Ödön von Horvath: Der Fall E.

Fragmente haben, wenn es nicht gerade solche aus den Federn der Jenaer Frühromantik sind, die eine eigene Vollendung dennoch an sich tragen, die Eigenschaft, leichter übersehen zu werden als abgeschlossene Werke. Ödon von Horvath, geboren am 9. Dezember 1901 in Susak bei Fiume an der Adria, hat neben 17 abgeschlossenen auch unabgeschlossene Bühnenwerke hinterlassen, eines heißt „Der Fall E.“. Als Entstehungsjahr findet man meist 1927 mit Vorbehalt angegeben, es ist nicht von letzter Wichtigkeit, soweit klar ist, es spielt auf alle Fälle nach dem ersten Weltkrieg und in Deutschland. Der voluminöse Sammelband „Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Einzeldarstellungen“, herausgegeben vom Kollektiv für Literaturgeschichte im Volkseigenen Verlag Volk und Wissen, in dem das Buch 1988 erschien, erwähnt den Titel in der Behandlung Horvaths nicht, was einigermaßen, nicht aber vollkommen verwunderlich ist. Immer auf der Suche nach beerbbarem Erbe, wäre gerade dieses Fragment für das DDR-Erbe-Verständnis sicher geeignet gewesen, eine wenigstens teil- und zeitweise große Nähe des Österreichers aus dem alten Ungarn zum Marxismus-Leninismus und zur Sowjetunion zu behaupten, denn deutlichere Sätze zur Sache sprachen Horvath-Figuren selten.

Es wäre denkbar gewesen, die in sieben Bildern überlieferte Geschichte als frühe Entfaltung eines klassischen Falles von Berufsverbotspraxis auf deutschem Boden vorzuführen, denn die Entlassung und schließliche Einlieferung einer Lehrerin, an deren fachlichen Qualitäten weder die Kollegen noch die Eltern der Kinder zweifeln, in eine Heilanstalt, erfolgt aus einem einzigen Grund: Sie war mit einer Studienkollegin weiterhin befreundet, die später Kommunistin wurde und deshalb ins Gefängnis musste, sie hatte in ihr Tagebuch ein Bekenntnis zum Kommunismus niedergeschrieben, mehr nicht. Es gab einen Spitzel von der anderen Straßenseite, der die Variante der offenen Beschattung wählte, einen Vater dieser Lehrerin, der die kommunistische Freundin Eva als Satan ansieht, der verbrannt (!!) gehört, wir sind, nicht zu vergessen, in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Zu den erwähnten Geschichten des Fragmentes gehören ein Lehrerkollege, der den Dienst quittieren musste, weil er eine Protestantin heiratete, ein anderer ist an den Ort festgenagelt, weil seine erste Frau in Garching (!!) sich verbrennen ließ. Zur Erinnerung: Die berühmte Bertha von Suttner kam noch ins stupide Gerede, weil sie 1902 erst für ihren Mann, später für sich selbst die Feuerbestattung in Gotha in Thüringen wählte, die andernorts auf deutschem Boden noch als blanke Ketzerei galt. Sie starb am 21. Juni 1914 in Wien.

Es wäre eine heftige Übertreibung, das Fragment „Der Fall E.“ zu den großen Werken ihres Verfassers zu zählen. Aber es hat etwas, was über die rein faktische Tatsache seiner Existenz im Gesamtwerk hinausreicht. Und das ist gar nicht einmal in erster Linie die heutigen Lesarten entgegen kommende kritische Sicht auf die Art Kommunismus, die die Lehrerin Eva und der Landtagsabgeordnete mit dem, nun ja, auffälligen Namen Ullrich vertreten. Dieser Mann heißt als Bühnenfigur Schaper, stellt sich aber den zur Hausdurchsuchung erscheinenden Polizisten als Ullrich vor und die akzeptieren das interessanterweise. In einer den sieben Bildern nachgestellten Variante des ersten Bildes, vermutlich früher entstanden, heißt der Landtagsabgeordnete noch wenig schmeichelhaft Schminke. Was heute auffällt, in den späten Zwanzigern vermutlich übersehen worden wäre, ist die grauenhafte Phraseologie dieser Kommunisten. So sagt etwa die Lehrerin Eva, eben aus der Haft entlassen: „Mein Trost war, daß ich für das Recht gesessen bin, für das Recht der arbeitenden Menschen.“ Und wenig später Schaper: „Wer aus der Kirche ausgetreten ist, kämpft für die Befreiung der Menschheit!“ Falls das je so war, hat es sich in der Geschichte verloren, heute geht es eher um die gesparte Kirchensteuer, was natürlich niemand sagt, weil es nach den Regeln der eben verlassenen Kirche als niederes Motiv gelten würde.

