Thornton Wilder: Unsere kleine Stadt

Manchmal ist der Wunsch als Vater des Gedankens ein sympathischer Bursche. Am 14. Januar 2012 sahen die Leser der Tageszeitung DIE WELT auf Seite 27 eine Überschrift „Lockruf der Wildernis“. Darunter stand in immer noch ziemlich großen Buchstaben die überlange Unterzeile „Ein schwuler, postdramatischer, global denkender Krisendramatiker: Die Zeit ist reif für ein Comeback des einst so erfolgreichen Thornton Wilder auf deutschsprachigen Bühnen“. Autor Matthias Heine nahm den Umstand, dass das Hamburger Thalia nach einer Besucherumfrage Wilders „Wir sind noch einmal davongekommen“ in den Spielplan aufnahm, nachdem just dieses Stück gerade erst in Basel neu inszeniert worden war, als Anzeichen für eine wünschenswerte, gar gebotene Wilder-Renaissance. Tatsächlich gab es nach der Hamburger Premiere am 23. Februar 2013 nichts mehr von Wilder und auch zwischen Basel und Hamburg nur noch einmal den Bühnen-Renner der Nachkriegsjahre, und zwar in St. Pölten, wo nun wahrlich nicht die Trends des deutschsprachigen Theaterlebens gesetzt werden. „Unsere kleine Stadt“ dagegen, Thornton Wilders erster Abendfüller nach den „Dreiminutenspielen“ und den Maßstäbe setzenden Einaktern: glatte Fehlanzeige.

Dabei war (und ist) Matthias Heine umstandslos zuzustimmen, wenn er seinen Beitrag so abschließt: „Aber möglicherweise ist dieser Dramatiker, der die Selbstbehauptung des Menschen gegenüber allen Krisen und angesichts der Nichtigkeit des Einzelnen gefeiert hat, genau das, was wir brauchen, um uns unsere luxuspessimistischen Köpfe wieder ein bisschen gerade zu rücken.“ (Ein überflüssiges Wort der Druckfassung ist hier von mir getilgt – E. U.) Heine war, die Unterzeile nahm alle entscheidenden Stichworte vorweg, dezidiert der Meinung, Wilder sei ein höchst gegenwärtiger Autor, der den Bühnen fehlt, wenn er nicht gespielt wird und fragte sich dann, warum deutsche Regisseure ihn dennoch meiden: „Liegt es daran, dass bei ihm schon in den Stücken all das passiert, womit sie in Inszenierungen normalerweise ihre Kreativität unter Beweis stellen?“ Und weiter: „Bei Wilders Stücken bliebe für solche Regisseure weniger zu tun. Ist er also ein Opfer seiner eigenen Modernität geworden?“ Die Überlegung hat viel für sich und doch gibt es einen viel profaneren Grund, den Heine mit Aussagen der Regisseurin Amelie Niermeyer, die die Baseler Aufführung (Premiere 27. Januar 2012) verantwortete, belegt. Sie fand in Gesprächen mit Kollegen heraus, dass die von „Wir sind noch einmal davongekommen“ noch nie gehört hatten.

1966 beendete der Theaterkritiker Heinz Beckmann (1907 – 1980), gesammelte Kritiken von ihm erschienen 1963 unter dem Titel „Nach dem Spiel“, den Abschnitt zu „Unsere kleine Stadt“ in seiner Thornton-Wilder-Monographie der Reihe „Friedrichs Dramatiker des Welttheaters“ mit diesen Sätzen: „Unsere kleine Stadt“ hat für die deutsche Theatergeschichte erhebliches Gewicht. Hier zuerst übten sich die deutschen Bühnen in einer neuen Spielweise ein, die künftig dann auch auf die Inszenierung klassischer Werke abfärben sollte. Überdies eröffnete die Begegnung mit dem Schauspiel „Unsere kleine Stadt“, das wie kaum ein anderes Stück das neue Theaterbewusstsein in Deutschland prägte, jene besondere Zuneigung zwischen dem deutschen Publikum und Thornton Wilder, die bis zum heutigen Tage angehalten hat.“ Die Zuneigung verlor sich dann offenbar doch ziemlich rasch, die neue Spielweise war aber nicht mehr und nicht weniger als die des epischen Theaters, das eben nicht nur und nicht einmal nur unter seinem Einfluss mit dem Namen von Brecht in Verbindung gebracht wird. Alles, was der brave Seminarist unter V-Effekt lernt, das hatte Thornton Wilder schon oder auch schon in seinen Einaktern und dann zuerst in „Unsere kleine Stadt“, danach in „Wir sind noch einmal davongekommen“.

