Tagebuch
31. Mai 2025
Das Lesen alter Kinderbücher wird keinesfalls eine neue Gewohnheit bei mir, ab und zu aber ist es höchst interessant und aufschlussreich. Ärgerlich die Lektüre der Radio-Ansprachen von Thomas Mann, von denen es 25 schon einmal 1942 im Druck gab, später waren es 55 und jetzt sind daraus gar 58 geworden, umrahmt von Vorwort und Nachwort von Mely Kiyak. Als Haus-Kolumnistin des Maxim-Gorki-Theaters Berlin, nachdem dies in ein postmigrantisches Theater verwandelt wurde, hat sie einen festen Fan-Block. Ich gehöre nicht dazu. Ich gehe auch nicht mehr in die einstige Sing-Akademie, wo ich zuletzt einen „Kirschgarten“ sah, der keiner war und das ist auch schon wieder elf Jahre her. Vielleicht wäre der Name Nazim-Hikmet-Theater ehrlicher gewesen seinerzeit, aber nun ist es eben, wie es ist: nichts für mich. Von Thomas Manns Ansprachen füllen 25 auch das Insel-Buch Nummer 900 und mich mit der Frage; welche 25 bis 28 fehlten in der DDR und warum.
30. Mai 2025
Am „Doktor Shiwago“ bin ich doppelt gescheitert: am Buch später als am Film, der schien mir eine grausige Schmonzette zu sein. Boris Pasternak starb am 30. Mai 1960, 70 Jahre alt, nicht lange, nachdem er den ihm zugesprochenen Literatur-Nobelpreis nicht annehmen durfte. Nur „Luftwege. Ausgewählte Prosa“ und „Initialen der Leidenschaft“ (Gedichte zweisprachig) stehen bei mir, noch heute will mir der ägyptische Film-Beau Omar Sharif als Russe ungefähr so glaubhaft erscheinen wie eine Frau aus Nigeria als Othello. Der Tag endet mit den letzten drei Folgen von „Yellowstone“, der Serie, die meine Abneigung gegen Serien nicht tilgt, mir aber zugleich zeigte, wie sensationell gut etwas sein kann, was aus Amerika kommt. Ein Pilotfilm und 53 Folgen, die Triggerwarnungen kündeten Schimpfwörter, Nacktheit, Gewalt, flackernde Lichter und sexuelle Inhalte an, manchmal sogar nichts. Die Altersfreigaben wechselten zwischen 12 und 16. Nun noch die Vorgeschichten.
30. Mai 2025
Am „Doktor Shiwago“ bin ich doppelt gescheitert: am Buch später als am Film, der schien mir eine grausige Schmonzette zu sein. Boris Pasternak starb am 30. Mai 1960, 70 Jahre alt, nicht lange, nachdem er den ihm zugesprochenen Literatur-Nobelpreis nicht annehmen durfte. Nur „Luftwege. Ausgewählte Prosa“ und „Initialen der Leidenschaft“ (Gedichte zweisprachig) stehen bei mir, noch heute will mir der ägyptische Film-Beau Omar Sharif als Russe ungefähr so glaubhaft erscheinen wie eine Frau aus Nigeria als Othello. Der Tag endet mit den letzten drei Folgen von „Yellowstone“, der Serie, die meine Abneigung gegen Serien nicht tilgt, mir aber zugleich zeigte, wie sensationell gut etwas sein kann, was aus Amerika kommt. Ein Pilotfilm und 53 Folgen, die Triggerwarnungen kündeten Schimpfwörter, Nacktheit, Gewalt, flackernde Lichter und sexuelle Inhalte an, manchmal sogar nichts. Die Altersfreigaben wechselten zwischen 12 und 16. Nun noch die Vorgeschichten.
29. Mai 2025
„Man soll den Feind kennen, ehe man ihn abtut.“ Schrieb Klaus Mann im Jahr 1931. Er wusste auch, dass man schon nach wenigen Jahren Exil nicht mehr wirklich weiß, was zu Hause passiert. Wir glauben heute allen alles, wenn es in unser Bild passt, egal wie lange unsere Gewährsleute da schon nicht mehr waren, worüber sie alles zu wissen vorgeben. Den Feind tun wir nicht nur ab, ehe wir ihn kennen, wir nennen jeden, der es nicht so hält, einen Feind-Versteher. Feind-Versteher sind fast schlimmer als die Feinde selbst. Der Allgemeine Anzeiger liegt schon heute mit dem Datum 31. Mai im Briefkasten. Vermutlich, weil am 31. Mai Weltuntergang ist. Weil heute auch der 100. Geburtstag von Horst Beseler ist, der es immerhin bis zum 95. Geburtstag tatsächlich schaffte, warf ich ein paar Blicke in sein und unser Leben. In unserem „Käuzchenkuhle“ steht „Elke Schilling 1966“, da waren noch volle zehn Jahre Zeit bis zu unserer Verehelichung in Berlin-Lichtenberg.
