Dresda zu nennen oder Leipzig Lipcse. Blöder ist, dass kein deutsches Edel-Feuilleton es komisch findet, wenn ukrainische Soldaten Kampfnamen tragen wie Wrestler, einer, las ich wiederum bei den Hamburgern, nennt sich Kardinal. Ich war 1971 bis 1973 Soldat Ullrich, dann Gefreiter Ullrich, undenkbar, dass ich mich Bischof genannt hätte oder vielleicht Papst, selbst Honni wäre aufgefallen. Einer meiner Mit-Soldaten hieß Pabst, war rothaarig und nicht katholisch.

8. April 2025

„Stimme über Barbaropa“ hieß das Buch von Albert Ehrenstein mit ausgewählten Gedichten, das ich mir zu DDR-Zeiten zulegte. Später kamen zwei deutlich dickere Bände hinzu: die „Briefe“ und  „Aufsätze und Essays“ aus der Werkausgabe. DDR-Nachwort-Autor Jürgen Jahn lutschte natürlich Kommunismus-Nähen aus bestimmten Äußerungen Ehrensteins. Doch wer 1937 die Sowjetunion Stalins löblich fand, kann nicht sonderlich genau hingesehen haben. Heute ist einfach nur der 75. Todestag von Ehrenstein. Man kann ihn vergessen. Besser wäre, es nicht zu tun. Auch ein Buch über ihn steht in meinem Regal: „Wann endet die Nacht“ von Karl-Markus Gauß. Der ist ein Jahr jünger als ich, Österreicher, und solange er noch der Herausgeber von „Literatur und Kritik“ war, war ich sein Abonnent. Danach missfielen mir die Hefte der neuen Herausgeberin, ich kündigte. Gegen Abend kein Internet-Zugriff, es half schließlich die alte High-Tech-Lösung Stecker ziehen.

7. April 2025

Dass Frauen, die Bücher schreiben, wenn sie älter werden, auch auf die Idee kommen, Bücher über Frauen zu schreiben, die älter werden und Bücher schreiben, finde ich nicht sonderbar. Obwohl ich ein alter weißer Mann bin. Eben lese ich eine männliche Buchkritik über das Buch eines Mannes, das eine Frau übersetzt hat und dort steht: „Man sollte hier keinen Coming-of-Midlife-Crisis-Roman erwarten.“ Ich gestehe, dass ich in etwa 65 Lese-Jahren meines Lese-Lebens noch nie einen solchen Roman erwartet habe, ich ahnte nicht, dass es solche Romane gibt, obwohl ich natürlich gelegentlich hörte, dass es Coming-of-Age-Romane gibt. Georg Herwegh, der heute vor 150 Jahren entschlief, hätte vielleicht seine helle Freude daran, was jetzt alles von den Literatur-Agenten in die Werbeverkaufs-Shows geschickt wird. Könnte aber auch sein, dass er bedauern würde, nicht genug gegessen zu haben, um hinreichend kotzen zu können. Mühlberg war jedenfalls ein Erinnerungsort.

6. April 2025

Es ist vertrackt: Um nicht in den Keller steigen zu müssen, klettere ich auf meinen Drehstuhl am PC, um in einer oberen Reihe an „Die Maßgaben der Kunst“ zu gelangen von Peter Hacks. Der hat 1976 in der NDL, für die ich später auch gelegentlich schrieb, „Der Sarah-Sound“ veröffentlicht. Ich finde ein Lesezeichen bei „Der Fortschritt in der Kunst“, auch aus dem Jahr 1976, bald in den Stoff-Fundus für meine Diplomarbeit geratend, nachdem Günter Kunert für mich keines mehr sein durfte. Das Fossilientreffen klingt nach, wir sprachen viel von damals, weil uns genau das ja stetig verbindet. Einer erinnert sich an Details meiner Seminare in der Matrikel 80, jetzt auch schon ein Rentner wie ich. Bei Jürgen Serke lese ich über Sarah Kirsch nach ihrem Abgang aus der DDR. Sein Hacksatz-Stil nervt mich mehrfach über die Maßen. Dafür bin ich jetzt über von Karl Mickel verfertigte uneheliche Kinder informiert. Ich nehme das neue Sonntags-Wissen mit nach Mühlberg.