Heinz Beckmann referierte, dem Auftrag der Reihe folgend, was in „Unsere kleine Stadt“ so passiert und als er damit am Ende war, fühlte er sich leicht unwohl: „Es ist eigentlich unstatthaft, auf diese Weise die drei Akte des Stückes zu erzählen, denn es hat nicht nur keinen Vorhang, keine Szenerie, keine Requisiten; es hat vor allem keine herkömmliche Fabel. Sein Inhalt ist das tägliche Leben“. Geht das? Es geht! Im ersten der drei Akte hat der Spielleiter im Stück einen ziemlich langen Monolog. Es geht um eine Bank, die in der Stadt gebaut wird und dabei um das, war an Dokumenten in den Grundstein versenkt werden soll. Der Spielleiter holt weit aus: „In Babylon lebten einmal zwei Millionen Menschen, und das einzige, was von ihnen übriggeblieben ist, sind die Namen der Könige und ein paar Verträge über Weizenlieferungen - und der Handel mit Sklaven.“ Bei Griechen und Römern war es kaum anders: „ … ich meine, wie sie wirklich gelebt haben, das müssen wir uns Stück für Stück aus den Spottgedichten und aus den Komödien zusammensuchen, die sie damals für das Theater geschrieben haben. Und darum möchte ich auch ein Exemplar dieses Stückes mit einmauern lassen, damit in tausend Jahren ein paar simple Wahrheiten über uns bekannt werden.“ Merke: Der Spielleiter spricht von dem Stück, in dem er eben spielt!

Matthias Heine hatte, nur kurz die Reminiszenz noch, sicher recht mit seiner Spitze gegen die Regisseure: die finden es brav und tapfer weiter modern, wenn sie Schauspieler in den Zuschauerraum schicken oder ins Foyer abtreten lassen. Nur neu ist es eben nicht. Schon lange nicht mehr. Simple Wahrheiten über uns, das mag freilich niemand so richtig, denn Thornton Wilder lebte noch, als die Wahrheiten sagen mit den Zeigefinger heben übersetzt wurde. Man blieb lieber blöd, als belehrt zu werden, das war der neue Zeitgeist und er pflanzte sich fort bis heute wie die Kaninchen in den Grünanlagen am Hamburger Bismarck-Monument. Als die deutsche Zuneigung zu Thornton Wilder noch ungebrochen war, 1957 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und Carl Jacob Burckhardt sprach die Laudatio, da sprachen alle, die von Wilder sprachen, davon, er habe dem Alltäglichen Würde geben wollen. Man sollte kurz innehalten: die Würde des Alltäglichen … mit dem Satz von der Würde des Menschen hebt unser Grundgesetz an, das längst Verfassung hätte sein sollen, wenn es nicht bös profane, um nicht zu sagen: alltägliche Gründe gäbe für deutsche Politik, genau davon die Finger zu lassen. Das aber wäre ein anderes Thema.

In „Unsere kleine Stadt“ geschieht, man outet sich schon, wenn man es benennt, nichts oder eigentlich nichts oder nur nichts, was von Bedeutung ist. Nichts davon stimmt, denn Thornton Wilder führt mit einem genialen Kunstgriff vor, wie falsch diese Sichtweise ist, man könnte auch sagen, wie arrogant. Im dritten Akt, in dem Emily beerdigt wird, die bei der Geburt ihres zweiten Kindes starb und einen vierjährigen Sohn zurücklässt, sitzen die Toten des Friedhofs auf Stühlen, sie können reden und sehen, was geschieht. Auch Emily geht es so und sie fragt den Spielleiter, der hier fast Gott ist, ob sie noch einmal unter die Lebenden könne. Sie darf und sie erlebt noch einmal ihren zwölften Geburtstag. Doch nicht maßlose Trauer oder Vergleichbares darüber befällt sie, was sie alles für immer nun nicht mehr hat. Nein, sie hat es auf einmal eilig, wieder zu den Toten zu kommen. „Ich stellte es mir nicht so vor. Dies alles geschah, und wir bemerkten es nicht.“ Emily erblickt als Tote im Anblick ihrer jungen Eltern, als sie zwölf war, nicht mehr und nicht weniger als eben dies: Würde des Alltags. Und fragt: „Begreifen die Menschen jemals das Leben, während sie’s leben – jeden, jeden Augenblick?“ Der Spielleiter antwortet: „Nein. … Die Heiligen und die Dichter vielleicht – bis zu einem gewissen Grade.“ Genau deshalb soll der Stücktext in den Grundstein der Bank.

