Zweimal Georg Heym

Das Herz aller Klempner schlägt höher, wenn sie zur Bereinigung einer hoffnungslos verstopften Toilette berufen werden. Den Verunreinigern geschieht – außer verächtlicher Nachrede – zumeist nichts. Einmal aber, im fernen Jahre 1911 und, wenn die Überlieferung nicht lügt, im Amtsgericht zu Berlin-Lichterfelde, fand sich da, wo anderes seinen Weg der Vergänglichkeit nehmen sollte, eine Grundbuchakte. Der Nachwuchs-Jurist Georg Heym war an ihrer Bearbeitung gescheitert und hatte sie kurzerhand per Seilzug ins Unterirdische befördern wollen. Spätere Bürokratie ist seinem Beispiel nicht gefolgt, Heym selbst dagegen mußte vorübergehend seinen Abschied nehmen. Seinen Aufstieg zum Doktor der Jurisprudenz hat es dennoch nicht verhindert. Er variierte dem Vernehmen nach eine ältere Hausarbeit – es waren eben andere Zeiten - und außerdem mußte er sich seine Kräfte einteilen: Wein, Weib und Gesang nebst Dichtung forderten den ganzen Mann, mit letzterer ist er in die Literaturgeschichte eingegangen. Übrigens vergingen dazumal zwischen der Bitte des Verlegers (!!) um ein Manuskript und dem Erscheinen des Buches auf dem Buchmarkt nicht einmal fünf Monate.. Sein zweites Buch hat Georg Heym schon nicht mehr erlebt. Er ertrank beim Eislaufen in der Havel, wenige Wochen nach seinem vierundzwanzigsten Geburtstag. Verständige Menschen sagen ihm in einigen seiner Gedichte die Qualitäten Hölderlins nach, und das heißt absolute Größe. Am 30. Oktober jährte sich sein Geburtstag zum 100. Male.
 Zuerst in: Neue Hochschule, 30. Jahrgang, Nr. 20, 12. November 1987, S. 4 

„Hundert Jahre später möchte ich geboren sein. Dann werden wir den Weltenraum innehaben und mehr denn die Götter sein.“ Das schrieb der am 30. Oktober 1887 in Hirschberg/Schlesien geborene Georg Heym am 17. April 1908 in sein Tagebuch. Am 24. September desselben Jahres: „500 vor Christus zu Athen geboren sein und 400 gestorben. Welches Leben.“ Und am 30. April 1909: „Wahrhaftig, ich müßte vielleicht in den zwanziger dreißiger Jahren meine Jugend leben.“ So träumte sich der junge Mann voraus und zurück, nur immer weg aus seiner Gegenwart, die ihm öde erschien. Er las Hölderlin, Nietzsche, Mereschkowski und Grabbe. Kleist und Büchner traten hinzu, Rimbau, Baudelaire, Keats. Und er schrieb Gedichte, seit 1899 immer wieder Gedichte. Zwei davon erschienen 1906 in der Schülerzeitschrift „Kreißende Sonnen“ und 1907 gab Memmingers Buchdruckerei und Verlagsanstalt Würzburg „Der Athener Ausfahrt. Trauerspiel in einem Aufzug“ heraus.

Den Ruhm, von dem Georg Heym so häufig träumte, brachte das nicht. Den Ruhm brachte erst der Schauplatz Berlin. Die Familie Heym kam am Beginn des neuen Jahrhunderts in die Reichshauptstadt, Vater Hermann Heym hatte eine Berufung an das Reichsmilitärgericht erhalten. Die erste Berliner Wohnung lag in Schöneberg, Martin-Luther-Straße 5, im Jahre 1909 zog man nach Charlottenburg in die Neue Kantstraße 12, danach, 1911, noch einmal in den Königsweg 31. Der Student Georg hatte sich zwischenzeitlich auch einmal kurz ein eigenes Zimmer in der Spichernstraße 14, als Untermieter der Familie Kleinert, besorgt, kehrte aber bald zur Familie zurück. Das Königlich Joachimsthalsche Gymnasium Berlin Wilmersdorf mußte Heym mit einem Abgangszeugnis als Unterprimaer im April 1905 verlassen, bis zum Abitur setzte er seine Ausbildung am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium zu Neuruppin fort.

