Jack London: Die Liebe zum Leben

Es mutet wie abgesprochen an, wenn sich in der Literatur über Jack London immer wieder fast identische Formulierungen finden, dahin gehend, dass er von seinem Klondike-Abenteuer in Alaska ohne eine Unze, ein Gramm, ein Stäubchen Gold zurück nach Kalifornien kam, nur mit einer Skorbut-Erkrankung und dem ganz anderen, dem letztlich wertvolleren Gold seiner reichen Erfahrungen. Von denen er bis zu seinem frühen Tod 1916 zehrte, auf die er als Erzähler in immer neuen Anläufen, mit immer neuen kürzeren und längeren Geschichten zurückgriff, am umfänglichsten und weltweit erfolgreichsten bei seinen Lesern mit den beiden Romanen „Smoke Bellew“ und „Smoke and Shorty“, die von ihren jeweiligen Übersetzern unterschiedliche deutsche Titel bekamen, bei Erwin Magnus „Alaska Kid“ und „Kid und Co.“, bei Irmhild Brandstädter einfach für beide zusammen „Alaskagold“, um nur diese beiden zu nennen. Die größte Heldentat seines Alaska-Trips vollbrachte der 21 Jahre alte Jack London sicher mit der Überwindung des berühmt-berüchtigten Chilkoot-Passes, den ein geschäftstüchtiger Kanadier mit 1500 Stufen im Eis überwindbar gemacht hatte, er kassierte einen Dollar pro Kletterer, die schwere Lasten schleppten.

Was bei Erzählungen darüber bisweilen unterschlagen wird: die so genannten Digger waren verpflichtet, eine Tonne Nahrung und Ausrüstung mit sich zu führen, die dann eben nur über diese 1500 Stufen zu bugsieren waren. Jack London hat eigenem Bekunden nach die Tour mehrfach an einem Tag mit je 150 Pfund beladen genommen, er war in körperlich bester Verfassung und unendlich stolz darauf, dass es so war. Bis Dawson kam er, doch ganz so unverzüglich, wie es in den verschiedenen DDR-Nachworten zu London-Büchern von Karl-Heinz Wirzberger immer behauptet wurde, musste er dann doch nicht umkehren. Wenigstens die Claim-Berechtigung für eine Fläche von „500 Fuß im Geviert“ erwarb er, sie ist erhalten und dokumentiert. Bei Michael Krausnick liest sich die Variation zum Thema so: „Jack London hat sein eigenes Gold gesiebt, einen literarischen Claim abgesteckt.“ Bei Rolf Italiaander lese ich: „Jack London lässt mittels seiner Gestalten den Leser stets seine Körperkraft und Stärke spüren, seine Leiden mitempfinden und in ihren schwelgen.“ Da sind wir bereits mittendrin in dem kleinen Büchlein „Die Liebe zum Leben“ und es soll vorab gesagt sein, dass das mit dem Schwelgen sehr genau gesehen ist.

Genau drei Geschichten hat der Reclam-Verlag in seinem Bändchen vereinigt, man kann selbstverständlich alle drei auch in anderen Erzählbänden Londons finden, ich finde sie hier. Und beginne nicht mit der Titelgeschichte. Ich beginne mit der Story, die hier „Unter dem Sonnenzelt“ heißt, in der Übertragung von Ronald M. Hahn trägt sie den Titel „Unter dem Sonnensegel“. Es ist eine Story, die einem immer noch und immer wieder den Atem verschlägt. In ihr verleitet eine gedanken- und instinktlose, eine oberflächliche und eitle junge Frau einen eingeborenen Knaben dazu, nach einer wertvollen Münze zu tauchen, obwohl alle anderen kindlichen Taucher es verweigern, weil sie die gefährlichen Haie sehen, die die Schiffspassagiere und Zeugen des Ablaufs auch wahrnehmen. Der Junge springt und wird vor den Augen aller von einem Hai zerbissen, buchstäblich in zwei Teile. London lässt seine Geschichte mit einer Frage beginnen: „Darf ein Mann – ein Gentleman, meine ich – eine Frau eine Bestie nennen?“ Bei Hahn: „Kann man als Mann – ich meine als Gentleman – eine Frau als Schwein bezeichnen?“ Die Geschichte endet damit, dass genau der die Frage mit einem überzeugten Ja beantwortet, der sich erst dagegen verwahrte.