28. Mai 2025
Was ein Kollateralschaden ist, glaubt jeder zu wissen. Hat schon einmal jemand erwogen, dass es auch Kollateralnutzen geben könnte? Wenn zum Beispiel ein wirklich bekannter Professor, der zugleich in allerlei plus drei Gremien sitzt, das Zeitliche segnet, haben die großen Printmedien solchen Nutzen: bis zu drei komplette Seiten an Todesanzeigen füllen Blatt und Kasse, noch sind diese Anzeigen nicht in die so genannten sozialen Medien abgewandert, auch möchten Firmen und Familien der Großen, Schönen und Reichen natürlich nicht im Gratisblatt der Kreisverwaltung vor sich hin trauern. Der Kollateralnutzen der Jahre seit Putins Überfall auf die Ukraine schlechthin: wir haben von Menschen aus der Ukraine erfahren, von denen wir sonst nie auch nur eine Zeile gelesen hätten: Cellistinnen, Choreographen, Autoren aller Art, Fotografen, Schauspielern. Und Rentner wie Rentnerinnen, die hier Bürgergeld nehmen, sparen zu Hause die winzige Rente vermögenswirksam.
27. Mai 2025
Der 500. Jahrestag einer Hinrichtung ist nicht der geborene Anlass für große Begängnisse. Wir haben des Bauernkrieges nun gedacht in unerwarteter Ausführlichkeit. Ich erinnere mich, mich als Kind sehr oft in der Volksausgabe von Wilhelm Zimmermanns „Der Große Deutsche Bauernkrieg“ festgelesen zu haben (Dietz Verlag 1953). Der geborene Schwabe hat mehrere Lebensstationen mit dem drei Jahre älteren Eduard Mörike gemeinsam, mit dem ich gerade intensiv umgehe, war sogar sein Freund. Heute ist auch „Diversity Day“. Man konnte schon vor 30 Jahren in Berlin „Diversity Management“ studieren, ich weiß, wovon ich rede. Heute gibt es bezahlte „Diversity-Beauftragte“ an Universitäten, Ein-Mann-(oder Frau)Wächterräte. In meiner Studienzeit gab es Vorlesungen und Seminare zur Dialektik von Identität und Unterschied. Heute fällt manchen bei Identität nur noch identitär ein, was gerade nicht auf großes Unterscheidungsvermögen hindeutet im Oberstübchen.
26. Mai 2025
Eigentlich müsste ich bei passender Gelegenheit das Lob des Personenregisters singen, am heutigen 150. Geburtstag von Helene Voigt-Diederichs wäre sogar eine gute Gelegenheit dazu. Die erste Gattin des Verlegers Eugen Diederichs war selbst eine sehr erfolgreiche Autorin und starb in der DDR, also genauer in Jena. Ich besitze nichts von ihr, las auch, wenn mich nicht alles täuscht, noch nichts von ihr, begegne aber bei meinen Studien alter Zeitungen und Zeitschriften beständig ihrem Namen. Der seine „Palmbaum“-Abonnenten gern vergessende Detlef Ignasiak hat sie natürlich in seinem Buch „Das literarische Jena“, wo ich auch lese, dass sich ihr Grab auf dem Nordfriedhof befindet. Von dem ich wiederum nicht weiß, wo er sich befindet, vermutlich im Norden Jenas. Also ohne Personenregister ist die Arbeit mit bestimmten Büchern nahezu unmöglich, weshalb ich mir mit Hilfe der lieben Frau an meiner Seite bisweilen selbst welche anfertige, druckfertige darunter.
25. Mai 2025
Die Süddeutsche Zeitung, einst, sehr einst, irgendwie im Bestand eines heute schwer vorstellbaren SPD-Presse-Imperiums, ich lernte noch einen Top-Manager mit einem drei Meter langen Rotschal um den edlen Hals kennen, als ich in den neunziger Jahren nach Arnstadt expandieren durfte mit selbstmörderisch langer Verzögerung, gilt manchen immer noch als links, was sie im Vergleich zu einem selbst definierten Rechts sicher auch stets bleiben wird. Wer angesprochen werden soll, erhellt sich mir im heutigen Teil „Unterwegs“. Das Blatt erwarb ich gestern für ein Entgelt, das mittlerweile jeder Beschreibung spottet. Eine Seite über ein Prager Hotel mit Übernachtungspreis ab 550 Euro, eine Seite über ein Wohnmobil zum Preis eines Eigenheimes. Überhaupt: während alle von Klimawandel sabbern, preisen die Zeitungen für Reiche, Zeitungen für Arme gibt es letztlich gar nicht, Fernreisen über Fernreisen. Warum in die Nähe schweifen, sieh, das Ferne liegt so nah.
