Wassili Schukschin: Bauer Derjabin

Bauer Derjabin heißt Afanassi mit Vornamen, er hat seinen sechzigsten Geburtstag schon hinter sich, sein Vatersname ist Iljitsch. Den teilt er mit Lenin und mit Breshnew. Obwohl beide in der Geschichte, die Derjabin erlebt, nicht vorkommen, spielen sie dennoch eine Rolle in ihr. Denn Afanassi Iljitsch Derjabin ist ein sowjetischer Bauer und spricht manchmal mit Wanin. Zum Beispiel darüber, warum die krumme Gasse, an der Derjabins Häuschen als letztes und achtes steht, Nikolaschka-Gasse heißt. Das ist ein nur sehr kleines Geheimnis, denn alle Älteren im Dorf wissen, dass hier früher der Pope wohnte, der Nikolai hieß wie der Zar, den sie dann mitsamt seiner großen Familie erschossen haben, weil sie dachten, wenn man eine Revolution macht, muss man den Zaren mit Stumpf und Stiel ausrotten. Im Dorf nannten alle den Popen Nikolaschka, wie den Zaren niemand nannte, denn vor dem Zaren hatte man Respekt, vor dem Popen nicht so ganz.

Das Anwesen des Popen ist wegen der Revolution abgerissen worden und auch für den Kolchos als Verwaltungsgebäude hat es gedient. Was man dem Popen antat, nannte man Verbannung. Das war ein altes zaristisches Verfahren, welches die neue revolutionäre Regierung, um nicht erst lange ein eigenes neues Verfahren erfinden zu müssen, einfach übernahm. Die Gegend, in die man Menschen verbannen konnte, war ohnehin da, sie war weit, kalt und fern und man verstarb dort nicht selten deutlich früher, als man zu Hause gestorben wäre, teilweise lag das an der Nahrung für Verbannte, die nicht ausreichend vorhanden war oder von ebenfalls hungrigen Wachmannschaften aufgegessen wurde nach dem Prinzip, demzufolge Hemden und Jacken in einem bestimmten Verhältnis stehen zueinander. Was mit dem Popen Nikolai in der Verbannung geschah, wissen wir nicht, auch Bauer Derjabin weiß es nicht, immerhin aber bringt er eine anonyme Klage an das Kreisexekutivkomitee von Krasno-Cholmsk untertänigst zu Papier.

Sie enthält unter anderem diesen Satz: „Bei der Beseitigung des Popen als Element wurde vergessen, die Gasse umzubenennen, und so heißt unsere Gasse in der gegenwärtigen Zeit ihm zu Ehren wie er.“ Der Bauer Derjabin schließt seinen anonymen Brief mit einer Idee für einen neuen Namen: „Und es fehlt nicht an Veteranen der Arbeit, die zeitlebens Wertvolles für die Sache des Kolchos geleistet haben, angefangen bei der Kollektivierung.“ Vermutlich hat der letzte Satz in Afanassi Iljitsch sofort auf eine weitere Idee explosiv keimen lassen, denn, fast ist es zu ahnen, er hält sich selbst natürlich für einen solchen verdienten Veteranen, der seine zwei Söhne und seine eine Tochter die Zehnklassenschule absolvieren ließ, damit sie anschließend studieren konnten. Alle drei haben jetzt einen guten Posten in der Stadt und sind der Stolz ihres Vaters. Der ein zweites Schreiben aufsetzt, das sich den Anschein gibt, von den wachsamen Pionieren des Dorfes zu stammen.

Diese fiktiven Pioniere schlagen den Onkel Derjabin als Namensgeber für die Gasse vor und der Onkel, der auch Starenkästen mit Vorbau zimmern kann, holt sich drei Nachbarjungen heran, die sich überreden lassen, als Absender des zweiten Briefes zu fungieren, wobei die in Aussicht gestellten nagelneuen Starenkästen eine gewisse Rolle spielen. Einer schreibt den Brief noch einmal schön und sauber ab, denn alles muss natürlich echt wirken und dann gehen beide Briefe auf den Postweg an das Kreisexekutivkomitee. Dort aber, irgendwie ist eben doch nicht mehr alles wie früher, wird keineswegs eine Entscheidung getroffen, man delegiert den Fall zurück an die Basis und deshalb erscheint der junge Vorsitzende des Dorfsowjets auf seinem Motorrad an Derjabins Haus. Dem ist die Sache mit dem Namen zwar eilig, aber nicht sonderlich wichtig. Und er schlägt deshalb vor, sie Schlucht-Gasse zu nennen, wegen der Schlucht, zu der sie führt. Traurig, böse und entrüstet sagt Afanassi: „Dann schon lieber Krumme Gasse.“