Es gibt im Lehrerkollegium eine deutschnationale Dame mit dem schönen Namen Müller, die sich gegen den Begriff des Proletariats verwahrt: „Es gibt kein Proletariat! Das Brave liegt draußen auf dem Felde der Ehre, das Dreckige ist zurückgekehrt.“ Kurz zuvor hatte sie gefragt: „Sollen wieder die polnischen Juden hereinkommen, mit lauter Läus am Kopf in unser Vaterland?! Von den Franzosen bestochen!“ Man könnte behaupten, Lehrer seien, egal in welchem System, immer die jeweils Deutschnationalen, weil allein der Beamtenstatus, selbst wenn dieser gar nicht existiert wie im real existierenden Sozialismus, zu avancierter Staatsnähe zwingt, man würde aber den bis zu vierunddreißig Ausnahmen zu nahe treten und das kann nie der Sinn rückwärts gewandter Prophetie sein. Lehrerin Ella, das Opfer des Berufsverbotes, steht für die andere Weltsicht: „Ich glaub nicht an Gott, ich glaub nicht an den Gekreuzigten, es gibt heut eine Macht, die gegen die Religion richtig vorgeht, das ist Rußland. Es ist die größte Tat der Welt, das kühnste Experiment.“ Es ist anzunehmen, das Sätze wie diese das Fragment als Erbauungsliteratur für Priesterseminare ungeeignet erscheinen lassen. Aber, und das fällt in Tagen, da auch an einen älteren Österreicher namens Ludwig Anzengruber zu denken ist, doppelt auf, es liefert den Beleg, wie wenig die flotte Überantwortung Anzengrubers in den Orkus eines zu vergessenden Kirchenkampfes aus dem späten 19. Jahrhundert berechtigt ist.

Ödön von Horvath ist in den sechziger und siebziger Jahren wiederentdeckt worden, dem Vergessen folgte eine fast übereifrige Renaissance (nicht in der DDR freilich) und so nimmt es nicht Wunder, wenn eine Kurzzeitikone linken Bühnenschaffens, der seinerzeit Stücke am Fließband ausstoßende Schauspieler Franz Xaver Kroetz, sich zu einer Rede aufgerufen fühlte, die unter dem Titel „Horvath von heute für heute“ gedruckt wurde und einem heute die Tränen der Erschütterung in die Augen treibt. Kann tatsächlich ein Schreibender so unfähig sein, einen oder zwei Gedanken präzise zu formulieren, ohne den Tücken der doppelten Verneinung zu erliegen, ohne im zweiten Satz das Gegenteil des Vorgängers zu behaupten und ohne unsäglichen Quark zu quirlen ausgerechnet über den am ersten Juni 1938 in Paris einem Zufall zum Opfer gefallenen Horvath? Kroetz hat es geschafft, und es bleibt bis heute ein Rätsel, warum „Theater heute“ 1971 diesen Rede- und Denkunfall der Nachwelt überlieferte und die Editoren des Sammelbandes „Weitere Aussichten“ (Henschelverlag 1976) ihn kommentarlos übernahmen (und nicht einmal mit einer klärenden Quellenangabe). „Man ist zur Unglaubwürdigkeit und also Unwirksamkeit der Aussagen verurteilt, wenn der Zufall die zwingende Konstruktion ersetzt.“ Laut Kroetz, 33 Jahre nachdem der Zufall die Konstruktion Ödön von Horvath ersetzt hatte.