5. April 2025

Jahraus, jahrein kollidierte dieser Termin in meinem Leben als schaffender sozialistischer Ex-Werktätiger im Ruhestand mit meinem Termin als Mitglied einer Großfamilie, deren meinerseitiger Anteil eher winzig ist. Das so genannte Fossilientreffen geht auf einen Kollegenkreis zurück, der sich aus jenen Zeiten kennt, da die Technische Universität Ilmenau noch bescheiden nur Technische Hochschule war. Mal treffen wir uns am Bahnhof, mal vor der Mensa, die Fußlahmen gehen gleich zum finalen Versammlungsort, die anderen durchgeistern, weil sie teils lange nicht hier waren, das Hochschulgelände, welches längst Campus heißt, obwohl dort kaum jemand kampiert. Manchmal gibt es Futter im Wald, dazu Flaschenbier (noch nie Büchsenbier) und selten kam es vor, dass ich den Ex-Kollegen aktuelle Bücher aus meinem Buchschaffen verkaufte. Heute denke ich, bevor ich loslaufe, an Saul Bellow, den Amerikaner, der vor 20 Jahren starb und 1976 Nobelpreisträger war.

4. April 2025

Während aus Münster ein nettes altes Buch in meinem Briefkasten gelandet ist, den Briefwechsel von Louise von François und Conrad Ferdinand Meyer enthaltend, herausgegeben von Anton Bettelheim, in der zweiten vermehrten Auflage von 1920, rätsle ich weiter, wie die Post bei uns jetzt funktioniert. Ein gelbes Auto kommt morgens, ein zweites am frühen Nachmittag. Ein anderer Dienst teilt mir mit, dass er zwischen 12.10 und 12.45 Uhr da sein wird, er sei noch 17 Stationen von mir entfernt, und er ist dann auch tatsächlich da. Ich schleppe zwei Kartons in den Keller, die ich entleere und sorgfältig flach gemacht auch gleich wieder entsorge. Das ist meine ganz private Kreislaufwirtschaft. „Blitz aus heiterm Himmel“ heißt eine Geschichte von Sarah Kirsch, in der Zella-Mehlis genannt ist, was mich an mein Wirken in der Vertrauenskommission zur freiwilligen Aufklärung von Stasi-Verstrickungen meiner lieben Kollegen erinnert, wir tagten in Zella-Mehlis.

3. April 2025

Herr Donald Trump, im Ehrgeiz, eine Weltwirtschaftskrise zu inszenieren, die dazu führen könnte, dass ein Erdnussbutter-Fabrikant zur Waffe greift und ihn besser trifft als diese Lusche, die ihm nur werbewirksam das Öhrchen anschoss, arbeitet sich an meinen Fonds ab. Er sülzt in die Welt, mein Geld wird weniger, ohne dass ich es ausgebe. Da ich keine Gegenzölle verhängen kann, schlage ich meiner Zeichensetzer- und Gesichtzeige-BRD vor, doch mal ein halbes Jahr lang keine Filme und Serien mehr aus Basecap-Country zu kaufen. Das würde zwar die Privatsender austrocknen, aber bei der Ukraine setzen wir ja auch auf die Opferbereitschaft unseres stolzen Völkchens. Man könnte in den großen Feuilletons mal ein halbes Jahr lang keine amerikanischen Bücher mehr bewerben, pardon, besprechen. Finnische Romane gehen auch oder wallonische, ich schrieb vor Jahren sogar einmal über einen tunesischen Roman und meine Kritik wurde prompt ins Arabische übertragen.

2. April 2025

Lange waren wir nicht in Hohenfelden. Nun endlich sind die ersten beiden Gutscheine eingelöst, wir sind mit vier Stunden zufrieden, mehr muss gar nicht unbedingt sein. Und wir hatten Ruhe. Die zweite Aufguss-Variante war Hardcore, ich musste aus der obersten auf die mittlere Ebene, was mir seit Jahren nicht mehr passiert ist. Aber ich bekam das Gefühl, mir fallen die Ohren ab. An Hans Christian Andersen dachte ich keine Sekunde, der vor 220 Jahren genau in Odense geboren wurde, wo wir kurz waren, als wir noch nach Dänemark reisten. Sieben Wochen insgesamt verbrachten wir dort zwischen 1994 und 2007, Odense fiel ins Jahr 2007. Ich hätte Mühe, auf Anhieb die Fotoalben zu finden, die wir damals tapfer noch füllten. Dafür fülle ich jetzt einen grünen Schuhkarton mit Zeitungsausschnitten in der Hoffnung, sie vergilben dort nicht so schnell wie im althergebrachten Haufen. Es fehlt allenthalben Platz, ich bräuchte einen Archivraum, der mich keine Miete kostete.


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