Maxim Gorki 1868 - 1936

„Der Künstler ist das Sensorium seines Landes und seiner Klasse, er ist ihr Ohr, ihr Auge, ihr Herz; er ist die Stimme seiner Epoche.“ Diese Aussage Maxim Gorkis trifft auf kaum einen Dichter so genau zu wie auf ihn selbst. Geboren am 28. März 1868 lebte er sein Leben in einem Epochenumbruch. Geboren nur wenige Jahre nach der halbherzigen Reform von 1861, die die beschleunigte Entwicklung des Kapitalismus in Russland ermöglichte, gestorben 19 Jahre nach der Oktoberrevolution, mitten in einer komplizierten Entwicklungsphase des ersten sozialistischen Landes des Welt. Gorkis Name ist heute ein Inbegriff für sozialistische Weltliteratur, er gilt als Begründer des sozialistischen Realismus, sein umfangreiches Werk ist das Werk eines modernen Klassikers.

Dass Klassiker Gefahr laufen, verehrt zu werden, nicht aber gelesen, wusste schon Lessing. Gorki wurde und wird gelesen, wenn auch gerade junge Leute oft schon deshalb Hemmungen ihm gegenüber haben, weil er zur Pflichtlektüre in der Schule gehört. Wer aber sein Werk nicht als eine Illustration zu den Gesetzesaussagen des historischen Materialismus liest, sondern als Kunst gewordenes Fazit eines überreichen, nicht selten auch überharten Lebens, der wird pralle Geschichten finden, Menschen, die er nicht so leicht wieder vergisst und eine Sprache, deren Schönheit auch in den Übertragungen nicht verloren geht.

Gorki war Autodidakt, in seinen Büchern „Meine Kindheit“, „Unter fremden Menschen“ und „Meine Universitäten“ kann man seinen Werdegang verfolgen, eine Vielzahl von Erzählungen und Skizzen spiegelt die Erfahrungen seiner 1891 begonnenen Wanderungen durch Russland. In großen Romanen und Dramen hat er die Methode des sozialistischen Realismus ausgeprägt. Unermüdlich war er als Förderer junger Autoren, ebenso feinfühlig wie bestimmt gab er seine Hinweise in unzähligen Briefen. Dabei war Gorki zeitlebens selbst ein Lernender. Im Dezember 1905 hatte er Lenin kennengelernt, aus der Bekanntschaft entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Lenin half Gorki in Perioden der ideologischen Verunsicherung, vor allem nach der Revolution 1905/07 und 1917/18, Gorki hat ihm in Dankbarkeit ein bleibendes Porträt gewidmet.

„Meine Meinung: Man soll nicht nur bei einem Klassiker lernen, sondern sogar beim Feind, wenn er klug ist. Lernen bedeutet nicht, irgendetwas nachzuahmen – es bedeutet, sich die Methoden der Meisterschaft anzueignen.“ Das war eine Auffassung Gorkis, die sich fast wörtlich auch bei Lenin wiederfindet. Zu den großen Verehrern Gorkis gehörte auch der Österreicher Stefan Zweig. Er schrieb am 22. März 1928: „Ich hasse die Loblieder der Schriftsteller, gemeinsame Manifestationen, Bankette und Reden – nur eine Pflicht erkenne ich an: die Dankbarkeit gegenüber den Meistern. Man darf sein Leben nicht vorübergehen lassen, ohne ein Wort der Dankbarkeit an jene zu richten, die man innig verehrt. Man braucht nicht viel zu sagen. Aber man muss einmal im Leben ein Wort ausgesprochen haben.“ Das gilt fünfzig Jahre nach Gorkis Tod noch immer und die schönste Dankbarkeit heißt: ihn lesen.
Zuerst veröffentlicht in NEUE HOCHSCHULE, 29. Jahrgang, Nr. 12, am 13. Juni 1986,
Seite 6, unter der Überschrift „Die Stimme seiner Epoche“.

Todestage sind selten erfreuliche Anlässe , erinnern sie doch an Verluste, die dann besonders schmerzlich sind, wenn sie auf ein nicht mehr entstandenes Werk deuten. Als Maxim Gorki am 18. Juni 1936 starb, mitten in einer komplizierten Phase der Entwicklung der Sowjetgesellschaft, hatte er ein gewaltiges Werk hinterlassen: Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und Briefe. Gorki war der Inbegriff der sozialistischen Weltliteratur schlechthin, er war Vorbild, unermüdlicher Ratgeber vieler jüngerer Autoren, die später selbst das Gesicht der Sowjetliteratur prägten. Doch gerade die Vorbildlichkeit seines Werkes ist vielleicht sein größtes Problem.

Generationen von Schülern sind mittlerweile aufgewachsen mit der Lektüre der „Mutter“ und immer noch hat sich wenig gewandelt an der traurigen Tatsache, das Schullektüre Autoren auf immer aus dem Interesse der Leser verstößt. Und keiner hat das weniger verdient als Gorki. Wie viele Autoren gibt es denn, die so aus dem vollen Leben schöpfen konnten wie er – und aus was für einem Leben! Erinnert sei an die kleine Erzählung „Die Ausfahrt“, die einen barbarischen Brauch im alten Russland schildert: eine junge Frau, des Ehebruchs verdächtig, wird nackt vor einen Wagen gebunden und mit der Peitsche durchs Dorf geprügelt. Ein junger Mann will sich dazwischen werfen und wird selbst halbtot geschlagen. Dieser Mann war Gorki.

Fesselnde Erlebnisse bieten all seine Bücher, bühnenwirksam sind seine Stücke und voll von herrlichen Rollen für Schauspieler: „Kleinbürger“, „Nachtasyl“, „Sommergäste“, „Wassa Shelesnowa“. Wer immer wissen will, wie sich der Kapitalismus Bahn bricht aus den überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen, der lese Gorki. Dort hat er das Allgemeine, das auch bei Marx und Lenin zu lesen ist und dort hat er das Besondere, das Russische. Und nie ist es pure Illustration.

Die Freundschaft zwischen Lenin und Gorki ist sprichwörtlich geworden, ihre schriftlichen Zeugnisse sind dokumentiert in dem Band „Lenin und Gorki“, 1974 im Aufbau-Verlag erschienen. Der Aufbau-Verlag betreut auch die 24bändige Werkausgabe, von der nur noch der letzte Band fehlt, Briefe sind unlängst erschienen. „Man darf sein Leben nicht vorübergehen lassen, ohne ein Wort der Dankbarkeit an jene zu richten, die man innig verehrt. Man braucht nicht viel zu sagen. Aber man muss einmal im Leben ein Wort ausgesprochen haben.“ das schrieb Stefan Zweig an Gorki zu dessen 60. Geburtstag. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Geschrieben am 30. Mai 1986 für FREIES WORT Suhl, bisher unveröffentlicht.


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