„Jedes Wochenende, spätestens alle 14 Tage kam er nach Berlin, wo er dann, vor allem in der Sonnabendnacht, alles Versäumte nachholen wollte. Manchmal ging er in Neuruppin am Donnerstag und Freitag ganz früh zu Bett, um Vorrat zu schlafen und war maßlos enttäuscht, wenn er dann trotzdem noch vor Morgengrauen müde wurde.“ So erinnerte sich 1957 Rudolf Balcke, der Bruder von Ernst Balcke, mit dem georg Heym seit 1904 eng befreundet war, mit dem er dann auch an jenem unseligen 16. Januar 1912 ins Eis der Havel brach und ertrank.

Außenstehenden, aber auch denen, die ihm näher standen, erschien Georg Heym stets als unverwüstlicher Raufbold, als Weiberheld, der keine Gelegenheit ausließ. Heym selbst sah sich anders und bis zu einem gewissen Grade war er es wohl auch. „Das wunderbarste ist, daß noch keiner gemerkt hat, daß ich der allerzarteste bin, daß ich viel zarter bin wie Jentzsch, aber ich habe es gut versteckt, weil ich mich immer dessen geschämt habe.“ Sechs Wochen vor seinem tragischen Ende trug er das ins Tagebuch ein. Mitwelt und Nachwelt, dialektischem Denken durchaus abhold, haben mit Vorliebe versucht, Georg Heyms Zwiespältigkeit in die eine oder die andere Richtung umzudeuten mystische Tiefen sind ihm ebenso angedichtet worden wie Scharlatanerie. Zu verleugnen sind weder die Äußerungen höchste Selbsterhebung in seinem Nachlaß noch die zahlreichen Aussagen, die durch den Tod im Wasser der Havel wie präzise Vorausahnungen zu lesen sind.

Ernst Blass, drei Jahre jünger als Heym und mit seinem 1912 erschienenen Gedichtband „Die Straßen komme ich entlang geweht“ selbst folgenreich für die Entfaltung des literarischen Expressionismus, erinnerte sich im „Berliner Tageblatt“ vom 14. Januar 1932: Wir haten die Schule hinter uns, um uns ein fahles und regnerisches Berlin, dazu allerlei Zeitschriften und Bücher. Wir waren ein kleiner Kreis von Studenten, wir trafen uns ziemlich zufällig in einer Stube des Nollendorf-Kasino. Heym las seine Gedichte mit einer ziemlich monotonen Rauhheit hinunter, jede Woche neue, und immer erstaunlicher überwuchs uns seine tiefe Fülle und seine brausende Musik.“ Nach zwei Publikationne im Herbst 1910 erhielt Georg Heym das Angebot des Verlegers Ernst Rowohlt aus Leipzig, ein Buchmanuskript vorzulegen. Nur fünf Monate später lag das Buch vor: „Der ewige Tag“ (1969 im Aufbau-Verlag neu gedruckt). Es blieb zugleich das letzte zu Heyms Lebzeiten gedruckte Buch.

Den Novellen-Band „Der Dieb“ (als Insel-Bändchen 677 1983 neu verlegt) bereitete er noch vor, doch erschien er bereits posthum wie auch der zweite Gedichtband „Umbra Vitae“. „Georg Heym erschütterte Zeitgenossen und Nachgeborene mit einem schmalen Werk, das gnadenlos Entsetzen und Untergang verkündete, wo andere im hochgestochenen Idyll schwelgten; an Stelle schwächlicher Formen klirrten hier Strophen wie disziplinierte Kolonnen...“ schrieb Stephan Hermlin zu seiner Auswahl von Heym-Gedichten für den Reclam-Verlag. Diese Erschütterung hält an.
 Unter dem Titel „Ein schmales Werk, das erschütterte“ zuerst in Berliner Zeitung, Nr. 255, Seite 7, 30. Oktober 1987, Fassung des Typoskripts 


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