Erich Kästner, ein neuer junger Erzähler

Gegen Ende der kurzlebigen Weimarer Republik war Erich Kästner (23. Februar 1899 – 29. Juli 1974) plötzlich ein neuer, ein junger und natürlich auch ein deutscher Erzähler. Dabei wäre aus allem, was er schon geschrieben hatte, als ihn Hermann Kesten 1929 in seine Anthologie „24 Neue Deutsche Erzähler“ aufnahm, eine sehr solide zwei- bis dreibändige Text-Sammlung zu präsentieren gewesen, wie es sehr viel später auch tatsächlich geschah: zwei Bände brachte 1989 der Berliner Aufbau-Verlag, einen Band brachte der Leipziger Lehmstedt-Verlag 2004. Wieland Herzfelde reihte 1932 Kästner noch unter „Dreissig Neue Erzähler des Neuen Deutschland. Junge Deutsche Prosa“, zwischendrin, 1930, fand sich Kästner in „Junge Deutsche Dichtung“, die Herausgeber hießen Kurt Virneburg und Helmut Hurst, letzterer ist nahezu spurlos vergessen. Virneburg dagegen, der auch selbst Gedichte schrieb, findet sich im weltweiten Netz, weil der Augsburger Brechtkreis es einmal für gut befand, an seinem Grab in Friedberg Blumen niederzulegen. Kästner hat Virneburg um fünf Jahre überlebt, Käte Virneburg überlebte dafür ihren Gatten um volle vierzig Jahre und starb im hohen Alter von 101 Jahren. Was erzählte denn nun der junge Kästner so um seine 30 herum?

Er erzählte von einem „Duell in Dresden“. Er beginnt ganz neusachlich-faktisch: ein Datum – 28. Oktober 1927 – ein Ort des Geschehens – nahe der Ullersdorfer Mühle – ein zweiter – Kreuzung Radeberger Chaussee / Ullersdorfer Landstraße. Ein Duell soll stattfinden, das dann aber nicht stattfindet, weil einer der beiden vorher an einem Herzschlag stirbt: „Graff gehörte zu den heimlichen Kriegsopfern, die man mitzuzählen vergaß.“ Das ist schon einmal eine These, die kein Verfallsdatum hat: Kriegsopfer gibt es auch dann, wenn der Krieg vorbei ist, noch lange. Niemand hat bisher eine juristisch wirksame Linie gezogen, bis zu der ein Kriegsopfer ein Kriegsopfer ist, ab wann er Pech hat wie jeder, den eine so genannte Stichtagsregelung auf dem linken Bein, im Zweifel auf der Beinprothese, erwischt. Dafür gibt es ersatzweise die so genannte posttraumatische Belastungsstörung, die für frühere Kriege leider nicht rückwirkend als Massendiagnose in Frage kommt. Zurück zu Kästner und in die Dresdner Heide. Er selbst hatte es von seiner Wohnung in der Königsbrücker Straße 66 nicht weit bis in die Heide. Auch bis zu Onkel Franz Augustin war es nicht weit, dessen ehemalige Villa am Augustplatz heute das Erich-Kästner-Museum beherbergt.

Wie das späte Kriegsopfer eines wurde, gibt Kästner rückblickend als Geschichte des jungen Chemikers Graff, der eingezogen wird und in die Hände des Reserve-Oberleutnants Kinne fällt, der ein schlimmer Schinder ist, nur schlimme Schinder um sich duldet. Und letztlich verantwortlich ist für eine schwere Herzkrankheit seines Rekruten Graff, der sich am Ende nur noch rächen will. Er trifft ihn Jahre nach dem Krieg in der Straßenbahn, schlägt auf ihn ein und das Duell folgt. Nicht wenige der Schindereien kann sich jeder Gediente gut vorstellen, kennt sie aus eigener Erfahrung, das Geballte erst macht sprachlos. „Mit fünfundzwanzig Jahren war er ein Todeskandidat von der langwierigen Sorte und wusste das. Seine Mutter, mit der er zusammenwohnte, suchte er über Herzanfälle und bittre Melancholie lächelnd zu täuschen. Er rauchte nicht und trank keinen Alkohol. Er enthielt sich der Frauen und gab vor, er entbehre sie nicht.“ Assessor Kinne lässt sich vor den Augen der Mutter ohrfeigen, das Duell wird auf vier Wochen später angesetzt. „Das Leben des jungen Chemikers reichte zum Vollzug der Rache nicht aus. Doch vielleicht bewahrte ihn das Geschick nur davor, von seinem Peiniger „zu guter Letzt“ auch noch erschossen zu werden?“