24. Mai 2025
Ähnlich wie Eltern werden auch Kinder immer älter. Wer gestern noch mit den ersten Milchzähnen auf seinem Nuckel-Gummi kaute und Spinat ausspuckte, führt heute stolz die dritte Freundin seines sechzehnjährigen Lebens mit sich, den dritten Freund, falls es sich um ein Wesen vorläufig so akzeptierten Geschlechts handelt. Man trifft Menschen, mit denen man seit 50 Jahren verwandt ist, manche kennt man länger und viele waren da noch gar nicht auf der Welt. 79 Messerattacken pro Tag vermeldet die Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland für 2024. In Berlin wird selbst in Grundschulen schon gestochen und wenn irgendwelche Nazis nach den Vornamen der Stecher fragen, die laut Hauptnachrichten Deutsche waren, dann heißen sie völlig überraschend doch nicht Karl-Heinz, sondern Rahman Abdullah. Eine Schweizer Antiquarin verlangt für ein preisgekröntes Buch eines Schweizers mehr Versandkosten als das Buch in Deutschland ohne Versand kostet.
23. Mai 2025
Der Leser, lernte ich noch in Schulungen für verantwortliche Redakteure, will die Kegelergebnisse nicht heute auf Seite 7, morgen auf Seite 4, und übermorgen auf Seite 13 finden. Ich lernte auch, dass Bildtexte etwas zum Bild auszusagen haben. Namen sind Nachrichten, sagte ein aus anderen Gründen zum Glück im Orkus der postkommunistischen Pressegeschichte verschwundener Boss. Gilt alles nicht mehr. Heute ist Zeitung wie Donald Trump. Mal hü, mal hott. Ich musste seinerzeit noch einen Fotografen, der pro Bild bezahlt wurde, verwarnen, weil er dem Seitenverantwortlichen sieben kleine Fotos für eine Seite aufschwatzen wollte. Heute sind Fotos im Format A4 die Regel. Falls sie zum Text passen, darf man für manche Blätter mit Weltruf in ihrer Chefetage schon von einem Glücksfall sprechen. Erst morgen ist der 120. Geburtstag von Michail Scholochow, der nicht „Krieg und Frieden“ schrieb, doch sehr wohl „Der stille Don“. Ich aber bin morgen ganz in Familie.
22. Mai 2025
Wer Orte sucht, die garantiert nicht überlaufen sind, ist in Westaustralien gut aufgehoben. Arezu Weitholz (Jahrgang 1968), die natürlich auch Romane schrieb, kann sich vermutlich die Fernflüge guten Gewissens und gefüllten Geldbeutels leisten. Wenn unsereiner Orte suchen würde, die sehr viel näher und noch viel weniger überlaufen sind, wählte er Garsitz hinter Königsee, die haben dort noch nicht einmal eine Kirche, in die man flüchten kann, wenn es regnet. Wenn sie eine hätten, wäre sie evangelisch und zu. Mit dem Flugbenzin nach Westaustralien könnte mich mein sparsamer Toyota vermutlich zweihundert Jahre lang bei Bedarf nach Garsitz bringen. Wenn übrigens alle in Westaustralien gewesen sind dann, werden sie zu Hause erzählen, dass es doch ziemlich überlaufen ist. Immerhin können sie dann zu Hause auf diese Touristen schimpfen, die immer überall sind. Auf mich muss nicht nur Westaustralien verzichten, auch der Norden Spitzbergens nebst Wüste Namib.
21. Mai 2025
Diese Art Vergleich ist nicht auszurotten. Besonders im Westen gefällt man sich, wenn man dem Osten voller Verständnis auf die Schulter klopfen will, damit: Der blaue Bock aus Oberhof, der Thomas Gottschalk des Ostens. Jetzt also die kühne Neuerung: Thomas Müntzer als Lenin des 16. Jahrhunderts. Es war unmöglich, in der DDR dem Namen Thomas Müntzer nicht zu begegnen. So vor ein paar Tagen Kerstin Decker. Mir zum Beispiel begegnete der Name als Name meiner Schule in Gehren/Thür., wie das damals hieß. Meine Thomas-Müntzer-Schule teilte sich in die alte in der Theodor-Neubauer-Straße und die neue in der Dimitroffstraße. Neubauer und Dimitroff hieß im Westen nichts und niemand, das waren nämlich Kommunisten. War jener Lenin eigentlich auch der Thomas Müntzer Russlands? Im MDR jedenfalls war tagelang mehr Müntzer als das Wetter von morgen. Seine Revolution war weder friedlich noch siegreich, also eher etwas wie der Normalfall.