Heinrich Lautensack: Hahnenkampf

Man kennt beide: den Gickerich, den Gackerich. Wilhelm Busch lässt sie an einem Topf mit Brühe aufeinandertreffen. Unsterblich sind die Verse, unsterblich sind die Bilder und es hieß noch nicht einmal Cartoon damals. „Und keiner hält sich für besiegt, / Obschon der Topf am Boden liegt.“ Ein keineswegs kreuzgefährlich aussehender Hund mit dem durchaus vertrauenerweckenden Namen Schnauzl beendet das Gefecht der Hähne, die je eine schöne Schwanzfeder verloren und außerdem von der auslaufenden Brühe heftig klebrig wurden: „Sieh da, die Hähne gehn nach Haus / Und sehen ganz erbärmlich aus.“ Der Hund hat den Vorteil einer ordentlichen Zunge: „Der Schnauzl frisst den Rest der Brüh, / Den Schaden hat das Federvieh.“ Nach menschlichem Ermessen ist anzunehmen, das Heinrich Lautensack (15. Juli 1881 in Vilshofen – 10. Januar 1919 in Eberswalde bei Berlin) den Wilhelm Busch kannte. Ob ihm in dessen Todesjahr 1908 die Tradition der Hahnenkämpfe in vielen Kulturen vertraut war, heute aus Tierschutzgründen fast überall verboten, ist letztlich ohne Belang: die Kämpfer, die er in seinen „Hahnenkampf“ schickte, stehen zwar auch auf zwei Beinen, es mangelt ihnen an Federn und Kämmen, nicht aber an bürgerlichen Berufen.

Sie sind Lehrer und Kommandant, Feuerwehrhauptmann und Gendarm, Apotheker und Braumeister. Sie sind das alles in einem Marktflecken namens Hauzenberg, den gibt es wirklich nahe Passau, er hat heute mehr als 12.000 Einwohner und sage und schreibe 97 Ortsteile. Zur Zeit des Geschehens waren es deutlich weniger. Eine Brauerei hat es dort auch, sie heißt Apostelbräu. Aber 1895, da ereignet sich der „Hahnenkampf“, gab es auch etwas, was es heute nicht mehr gibt: die alljährliche Sedanfeier. Fünf der sechs Szenen der Komödie spielen am Vortag und Tag der letzten offiziellen Sedanfeier. Mit Blick auf eine möglich vorsichtige Aussöhnung mit Frankreich will man den Tag nach mehr feiern, an dem 1870 Kaiser Napoleon III. in deutsche Gefangenschaft geriet: bei Sedan eben. Das ist dann aber auch schon alles an realgeschichtlichem Hintergrund, man könnte allenfalls noch dies und das erklären und es ist auch schon dies und das erklärt worden. Denn die Komödie stammt aus dem Jahr 1908, da erschien sie erstmals gedruckt und sie erlebte ihre Uraufführung im Theater in der Josefstadt in Wien am 29. September 1911. Ehe sie in Deutschland endlich auch gespielt wurde, dauerte es Jahre: am 8. Juni 1920 war das, heute vor 100 Jahren.

„Hahnenkampf“ war das einzige der Bühnenwerke von Heinrich Lautensack, das zu seinen Lebzeiten gespielt wurde. Den einzigen wirklich großen Erfolg, den er erzielte, erlebte er nicht mehr: seine „Pfarrhauskomödie“ wurde allein in Berlin nach der Premiere zweihundertmal gespielt, dann an weiteren hundert Bühnen, eine exakte Zahl kenne ich nicht. Am 10. Januar 2019 trug ich ihn mein Tagebuch nur dies ein: „Heinrich Lautensack, der merkwürdige Dichter aus Vilshofen, ist am bekanntesten geblieben mit seinem körperlichen Zusammenbruch bei der Beerdigung von Frank Wedekind, die zu filmen er gekommen war. Am 10. Januar 1919 starb Lautensack in der Heilanstalt Eberswalde. Paralyse ist der Begriff, mit dem sein Sterben in Verbindung gebracht wird. Der zugleich auch den anderen in den Hintergrund treten lässt, der die Ursachen der Paralyse bezeichnet: Syphilis. Lautensack lesen heißt begreifen lernen, wie weit hundert kurze Jahre eine ganze Zeit entfernen können.“ Eigentlich wollte ich damals über „Medusa“ schreiben, sein erstes Stück, alles war vorbereitet: mein Text kam einfach nicht rechtzeitig zustande. „Hahnenkampf“ ist nun ein deutlich dankbarerer Gegenstand. Deutschsprachige Komödien sind selten und selten gut.

Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt Meere, Berge, Eisenbahnwaggons voll deutschsprachiger Komödien, nur sind sie in großer, großer Zahl flach wie einlagiges Klopapier, ihnen würden nicht einmal eingespielte Lachkonserven aufhelfen, wie sie aus dem Fernsehen bekannt sind und dem ahnungslosen Zuschauer den Glauben nahe bringen, es gäbe Weltgegenden, in denen Menschen nur Gags sprechen, Knaller-Satz nach Knaller-Satz. „Hahnenkampf“ von Heinrich Lautensack ist gut genug, nicht ganz vergessen zu werden, aber keineswegs gut genug, geschriebene Geschichte des Komischen auf deutschen Bühnen (und für sie) einer ganz neuen Sicht zu unterziehen. Es gibt eine zeitgenössische Kritik von Alfred Polgar, die von Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl aus mir nicht bekannten Gründen nicht in ihre wunderbare sechsbändige Polgar-Ausgabe aufgenommen wurde. Wilhelm Lukas Kristl zitiert aus ihr in seinem Vorwort zur bis heute einzigen Lautensack-Ausgabe „Das verstörte Fest“, die den Anspruch entwickelt, „Gesammelte Werke“ zu bieten (1966 bei Carl Hanser in München). Hans J. Schütz zitiert diesen Polgar nach Kristl auch, nur etwas knapper, und bringt das Kunststück fertig, seinem eigenen Vorspann im Buch zu widersprechen.

Dort schreibt er zuerst: „Keines seiner Dramen wurde zu seinen Lebzeiten aufgeführt.“ Zwei Seiten weiter dann, nun richtig: „Zu Lebzeiten des Autors wurde nur ein einziges seiner Stücke aufgeführt: 1911 in Wien die Komödie „Hahnenkampf“.“ Bei einem Verlag wie C. H. Beck München hätte das jemandem auffallen müssen, aber ein Drama ist es natürlich nicht. Polgar schrieb: „Hier fehlt eines, die Drehbühne. Wenn dieser Akt mit seinen fünf Verwandlungen nicht in einem gespenstischen tempo furioso gespielt werden kann, geht sein Bestes verloren: das krasse Nebeneinander von Leidenschaft und Verhöhnung der Leidenschaft, der Fratzenreigen, das spukhaft-groteske, ratternde Karussell von Gier und Angst, Gewalt und Diplomatie, Hass, Humor und Bestialität. Es ist ein Kleinkampf menschlicher Gemeinheiten, zu dem kurioserweise die Sedanfeier den schattenhaften Hintergrund abgibt, und der Kampf geht um eine freigebige und gutwillige Dorfschöne, die kurioserweise Innocentia heißt. Festzustellen, dass dieser wilde und bösartige Schwank in seiner hellen Flecktechnik, in seiner schamlosen Knappheit und seiner höhnisch-gleichen Distanz zu Großem und Kleinem, zum Feuerwehrhauptmann und zur Sedan-Erinnerung, zu Dorfpolitik und Liebe und Tod und den kleinen Schlichen der Geilheit, einen durchaus genialischen Zug hat.“

Durchaus genialisch, daran lässt sich anknüpfen, denn Polgar verstand nicht nur sehr viel von Theater, sondern hatte auch die schon etwas mehr als genialische Fähigkeit, in Sätze zu bringen, was er zu sagen hatte. Nicht selten ist, was er schrieb, so dicht, verdichtet, dass man nicht zitieren kann, wenn man nicht halbe Seiten zusammenhängend zitiert. Wer es gewöhnt ist, gute Passagen zu unterstreichen, verbraucht bei Polgar mehr Bleistift oder Textmarker als bei anderen, als bei sehr vielen anderen. Also, genannte Innocentia wird umschwärmt von einem Männerkreis, den man durchaus Honoratiorenkreis nennen könnte. Die Herren flirten, schenken, genießen und wie weit es jeder von ihnen jeweils bringt, behält die Komödie für sich. Immerhin erfährt der Leser oder im Fall der Fälle auch der Theaterbesucher, dass ihr eine Vergangenheit nachgesagt wird, die vielleicht in einem Bordell gelegen haben könnte, aber auch in einem Krankenhaus als Schwester, was nun ein durchaus nennenswerter Unterschied gewesen wäre. Sie auf alle Fälle genießt es, angebetet zu werden, sie favorisiert zunächst zwei der sechs Herren: den Apotheker und den neuen Gendarmen. Der hat allerdings eine Eigenschaft, die ihn sonst unbeliebt macht: er nimmt sein Amt überaus ernst.