Die drei Akte von „Unsere kleine Stadt“ spielen 1901, 1904 und 1913. Der Spielleiter, den es bei Thornton Wilder auch schon in den Einaktern gab, „Schlafwagen Pegasus“ gilt geradezu als unmittelbarer Vorläufer und auch als Gegenstück, agiert souverän auf der Bühne, die mehr als ein paar Stühle nicht braucht. Er ruft die Darsteller auf, unterbricht sie, inszeniert von der Rampe herab ein Gespräch mit dem Publikum, dessen Rollen wiederum bereits im Personenverzeichnis und im Text festgehalten sind. Ein Professor, der sonst keine Rolle spielt und der Chef des lokalen Zeitungsblattes geben Auskunft über die kleine Stadt. Es gibt eine Liebesgeschichte, die allenfalls dann dramatisch genannt werden darf, wenn kurz aufblitzt, was eine amerikanische Kleinstadt eben auch auszeichnet: die Selbstverständlichkeit sehr früher Ehen, dass Mädchen ohne jede Aufklärung in die Ehe geschickt werden, beide, George und Emily, lieben sich wohl, mögen aber zugleich im Innersten noch nicht heiraten. Es gibt einen ewig betrunkenen Kirchenorganisten, der sich das Leben nimmt, weil er nicht in die Kleinstadt passt, wie es im Text lapidar heißt. Er unterscheidet sich nicht nur von allen anderen Personen dieses Stückes, er ist auch im dramatischen Gesamtwerk Wilders ein Unikat. Ihm gelang die Einordnung nicht in diesen Alltag. Ist festgestellt worden.

Thornton Wilder hatte Humor, einen menschenfreundlichen Humor. Seinen Spielleiter lässt er konstatieren, dass man neuerdings nach rechts und links schauen muss, wenn man die Hauptstraße überqueren will, wegen der Autos, die damals, vor dem ersten Weltkrieg, alle ein Ford waren. Früher dagegen lag ein Hund den ganzen Tag mitten auf eben dieser Hauptstraße, ohne einmal den Kopf heben zu müssen. Andere Leute nennen so etwas Fortschritt. Alltag ist die Wiederkehr des Gleichen und fährt aufgrund eben dieses Wesenskerns allen Freunden des Entwicklungsgedankens in die Kehle. Als schlösse das eine das andere aus. Als aber Anfang 1946 am Deutschen Theater in der Regie von Bruno Hübner die erste frühe deutschsprachige Nachkriegsaufführung Premiere hatte, saßen diese Kehlen in den Hälsen der sowjetischen Militäradministration, das Stück durfte nach dem zweiten Male nicht mehr gespielt werden. Die Folgen für dieses und die anderen Bühnenwerke Thornton Wilders überraschen nicht. Es soll nicht verschwiegen werden, dass der sonst durchaus achtbare Theaterkritiker Paul Rilla just diese Hübner-Premiere zum Anlass nahm, das Stück zu zerfetzen mit haarsträubenden Argumenten: „Wenn sich der Kommentar des Regisseurs immer wieder einschaltet, so ist das die Ausflucht einer Plaudergabe (des Autors)“.