Mit dieser Frage endet die kurze Geschichte schon. Dass Kästner auf sehr konkrete eigene Erfahrungen zurückgriff, ist kein Geheimnis: ihm selbst spielte ein Ausbilder Waurich mit, dem er in einem Gedicht mit dem Titel „Sergeant Waurich“ nachrief: „Der Mann hat mir das Herz versaut. / Das wird ihm nie verziehn. / Es sticht und schmerzt und hämmert laut. / Und wenn mir nachts vorm Schlafen graut, / dann denke ich an ihn.“ Wir lernen, falls wir lernen wollen: Der Dichter neigt (unter anderem, wozu er neigt) dazu, Situationen zu extrapolieren, in die äußerste Zuspitzung zu denken. Auch wenn er sehr viel später, nach dem nächsten Weltkrieg, einmal schrieb: „Wahre Geschichten soll man nicht durch Phantasie – zehn Tropfen auf einen Liter Tatsachen – verwässern.“ Verwässern wäre, in meiner Logik, verdünnen, was man mit zehn Tropfen auf einen Liter kaum schaffen dürfte, aber Kästner ist Kästner, man verzeiht ihm auch das schräge Bild. Militärisch, wenn gleich auf andere Weise, geht es auch noch in „Die Kinderkaserne“ zu. Hier nimmt der Titel ein Gesamturteil vorweg, welches man unter Umständen auch dem Leser hätte überlassen können. Denn es ist von einer Schule die Rede, nicht etwa von einer Kadetten-Anstalt.

Und auch hier wird gewissermaßen von hinten her erzählt: „In jener Nacht, in der Rolf Klarus, ein dreizehnjähriger Gymnasiast, den Oberprimaner Windisch erwürgte, starb drüben in der Altstadt Frau Hedwig Klarus, die Mutter des Knaben.“ Kästner beginnt protokollarisch, hält fest, was festzustellen war und was nicht. Der ermordete Oberprimaner konnte nicht mehr aussagen, der junge Mörder schwieg. Auch als klar war, dass die unmittelbare Todesursache nicht das Würgen, sondern ein Herzschlag vor Schreck gewesen war, wandten sich die Meinungen nicht zugunsten des Täters. Der wurde krank und musste auch dann in einer Anstalt bleiben, als er wieder gesund war. Oberprimaner Windisch kann bei Bedarf als Frühform des Assessors Kinne gelesen werden. Seine junge Leidenschaft ist das Schinden und Schikanieren, zugleich auch das ganz platte Ausbeuten, denn er kassiert das Taschengeld des Jüngeren ohne alle Skrupel ein. Unterm Strich hindert er ihn daran, seine schwerkranke Mutter zu besuchen. Dabei setzt er Machtmittel ein, die eben die Schule in eine Kinderkaserne verwandeln. Ein Schüler, nicht ein Lehrer, die dürfen das ohnehin, darf Nachsitzen anordnen, Reinigungsdienste, er darf einen Einzelnen ungehindert regelrecht verfolgen.

Lapidar heißt es bei Kästner: „... an jedem Abend sah er seine Mutter sterben, an jenem Abend zerrte man ihn von dem Bette Windischs, als es für beide bereits zu spät war.“ Die Tat richtet sich gegen das Opfer und den Täter zugleich, will das wohl sagen. „Es ist nicht bloß einfacher, es ist auch richtiger, statt einer sorgfältigen seelischen Interpretation des Falles etliche der vorgefundenen Aufzeichnungen folgen zu lassen, die der kleine Klarus in den letzten Wochen vor der Tat niederschrieb.“ Das ist auf etwas andere Art der Hinweis auf die zehn Tropfen, die die Tatsachen verwässern: Tatsachen pur. Es bleibt offen, wer hier der Erzähler ist, es bleibt offen, wie er in Besitz und Verfügungsrecht der Dokumente gekommen ist, die für sich sprechen sollen und es auch tun. Klarus ist der typische Schüler solcher literarischer Konflikte: gut in den Sprachen und Literatur, schlecht im Sport, er kann den Knieaufschwung nicht und ähnliche Übungen, muss aber gerade deshalb ständig zusätzlich trainieren. Klarus belügt seine Mutter, warum er nicht kommen konnte, weil er sie schonen will, weiß selbst nicht genau, was ihre Krankheit ist. Seine Leistungen lassen selbst da nach, wo er eigentlich gut ist. Windisch aber lässt nichts gelten, mitleidlos bis zum Ende.