„Zur Zeitgeschichte: In der zornigen Abrechnung des Apothekers mit dem Gendarmen bricht die Gendarmen-Feindlichkeit der Landbevölkerung jener Tage durch, ebenso der im Bayern der Jahrhundertwende durch das enge Bündnis zwischen katholischer Geistlichkeit und regierender Zentrumspartei genährte Antiklerikalismus.“ So formuliert es Wilhelm Lukas Kristl in seinen Anmerkungen und macht damit auch deutlich, woran die Zensur Anstoß genommen haben könnte in Bayern und Deutschland. Lautensack lässt den Apotheker zum Gendarmen sagen: „Pfaffen und ihr, Blüten des Bayernlands. Die einen falsch, die andern dumm. … In euern Händen kann der friedlichste Paragraph zum schlechtesten werden.“ Auch die ganze Gegend kommt bei diesem Apotheker nicht besonders gut weg: „Die von der Stadt sagen nicht umsonst, gleich hinter uns wär die Welt mit Brettern vernagelt.“ In dieser Welt schaut man halt großzügig über Wilderei hinweg und wenn doch ein jungen Forstmann kommt, der einen Wilderer über den Haufen schießt, wird im Gegenzug der Forstmann über den Haufen geschossen. In der fünften der sechs Szenen wird auch der Gendarm über den Haufen geschossen, nachdem er den Apotheker im Quasi-Duell nicht traf.

Die sechste Szene, in den Regiehinweisen als später angegeben, Jahre später, setzt dem absurden Ende des Gendarmen ein Krönchen auf. Denn in rascher Absprache haben sich der Mordschütze und der Kommandant der Polizeistation darauf geeinigt, die Tat als Selbstmord hinzustellen, ein Zettelchen von Innocentia liefert das offenbar ausreichende Indiz. Man nahm damals noch keine Schmauchspuren und untersuchte die Waffen nicht, um den Hergang eines unnatürlichen Todes zu klären, wie wir es alle aus zweitausend Krimis kennen. Selbstmörder werden auf katholischen Friedhöfen traditionell entweder gar nicht oder aber in einem abgelegenen Ecklein vergraben, ohne Segen von oben. Dieser Gendarm, der in der sechsten Szene überhaupt erst seinen Namen bekommt: Josef Meir, bekommt ein „Marterl“, das ist eine Tafel mit Bild und Inschrift an einem Pfeiler aus Holz oder Stein, aufgestellt an der Stelle eines Unglücks. Dergleichen war in der Zeit der Aufklärung verboten, das späte 19. Jahrhundert führte es wieder ein: vor allem an Orten, wo sich Verkehrsunfälle ereignet hatten. Ein Freund, heißt es, lässt es Jahr für Jahr frisch renovieren.

Für Innocentia geht das Leben weiter, wenngleich vor dem Gendarmen auch noch der alte Zirngibl starb. Im gedruckten Stück wahrscheinlich auf ihrem Sofa, in einer anderen Fassung die Kristl zitiert, bei sich zu Hause aus Angst vor dem Skandal, den der Josef Meir verursachen würde mit seinen Anzeigen. Es gibt auch noch nette Marktszenen im Stück mit einem Händler Jakob, der ein Porträt von Lautensacks Vater sein soll. Er steht mit dem Rücken zum Publikum, ist ausdrücklich vermerkt in den Szenenanweisungen: ein bewusster Verstoß gegen ungeschriebene Bühnengesetze. Man beschimpft sich als „Jud“, das war offenbar Alltag, und man handelte auch zu Zeiten, da das Handeln nicht erlaubt war, was eben den korrekten Gendarmen auf den Plan rief. Der, auch das packt Heinrich Lautensack in seine Komödie mit hinein, kaum, dass ihn Innocentia endgültig abgewiesen hat, sie zu vergewaltigen versucht: „Man sieht ein Stück von einem roten Unterrock. Etwas von einer grauen Flanellhose.“ Das wäre natürlich auf keiner der prüden Bühnen der beiden Kaiserreiche zu spielen gewesen, aber man ahnt, was 1895 und 1908 ein Bühnenskandal hätte werden können. Zumal man weiß, wie wichtig Lautensack, dem Katholiken, alles Sexuelle war.