Falls es jemanden tröstet, es gab auch 1946 schon Theaterkritiker, denen die Zusammenhänge fehlten und dennoch urteilten. Rilla fragte: „Ist diese stilistische Verspieltheit neueren oder älteren Datums? Wurde sie in Amerika als künstlerischer Versuch oder als unverbindliche Improvisation empfunden? Ist der Autor hier stehengeblieben oder weitergekommen?“ Aus solchen Quellen speiste sich die frühe Feindseligkeit gegen den aus dem Exil heimkehrenden Brecht, der bekanntlich alles andere als kam, sah und siegte. Nur im Westen war man noch blöder: Man ignorierte und boykottierte ihn als vermeintlichen kommunistischen Staatsdichter. Thornton Wilder half, siehe Heinz Beckmann, eine Spielweise durchsetzen. Statt Kommunist war er allerdings Christ. Sein christliches Weltbild ist derart, dass es nicht wenigen Christen Schamröte ins Gesicht treiben müsste, über sich wohlgemerkt, nicht über ihn. „Die Größten aller Zeiten haben uns das seit fünftausend Jahren erzählt, und doch vergessen es die Leute immer wieder. Etwas gibt es da tief im Innern eines jeden Menschen, was unsterblich ist.“ Sagt der Spielleiter im dritten Akt, da sicher Stimme des Autors. Da ist nicht von der Seele die Rede, sondern von der Würde, deren Unantastbarkeit nur in eben dieser Sichtweise keine reine Leerformel ist.

Ein Satz der Frau Webb, Mutter von Emily, Gattin des Zeitungsredakteurs und -besitzers, hat mir besonders viel Spaß bereitet: „Was mich anbelangt, so habe ich lieber gesunde Kinder als gescheite.“ Wenn gesagt wurde, dass „Unsere kleine Stadt“ das amerikanischste Stück Wilders sei, dann verstehe ich das an dieser Stelle mehr als an jeder anderen. Dazu passt dann auch, was Julius Bab in seinem Buch „Amerikas Dichter“ zum Dreiakter meinte: „Die Form ist offenbar Protest gegen das filmgenährte Illusionswesen des Theaters“. Viele der erfolgreichsten amerikanischen Bühnenstücke spätestens seit den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts schielten sichtbar nach der möglichen Verfilmung und die dann folgenden Verfilmungen prägten rückwirkend das Publikum auch im Theater so tief, dass bis heute selbst Kritiker bestenfalls widerwillig an die Darsteller der Filme denken, wenn sie das Spiel auf der Bühne verfolgen. Im ersten Akt fragt eine Dame in der Loge nach der Kultur in der kleinen Stadt und Mister Webb antwortet: „Den „Robinson Crusoe“ und die Bibel und das „Largo“ von Händel, das kennen wir alle, und Whistlers „Mutter“ – aber weiter gehen wir nicht.“ Die Rede ist von James Abbott McNeill Whistler, das Bild aus dem Jahr 1871 zeigt seine Mutter Anna im Alter von 67 Jahren im Halbprofil. Es hängt im Pariser Musée d’Orsay.

Mrs. Gibbs, die Gattin des Arztes und Mutter von George, der Emily heiratet, hat einen ganz großen Wunsch: „Aber ich finde, man sollte einmal im Leben, bevor man stirbt, ein Land kennenlernen, in dem die Leute nicht englisch sprechen – und es nicht einmal wollen.“ Das hat Thornton Wilder ganz sicher tief aus dem Herzen all seinen Landsleuten gewünscht. „Welten und Epochen trennen ihn von den heutigen US-Hipstern in Berlin, die nach zehn Jahren in Deutschland immer noch empört sind, wenn sie bei der Frau am Pankower Postschalter keine Beratung auf Englisch erhalten.“ Schrieb Matthias Heine im eingangs bereits zitierten Artikel. Und auch das: „In Amerika hat Wilder keine Rückkehr nötig – er war nie weg.“ Am Broad Stage in Santa Monica und später am Barrow Street Theatre in New York gab die unvergleichliche (tut mir leid, bescheidener kann ich nicht) Helen Hunt den Stage Manager, den Spielleiter. Es gibt inzwischen sogar neue Wilder-Übertragungen, die den alten Hans Sahl nicht überflüssig machen, aber eben moderner daher kommen, heutiger. Wenn der letzte Dostojewski-Roman auf der Bühne war, sucht ja vielleicht doch noch einer vom Theater nach einem Überraschungsei: hier wäre ein Dramatiker, der Stücke schrieb.


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