„Der Herr ohne Blinddarm“, den 1932 Wieland Herzfelde, der berühmte Malik-Verleger, in seine Sammlung „Dreissig Neue Erzähler des Neuen Deutschland. Junge Deutsche Prosa“ aufnahm, ist ein ganz anderer Kästner, einer, wie man ihn zu kennen meint: voller Humor, satirisch. Es bereitet reine Freude, diese Geschichte aus der Werbebranche zu lesen, in der der Direktor Brausewetter vor seinen Angestellten Anton und Körner die Hosen herunter lässt. Das geschieht ganz buchstäblich und die beiden, eigentlich mit einem Plakattext und Versen für Produktwerbung beschäftigt, müssen Interesse und Anteilnahme gar nicht zu hundert Prozent heucheln: sie erleben einen Chef, der ein Mensch ist, weil er leidet. Zwar zieht Erich Kästner die Leiden dieses Direktors ein wenig ins Lächerliche, aber es wird nicht wenige Leser gegeben haben und bis heute geben, die wissen, wie sehr das Adipositas genannte Übergewicht Narbenheilungen erschwert, wie sehr ein sehr dicker Bauch seinen Besitzer daran hindert, auch nur einen eigenen Blick auf die schlecht heilende Wunde zu werfen, an der die Fäden nicht gezogen sind. Damals, lernen wir, entließ man frisch Operierte vorher, hinderte sie nicht, sich selbst durch vorzeitiges Arbeiten in nicht geringe Gefahr zu bringen.

Ganz nebenher richtet der neue Erzähler des neuen Deutschland Seitenhiebe gegen das akademische Treiben. Sein Anton, der morgens nicht arbeiten kann, weil er ein Langschläfer ist und sogar Studien kennt, die ihm Argumente dazu liefern, ist ein promovierter Mann. Das nötigt seinen reimenden Kollegen zu einer Mischung aus Hochachtung und Neugier. Anton verrät sein Thema: „Hat Heinrich von Kleist gestottert?“. Und legt gleich nach: „Erst wollte ich anhand von Stiluntersuchungen nachweisen, dass Hans Sachs Plattfüße gehabt hat.“ Das war zu aufwendig und Kästner kannte sich aus. 1925 promovierte er bei Georg Witkowski (11. September 1863 – 21. September 1939) zum Thema „Die Erwiderungen auf Friedrichs des Großen Schrift „De la Litteratúre Allemande. Ein Beitrag zur Charakteristik der deutschen Geistigkeit um 1780“. Bei Sebastian Schmideler (Universität Leipzig) kann man nachlesen, dass Kästner durchaus auch hätte Professor werden können, nachdem ihn wegen hervorragender Abiturleistungen in Dresden ein „Goldendes Stipendium“ nach Leipzig brachte. Vor Witkowski betreute Albert Köster die Arbeit, der aber am 29. Mai 1924 starb, was einen akademischen Nachfolger zwingend nötig machte.

Anton und Körner gehen auf die Knie vor ihrem Direktor Brausewetter, um die nässende Narbe genau in Augenschein nehmen zu können, der respektlose Anton verspürt einen Moment lang die Versuchung, dem Chef auf den nackten Hintern zu hauen, dann aber beherrscht er sich, denn selbst promovierte Kleist-Experten wissen letztlich, was sich gehört und was nicht. Am Ende steht die Tagesordnung, nachdem dem Chef zuvor noch das Korsett geschnürt wurde. Unter der Überschrift „Erste Hilfe gegen Kritiker“ schrieb Kästner viel später einmal: „Es war eine unvergleichliche, eine unvergessliche Zeit, und sie hatte nur einen Fehler: sie ging vorbei.“ Mit den vergleichlichen Zeiten läuft es kaum besser, wissen wir, es kommt nur darauf an, dass wir gerade da sind, wenn sie vorbei geht. Und noch ein Zitat aus Zeiten, da der neue junge schon ein etwas älterer Erzähler geworden war: „Er war bereit, dem arbeitenden Volk und dem Sozialismus von Herzen alles hinzugeben, nur eines niemals: die eigene Meinung!“ Und weil heute sein 50. Todestag ist und kein Klimaaktivist wohl auf die Idee kommen wird, sich an irgendein Kästner-Denkmal zu kleben: „Die Natur kehrt sich nicht an die Geschichte. Sie baut wieder auf, ohne darüber nachzudenken.“ Auf Kästner!


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