Bevor ich eine finale Warnung vor diesem Kroetz (nicht vor seinen Stücken) ausspreche, noch dieses Zitat, das ein Lob Horvaths sein soll: „Die Funktionalität seiner Dialoge resultiert aus der Erkenntnis, daß er seinem Gegenstand nur durch analytischen Realismus nahe kommen kann, wobei er die große Neuerung gebracht hat, auf Kunst verzichtend, Wirkung zu erzielen.“ Wohl ist bei Kroetz und anderen damals ein schwer verdaulicher Wittgenstein durch die Verdauungstrakte gerutscht, ohne auch nur teilweise absorbiert worden zu sein, wohl hat Kroetz wie andere dem Unfug vom Ende der Kunst nachgeschwafelt, was in Zeiten, da jeder Salon seinen Salonkommunisten zum Party-Häppchen lud, auch hinreichend Claqueure fand, Blödsinn aber war es damals und ist es bis heute geblieben. Denn die vermeintliche Kunstlosigkeit bei Horvath ist ja gerade seine Kunst, die er in seinen besten Stücken virtuos handhabte. Wirkung ohne Kunst erzielen kann nicht einmal ein Boxer, der immerhin die Kunst des Schlagens beherrschen muss. Aber vielleicht wollte Franz Xaver Kroetz ja eigentlich nur über Brecht herziehen und fand keine bessere Möglichkeit als diese unsinnige Rede über Horvath. Brecht bietet, so die These, der Gesellschaft mehr Möglichkeiten, ihn zu Kunst zu manipulieren. Ein auf Sprachdenunziation reduzierter Horvath, möchte man entgegnen, ist noch weit handhabbarer für alle Manipulatoren als jeder, der den Finger auf tatsächliche Systemwunden legt, man muss nur die Sprache befreien, was immer das wäre und alles könnte bleiben, wie es sonst ist. Brecht würde seine Zigarre verschlucken angesichts solchen Nichtdenkens.

Zurück zum „Fall E.“. Dort ist es ein Schulrat, der sagen darf: „Aber ich glaube, daß sich der Staat zu hart wehrt, er braucht doch nicht jemand seiner Existenz zu berauben, weil dieser jemand mal was in sein Tagebuch geschrieben hat – es steht in keinem Verhältnis.“ Haben wir Grund, uns zurückzulehnen, weil wir es seither so herrlich weit gebracht haben? Oder wäre es hilfreich, den Gedanken wenigstens probehalber zuzulassen, dass es eine nicht geringe Menge einstiger DDR-Bürger gibt, die hartnäckig meinen, eben das sei an ihrem untergegangenen Staat besser gewesen, dass wohl die Existenzform, nicht aber die Existenz auf dem Spiel stand? Dass mit gleichem oder ähnlichem Recht die Opfer des Systems sagen, genau dies wäre abgrundtief verlogen? Der mutige Journalist im Fragment rechnet mit dem Wegfall von Inserenten und Gefahr für sein Geschäft, der mutige Anwalt im Fragment rechnet mit dem Wegfall von Klienten und Gefahr für sein Geschäft, alles 1927 oder in der Nähe davon, alles Vergangenheit, alles vergessen und Lehrstück für Schüler einer besseren Zeit? “... wir haben natürlich keine Klassenjustiz, aber man könnts manchmal meinen“, sagt der Anwalt. Dies Reden war in den zwanziger Jahren nicht Agitation und Propaganda, man liest es bei Kurt Tucholsky, man liest es bei Carl von Ossietzky, guten Zeugen.

In der vermutlich früheren Fassung des ersten Bildes, da Eva noch Renate hieß und Schaper Schminke, sagt Renate: „Wir zwei bildeten eine heimliche Opposition, aber sie hatte sich noch nicht zum Haß durchgerungen, sie vertrödelte noch ihre Zeit mit ihren christlichen Schuldgefühlen.“ Und dann: „Es gibt doch nur schauerlich wenig Menschen, die sich von all ihren religiösen Wahnvorstellungen wirklich befreien können.“ Der Gedanke, dass dies nicht das Problem sein könnte, kam ihr nicht. Horvath dagegen vermutlich sehr wohl. Wer sich weigert, seine Zeit mit christlichen Schuldgefühlen zu vertrödeln, hat es nicht weit bis zum Verzicht auf nichtchristliche Schuldgefühle oder auf Schuldgefühle ohne Etiketten dieser Art. Man denkt dann in der Konsequenz eher an RAF als an DKP oder SED, wenn man denn überhaupt in die Zeit der Renaissance von Horvath schauen mag, die ja bis heute anhält, was gut ist und gut bleibt. Ella Waldt stirbt in der Irrenanstalt, wo sie künstlich ernährt werden musste, mein Nachnamensvetter durfte das Institut nicht inspizieren. Wegen der möglichen Propaganda später.


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