Hjalmar Söderberg: Doktor Glas

Literarische Skandale von einst haben es oft an sich, heutigen Lesern nur ein müdes Achselzucken zu entlocken. Hjalmar Söderbergs schmaler Roman „Doktor Glas“ war zu Beginn des Jahrhunderts in Schweden ein solcher Skandal. Und es ist aufschlussreich zu sehen, dass auch dieser Skandal nur aus dem äußerlich Stofflichen des Romans erwuchs: ein Pfarrer wird nach einem sorgfältigen Plan ermordet und der Mörder wird nicht von der gerechten Strafe ereilt. Was tiefer liegt – und beinahe alles in diesem Buch liegt tiefer – ist den eifernden Kritikern seinerzeit verborgen geblieben. Mehr als 80 Jahre nachdem jedoch ist der „Doktor Glas“ noch immer lebendig, ja er ist streckenweise sogar noch heutigem Empfinden voraus.

Für Söderberg selbst war es ein Bekenntnisbuch. Woher rührt die anhaltende Wirkung, die von ihm ausgeht? Sie kommt, so seltsam es klingen mag, aus der tiefen Menschlichkeit des Mörders. Dieser Doktor Glas, der ein Tagebuch schreibt, lebt keineswegs ein erfülltes Leben, er hat sich mit seiner Einsamkeit arrangiert, hat die Unerfüllbarkeit seiner Träume akzeptiert, er kämpft nicht gegen seine Lage. Bisweilen handelt er gegen sein Gewissen der Konvention folgend, manche Konvention hat er so sehr verinnerlicht, dass sie zu seinen ureigenen Überzeugungen getreten ist. Traumatisches ist dabei, vor allem seine Empfindung von körperlicher Liebe. Zugleich ist er ein hellsichtiger Denker, der sich selbst illusionslos sieht und der Sätze in sein Tagebuch schreibt, die manchen Berufsdenker neidisch machen sollten.

Dieser Doktor Glas gelangt zu der Überzeugung, dass die junge Frau des Geistlichen, den er schließlich vergiftet, nur glücklich sein kann ohne diesen Mann und er ist bereit, sein eigenes Leben für ihr Glück zu opfern. Es ist nichts Rührseliges um diese Geschichte und es gibt keine oberflächlichen Anklagen. Kenner der schwedischen Literatur werden versteckte Polemik mit August Strindberg bemerken. „Ach, was würden meine armen Augen, wäre sie sich selbst überlassen, in der Welt sehen, ohne die vielen hundert oder tausend Lehrer und Freunde, die für uns gedichtet, gedacht und geschaut haben“, schreibt Doktor Glas in sein Tagebuch und das ist ein Hohelied auf die Literatur. Für ihn sind die Dichter „die Instrumente, auf denen die Zeit spielt, Äolsharfen, in denen der Wind singt.“ Ich kannte von Söderberg nur die „Historietten“, die vor vielen Jahren, ebenfalls bei Reclam, erschienen und in dem Nachwort von damals galt der „Doktor Glas“ noch als „die einzige große Fehlleistung Söderbergs“. Doch, - unser Blick ist weiter geworden.
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE, Nr. 55, Seite 13, am 18. März 1988 unter dem Titel
„Literaturskandal um einen Mörder aus Menschlichkeit“, nach dem Typoskript; hier dem heutigen 150. Geburtstag Söderbergs gewidmet


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