Unfreiwillig komisch wirkt die Deutung des Nachwort-Autors A. M. Uhlmann dazu: „Fräulein Caruthers gehört zur Bourgeoisie der USA. Deren skrupellose Moral drückt sich in der nichtswürdigen Laune der jungen Amerikanerin aus ...“. Dass alle anderen, buchstäblich alle anderen Zeugen an Bord, diese Tat verurteilen, die Frau Bestie oder Schwein nennen, dass selbst ihr Verehrer sie einfach stehen lässt und kein einziger von diesen Verurteilern dem Proletariat angehört oder als Mitglied der sozialistischen Partei erkennbar wird, der der Autor bis kurz vor seinem Tode selbst angehörte, hat der antiimperialistische Interpret glatt übersehen. „Und es wird gut sein“, schrieb ein anderer Nachwort-Autor, nämlich Karl-Heinz Wirzberger, „sich bei einer Beurteilung Jack Londons daran zu erinnern, dass er der erste war, von dem man schon vor einem halben Jahrhundert sagen konnte: Wenn Arbeiter überhaupt lasen, dann lasen sie Jack London.“ Das ist vielleicht nicht einmal so falsch, nur steht es genau deshalb am Ende des Nachworts zu „Lockendes Gold“ (Burning Daylight), weil es wieder einmal die unausrottbar dumme Mär vom untrüglichen Klasseninstinkt des Arbeiters behaupten soll, die man nicht nur in der DDR so sehr liebte.

Für Freunde der These von Jack Londons Homoerotik liefert die schwelgerische Beschreibung der Schönheit des springenden Knaben Argumente, auch Freunde der These von Londons latentem Rassismus finden Stoff, denn den wunderbaren Kopfsprung kann der Knabe natürlich nur von einem Weißen gelernt haben. Der Leser des Reclam-Büchleins darf anfechtungsfrei zu „Der Richter am Yukon“ übergehen, das beschließt den Band und gibt einen Einblick in die überaus seltsame Rechtspraxis einer reinen kleinen Männergesellschaft ohne alle Sanktionsmöglichkeiten, die in zivilisierten Weltgegenden zur Verfügung stehen. Zur Wahl stehen hier die Vergebung, das Todesurteil und das Todesurteil. Genauer: die Verurteilung zum schnellen oder zum etwas langsameren Hungertod. Die Delinquenten, die der titelgebende Richter verurteilt, werden allein und ohne Nahrung oder allein und mit einer bestimmten knappen Menge Nahrung in einem Boot ausgesetzt. Sie werden so einem Kampf ums Dasein übergeben mit nur geringen oder gar keinen Siegeschancen. Die Pointe der London-Geschichte ist die, das der betrunkene Richter von seinen Saufkumpanen aus Spaß in die Situation der von ihm Verurteilten gebracht wird.

Die Geschichte ist humorvoll, denn der Verurteilte, von dem zunächst berichtet wird, Arizona Jack, hat einen Mann getötet mit einer abenteuerlichen Begründung: „Und ich sage euch, es gibt Musikkenner, die so feine Ohren haben und so empfindlich sind, das sie einen Mann für weniger totschlagen würden, als ich es tat.“ Das Mordopfer sang schlecht! Der Richter aber findet plötzlich Gold und das scheint eine so ergiebige Fundstelle zu sein, dass sie sofort Begehrlichkeiten weckt. Der lockige Jim würde des Richters Claim gern kaufen und als der nicht will, versucht er ihn so betrunken zu machen, dass er den vorbereiteten Vertrag unterschreibt. Doch auch das misslingt. Im Wissen, dass Jack London ein hoffnungsloser Alkoholiker war, liest sich die Erzählung von der Whisky-Orgie mit Richter noch ganz anders. Hier schreibt einer aus tiefster eigener Erfahrung. Wie London das besoffene Gerede wiedergibt, das ist nicht nur einfach gekonnt. Die Geschichte, wie der Richter überlebt, ist köstlich-komisch. In der Ansiedlung Red Cow, aus der er verschwand, hört man nie wieder etwas von ihm. Er plündert Vogelnester und isst die rohen Eier, er isst auch Robbenfleisch und geht im Süden unter die Temperenzler, predigt gegen König Alkohol.