Hans Carossa berichtet in seinem Buch „Führung und Geleit. Ein Lebensgedenkbuch“ von einem speziellen Ehrgeiz Lautensacks, den er regelmäßig in Passau traf, wenn der seine Eltern besuchte. „Bald aber entdeckte er in sich dramatische Anlagen und erhob Wedekind zu seinem Gott. Rührend und erheiternd war die Art, wie er diesen bewunderte; nur fand er seine erotischen Szenen viel zu zahm und machte sichs zu seiner Hauptaufgabe, den Meister wenigstens in diesem Punkt zu übertreffen.“ Geschafft hat er das eher in der Lyrik als in der Dramatik. Franz Blei nahm Lautensack sogar in sein „Bestiarium der Modernen Literatur“ auf: „LAUTENSACK. Diesen Namen gab man einem in der Zeit verspäteten altbayerischen Landstreicher, der nie die Knoten des Sackes zu lösen vermochte, der seine Laute enthielt. So spielte er darauf durch den Sack durch, was sonderbar klang und dem vortrefflichen Spieler einen wildwütigen barocken Humor gab. Einmal wäre es ihm fast schon gelungen, den fatalen Knoten zu lösen, da fiel er von einem zufälligen Streich, oder Gott schlug ihn, denn dieser Lautensack sollte, guter Katholik, der er war, nur gedämpft spielen.“ Franz Blei enthüllte auch das Betriebsgeheimnis von Lautensacks Sterben.

„Dieser Mensch, der die längste Zeit seines kurzen Lebens aus Hässlichkeit und Armut, Neigung und Delikatesse der Empfindung ein Onanist gewesen war, verirrte sich dann einmal in ein Frauenbett und starb an der Lues, die im Wettlauf mit dem Hunger gewann.“ So Blei, der, eigenem Bekenntnis zufolge, immer ein schlechtes Gewissen gegenüber Lautensack hatte und deshalb auch Gedichte in der „Insel“ druckte, die nicht so gut waren wie andere, die er nicht druckte: „Wie ein Legitimationspapier trug er das Inselheft bei sich, dieser Mensch, der nie klagte und sich nie beklagte, wenigstens nie anders, als dass er sich manchmal besoff. Welches Ziel dieser immer leere Magen rasch genug erreichte.“ Erich Mühsam, der Lautensack in München kennenlernte, als der „das Faktotum“ der „Elf Scharfrichter“ war, die ihr Domizil in der Türkenstraße bei Kathi Kobus hatten, die in allen Schwabing-Mythen als eine Legende gehandelt wird, hat einer der beiden überlieferten Schilderungen gegeben, wie es zum Zusammenbruch während der Beerdigung Frank Wedekinds kam, nachlesbar in den „Unpolitischen Erinnerungen“, Abschnitt „Frank Wedekinds letzte Jahre“. Weil sie nicht sehr lang ist, kann ich die Passage hier vollständig wiedergeben.

„Aus dem Gefolge aber löste sich eine wirre Gestalt, suchte Bilder zu stellen, sprach von Filmen und davon, dass er am nächsten Tage bei Frau Tilly Wedekind uns alle versammeln werde, denn er sei jetzt Kinoregisseur und wolle Wedekind durch eine Verfilmung aller seiner trauernden Freunde ein unvergängliches Denkmal setzen. Das war Heinrich Lautensack, der feine, begabte Dichter und Mitbegründer der Elf Scharfrichter. Ich versuchte, den aufgeregten Freund zu beruhigen, und zog ihn zur Seite, während August Weigert vor der offenen Gruft stand und meine Gedächtnisverse für Frank Wedekind sprach. Aber in demselben Augenblick, in dem er schloss, riss sich Lautensack von meiner Hand, stürzte am Grabe nieder und rief zum Sarg hinab: „Frank Wedekind! Dein letzter Schüler – Lautensack!“ Der Wahnsinn war ausgebrochen. Es war die erschütterndste Szene, die ich erlebt habe. Mir brachen die Tränen hervor, dass ich gestützt werden musste. Lautensack kam einige Tage danach ins Irrenhaus, wo er nur noch wenige Monate lebte.“ In die Geschichte der deutschen Literatur ging er immerhin auch damit ein, dass er einer der allerersten war, die das Medium Film für sich entdeckten. Ein Drehbuch von ihm findet sich im berühmten „Kinobuch“ von Kurt Pinthus. Dass er seinen „Hahnenkampf“ in Wien sah, gilt als unwahrscheinlich, ihm fehlte das Reisegeld.


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