Der Mann, der Schillers Flucht inszenierte

Eine Szene fehlt in kaum einer Schiller-Biographie: für die Flucht aus Stuttgart ist alles bereitet, die Pferde der Kutsche scharren gewissermaßen schon mit den Hufen, da sitzt der Dichter noch über einem Band mit Klopstock-Oden und fühlt sich herausgefordert, selbst rasch eine, natürlich eine bessere, zu schreiben. Wir wüssten von all dem nichts, wenn nicht jener damals selbst sehr junge Mann, der Schiller abholte, es uns in seinen späten Lebensjahren schriftlich überliefert hätte. Seine schmale Abhandlung trägt den zeitgemäß überlangen Titel „Schillers Flucht von Stuttgart und Aufenthalt in Mannheim von 1782 bis 1785“.

Der Name des Verfassers: Johann Andreas Streicher. Und weil er am 13. Dezember 1761 in Stuttgart geboren wurde, gibt es heute an seinem 250. Geburtstag einigen Grund, seiner zu gedenken. Andreas Streicher starb am 25. Mai 1833 als hochberühmter und geachteter Mann nicht, weil er in seiner Jugend Schillers Fluchthelfer war, nicht, weil er im Alter nach mancher Korrespondenz mit Schillers Lieblingsschwester Christophine in Meiningen, mit Schillers zweitem Sohn Ernst und mit Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen schließlich doch seine eigenen Erinnerungen druckfertig machte, sondern weil er ein Instrumentenbauer war.

Zunächst aber wollte Streicher, der den zwei Jahre älteren Schiller noch in der Karlsschule kennengelernt hatte und sofort bewunderte und wohl einer der ersten war, der die noch anonym gedruckten „Räuber“ las, einfach nur seiner persönlichen Planung folgen. In Hamburg bei Carl Philipp Emanuel Bach seine Musikstudien vervollkommnen. Dann aber verbündete er sich mit Schiller, floh mit ihm gemeinsam aus Stuttgart und verbrachte die erste Zeit danach mit ihm an verschiedenen Fluchtorten. Das Geld für sein geplantes Studium verschlang die Finanzierung des gemeinsamen Lebens komplett und obwohl Schiller den Freund, den er nie duzte, schließlich allein zurück und seinem Schicksal überließ, war Streicher nie beleidigt, böse oder gar nachtragend.
 
Aus Bauerbach bei Meiningen, wohin Schiller für einige Monate floh und zunächst eine sehr produktive Zeit erlebte, fand einer der allerersten Briefe unmittelbar nach Ankunft seinen Weg zu Andreas Streicher. Mit Schillers Rückkehr nach Mannheim gab es noch einmal eine gemeinsame Zeit, dann sahen sich die Freunde nie wieder und führten auch keinen Briefwechsel miteinander. Und dennoch hat Streicher nicht nur letztlich entscheidend dazu beigetragen, dass Schiller überhaupt nach Thüringen gelangte. Er hat noch ein zweites Mal für Schiller eine große Rolle gespielt, und das ist bis heute weitgehend unbekannt, obwohl alles andere als ein Geheimnnis. Streicher hat sich von Wien aus, wo er nach Jahren in München, vorher Augsburg, seit 1794 lebte, für eine würdige Bestattung des 1805 allzu früh gestorbenen Schiller eingesetzt.
 
Dass Friedrich Schillers Gebeine, die falschen, wir wir heute endgültig wissen, aus dem Weimarer Kassengewölbe geborgen wurden und letztlich in der Fürstengruft landeten, war auch ein Verdienst des rührigen alten Andreas Streicher. Und weil das so war, sei aus der heute noch immer höchst lesbaren und verdienstvollen umfangreichen Schiller-Biographie von Reinhard Buchwald zitiert: „Streichers Lebensgeschichte ist noch nicht geschrieben, eine der mancherlei Unterlassungen unserer Geschichtsschreibung und insbesondere auch der Schillerforschung.“ So alt diese Feststellung inzwischen ist, sie ist aktuell, die Forschungslücke besteht nach wie vor. Buchwald (1884 bis 1983), auch daran sei erinnert, hat etliche Jahre seines Wissenschaftlerlebens in Jena und Weimar gewirkt. Andreas Streicher aber und seine Frau Nannette führten in Wien nicht nur eines der bedeutendsten Klavierbauunternehmen Europas, sie waren auch sehr eng mit Beethoven befreundet. Und Streicher komponierte selbst. Das aber wäre eine andere Geschichte.
 Zuerst in: Thüringer Allgemeine, 22. Dezember 2011, Manuskriptfassung 


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