Marie Luise Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes

Sieben Texte sind in diesem schmalen Buch von nur 110 Seiten Stärke versammelt. Ich mag mich gar nicht erst auf die müßige Debatte einlassen, welche Arten von Texten das sind. Es gibt eine ganze Berufsgruppe, die anhand dieser oder jener Merkmale am Ende bestimmt, was es war, doch für niemanden als sie selbst ist diese schließliche Erkenntnis wichtig. Fakt ist freilich, dass zwei der sieben Texte in einer Kanon bedeuten wollenden Sammlung namens „Klassische deutsche Kurzgeschichten“ stehen, womit freilich auch nicht mehr behauptet ist. Wichtig wurde mir nur das: ich war berührt, ich war überrascht, meine fortgesetzte Neugier auf die Autorin hat Nahrung.

Wer etwas schreibt wie „Ja, mein Engel“, dessen Name soll behütet sein vor allen Angriffen, von wo immer sie kommen. Und wenn es nur die Angriffe der Interpreten sind. Es ist keineswegs nötig zu wissen, dass das einmal die beste Geschichte des Jahres 1964 war, nach Meinung der Juroren des Georg-Mackensen-Preises jedenfalls. Die Namen anderer Preisträger gestatten zumindest ein kleines Fragezeichen zum Wert der Aussage. Was im Falle von Marie Luise Kaschnitz freilich nun rein gar nichts besagen soll. Sie steht über möglichen Zweifeln. Diese Geschichte von der Frau, die erzählt, wie sie von einem Engel aus dem Leben gedrängt wird, vom Engel Eva, kommt ohne alle Anklage aus, sie fuchtelt mit keinem Zeigefinger, und, auch das ist mir wichtig, vom feministischen Weltsturz wird nicht geredet. Mit Begriffen wie Leistungsgesellschaft und Wirtschaftswunder an das Erzählte deutend heranzutreten, wie es geschah, verkleistert Substanz. Denn hinter solchem Horizont geht es auf alle Fälle nicht nur weiter, sondern zuallererst tiefer.

Marie Luise Kaschnitz macht auch Männer zu Erzählern in diesem Buch und es mag damit zusammen hängen, dass man sie bisweilen zur Frauenliteratur gruppierte. Abwehr von Missverständnissen ist eine Daueraufgabe ambitionierten Schreibens. Man merkt diesen Männern eine Prise zu deutlich an, dass ihre Schöpferin Frau ist und wenn es nur die fast antimoderne Tiefenkenntnis botanischer Dinge ist, die sie auszeichnet und schwerer vorstellbar macht. Immerhin, einer von diesen Männern soll vertraglich fixiert eine von drei Schwestern schwängern, was wie die tragikomische Variation zu Alberto Lattuadas unvergesslich groteskem „Schwestern teilen alles“ gelesen werden kann. Was für ein Einfall ist dieses Trio, das seinen Hühnern Eier aus dem Lebensmittelladen unterlegt und Äpfel mit einem Bindfaden am Baum festbindet.

Das Buch beginnt mit der titelgebenden „Beschreibung eines Dorfes“, die letztlich nicht mehr ist als der detaillierte Plan zur Beschreibung, der aber nicht mehr realisiert werden muss, weil alles schon in Worte gefasst ist, in Bilder unglaublicher Treffsicherheit, Formulierungen frappierender Prägnanz. Das ist Lesegenuss, das kann sogar in das eine oder andere Oberseminar zu gemäßigt modernem Erzählen eingebaut werden. Spannend und witzig, um das Koordinatensystem des üblichen Vernissage-Klüngels heranzuziehen, ist es eher nicht. Dafür hat es kulturhistorische Nebensubstanz für den heutigen Leser. Fliesenbäder und Linoleumfußboden waren einmal der Fortschritt. Oder, in der Engel-Geschichte, lackierte Fußnägel das Siegel höherer Verruchtheit. Das macht ja gerade alte Geschichten so aufregend: Man liest Vorplatz und begreift erst danach, dass ein Raum innerhalb eines Hauses in der Gegend so heißt, von der erzählt wird.

Ein Sohn kann am Ende einer Geschichte seine Mutter nicht mehr riechen im wahren Sinn des Wortes, obwohl sie nicht riecht, sondern duftet. Vorher aber hat er den Vater kennengelernt, den er mit den Augen und im Horizont seiner Mutter zu sehen gewohnt war. Das hat ihn verwandelt. Der Sohn zieht aus bei seiner Mutter und stellt sich auf eigene Füße. Es ist, will ich meinen, weitestgehend gleichgültig, in welcher der Erzählungen welche möglichen biographischen Hinter- oder Vordergründe der Autorin aufscheinen, nicht einmal das Rätsel aus der Dorfbeschreibung mag ich lösen, demzufolge ein Pfarrer ins KZ Dachau kam, weil er die Ehe eines SS-Mannes segnete. Als Marie Luise Kaschnitz am 10. Oktober 1974 starb, trennten mich viereinhalb Monate von meinem 22. Geburtstag. Ich erinnere mich nicht, ob mir ihr Name damals bereits geläufig war.

Ich bin mir aber sehr sicher, dass mir „Vogel Rock“ außerordentlich gefallen hätte, wenn er mir damals in die Hände gefallen wäre. Vielleicht hätte ich an Kafka gedacht, ohne dass ich mir viel darunter hätte vorstellen können. Dass mich „Vogel Rock“ heute immer noch beeindruckt, wandelt mich nicht zu Herrn Keuner, der erbleicht, weil er sich nicht verändert hat. Nur weiß ich heute, die guten alten Geschichten altern nicht, während die Geschichten der Saison im Moment schon zu vergessen sind, in dem sie als solche bezeichnet werden. Gute alte Geschichten machen auch neidisch: Nie werde ich auf einem Gemälde eine Marechal-Niel-Rose als solche erkennen, wie die Autorin es ihrem Helden in „Zu irgendeiner Zeit“ ermöglicht. Und dann ist da auch noch die puristisch „April“ genannte Geschichte eines Aprilscherzes. Viel mehr geht nicht in ein dünnes Buch, die Auswähler der Welt-Edition haben gut gegriffen.


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