Wer, wie es sich gehört, die Titelstory zuerst gelesen hat und deshalb die ungleich detailliertere Geschichte eines Überlebenskampfes kennt, die dort erzählt wird, fragt sich bei dem Richter natürlich unwillkürlich, wie er an das Robbenfleisch kam, denn anders als die Eier liegen ja selbst die dümmsten Robben nicht unbeweglich in einem Nest und warten darauf, roh verspeist zu werden. Jack London lässt seine Leser in „Die Liebe zum Leben“ vierzig Druckseiten lang einem namenlosen Mann folgen, der mit einem Kameraden allein unterwegs ist, um die Goldausbeute, die beide in offenbar ansehnlicher Menge ihr eigen nennen, in Sicherheit zu bringen. Der Freund, der voraus geht, lässt ihn im Stich, als er sich verletzt, er dreht sich nicht einmal um, hört auf keinen Ruf. Was folgt, ist die genaue Schilderung eines unmenschlich harten, eines übermenschlichen Kampfes gegen den Hungertod in der Kälte. Erst ganz am Ende wechselt London die Perspektive und geht wie in einem filmischen Schwenk zu einem Schiff über, von dem aus die allerletzte Phase des Ringens zu sehen ist. Wer irgendein Urmeter spannenden Erzählens sucht, hier hat er es, hier ist so erzählt, dass man gar nicht anders kann, als jede Distanz zu verlieren, nur noch atemlos liest.

Der Mann hat ein Gewehr, aber keine Patronen, sein Schatz sind 67 Streichhölzer, die er mit Bedacht in drei verschiedenen Verpackungen mit sich führt und trocken hält. Lange schleppt er auch sein Gold mit sich, schwer wie sein restliches Gepäck zusammen, dann versteckt er einen Teil, der Rest geht später ganz verloren und das seines untreuen Partners lässt er liegen, als er es findet zusammen mit den abgenagten Knochen Bills. Er ernährt sich von heißem Wasser, von Moosbeeren und fängt später ab und zu eine Elritze aus einer Pfütze. Der Mann vertreibt einen Bären, den ihm folgenden kranken Wolf wird er nicht los. „Es schien ihm ganz irrsinnig, sterben zu wollen, nachdem er so viel ausgehalten hatte.“ Das ist, so verrückt es klingt, eine Logik, die sich ein so wenig abenteuerlicher Mann wie Goethe auch zu eigen gemacht hatte und daraus sogar eine Theorie von seinem eigenen Leben nach dem Tod entwickelte. Jack London wird davon mit Sicherheit nie gehört haben. Wie es ist, 2500 Kilometer auf einem Fluss zurückzulegen, um ans Bering-Meer zu kommen, das freilich wusste er. Und er lässt seinen Helden überleben. Dann auf dem Schiff Zwieback hamstern, am Körper, in der Koje und überall verstecken, wo immer es geht.

Einmal steht da im Text: „Jetzt wurde er von der Kühnheit der Angst beseelt. Auch er knurrte wild, schreckenerregend.“ Einmal: „Als Einzelwesen kämpfte er überhaupt nicht mehr. Es war das Leben selbst in ihm, das ihn vorwärtstrieb.“ Und: „Seele und Körper krochen weiter Seite an Seite, aber doch jede für sich, so dünn war der Faden, der beide miteinander verband.“ Und: „In Wirklichkeit hatte ihn die Fähigkeit, sich zu erregen und sich rühren zu lassen, längst verlassen.“ Natürlich ist es leicht, hier Charles Darwin aufzurufen, den Sozial-Darwinismus zu diagnostizieren, dem Jack London so oder so natürlich anhing, sein eigenes Leben bestätigte ihm ja die Theorie, die er als Theorie vermutlich viel weniger rezipiert hatte, als immer unterstellt wird. Er war nie Theoretiker, auch wenn er Essays schrieb und Reden hielt, die vermeintlich Theorie vorführten. Umgekehrt: Wenn wir ganz arglos das Wort übermenschlich benutzen, merken wir gar nicht, dass darin ja just dieser Übermensch steckt, von dem wir wissen, dass wir ihn gefälligst abzulehnen haben. „Die Liebe zum Leben“, das verrät Jack London mit seiner Story, sitzt viel tiefer, als jede beliebige Theorie sitzen kann. Sein Tod 1916 verrät, dass sie allerdings auch dort ganz unten sterben kann.


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