Die Geschichte endet damit, dass Bauer Derjabin seinen drei Kindern in der Stadt verheimlicht, dass die Gasse einen neuen Namen bekommen hat. Die adressieren ihre Post deshalb wie alle Zeit an die Nikolaschka-Gasse 1, wo sie, was keinerlei eigene Erwähnung verdient, natürlich trotzdem anlangt. Geschrieben hat das Wassili Schukschin, dessen 85. Geburtstag am 25. Juli zu feiern gewesen wäre. Weil er aber am 2. Oktober 1974 bereits starb, heute also genau vierzig Jahre tot ist, ist das Interesse an seinen Geschichten verloren gegangen. Am 25. Juli 1989, es war ein Dienstag, erschien die Zeitung JUNGE WELT mit einem Zweispalter von Thea Herold zum sechzigsten Geburtstag Schukschins. Sie vertraute darauf, dass der Name des zu früh Verstorbenen noch ein Begriff war und zitierte (Seite 5, Ausgabe 173) den Satz: „Und dereinst, am Ende meines Schriftstellerlebens, wenn ich tausend Erzählungen geschrieben haben werde, erzähle ich endlich über den wahren Menschen.“ Ob die hauptsächlich jungen Leser der damals noch in Millionenauflage erscheinenden Zeitung wussten, dass dieser einfache Satz eine Anspielung enthielt auf einen hochgejubelt berühmten Roman der Sowjetliteratur, nämlich auf „Der wahre Mensch“ von Boris Polewoi, muss bezweifelt werden. Zeitungen aber enthielten damals immer auch Botschaften für eingeweihte Leser, unter denen es nicht weniger gab, die in der neuen Sowjetliteratur mehr Realität, mehr kritisches Potential, kurz: mehr Substanz fanden als in der zeitgleichen DDR-Literatur.

Mein Suhler FREIES WORT erfreute seine Leser am 26. Juli 1989 auf Seite 6 seiner Ausgabe 174 ebenfalls mit einem Zweispalter aus Anlass des sechzigsten Geburtstages von Wassili Schukschin, Autorin Valeria Prut von der Agentur Nowosti-APN. „An seinem Geburtstag werden jetzt in seinem geliebten Dorf Srostki jedes Jahr Schukschin-Lesungen veranstaltet.“ Das wird, darf vermutet werden, jetzt wohl nicht mehr so sein und ich erinnere mich abermals mit tiefem Schrecken daran, wie ich auf meine Frage nach dem heutigen Status jener Autoren, die einst für uns als große Vorbilder dienten, ohne dass sie uns deshalb um die Ohren gehauen werden mussten wie eben vorher jener Polewoi oder Ostrowski oder gar Ashajew, die Antwort im Germanistik-Ferienkurs der TU Ilmenau lautete: „Ach, Sie meinen die Sowjetischen?“ Jungen Russinnen reichte offenbar bereits diese Charakterisierung für tiefste Verwunderung über eine solche absonderliche Frage eines deutschen Dozenten. NEUES DEUTSCHLAND aber, es sei nicht verschwiegen, hielt die Schukschin-Fahne noch vor zehn Jahren hoch. Zum 75. Geburtstag erinnerte Hans-Dieter Schütt in seiner bekannten und nicht durchweg beliebten Art an den Russen: „Wer so einen nicht vergisst, darf sich selber dankbar sein.“ Was Schütt dann ja wohl auch war.

Ob Renate Holland-Moritz nur mit dem Kopf schüttelte oder einen Lachkrampf bekam, als sie im einstigen Zentralorgan lesen musste, dass Wassili Schukschin während der Dreharbeiten zu Sergej Bondartschuks Film „Sie kämpften für die Heimat“ starb, vermag ich nicht zu sagen, denn die Aussage war ja keineswegs falsch, nur hatte Schütt, damit befasst, solche herrlichen Sätze zu formulieren wie: „Immer gibt es die Tonangeber, die deshalb den Ton angeben, weil es ihnen an Gabe fehlt.“ rein versehentlich Konstantin Simonow zum Verfasser des gleichnamigen Romans gemacht, owohl es doch Michail Scholochow war, was zu wissen keine Schande für einen ehemaligen Chefredakteur gewesen wäre. Renate Holland-Moritz aber hat für Wassili Schukschin einen Superlativ aufgefahren, der mindestens meine höchste Hochachtung im Sturm zu erobern vermochte, als ich ihn wieder las. Er betrifft Schukschins berühmtesten Film „Kalina Kasnaja“, in dem er Regie führte und die Hauptrolle spielte: „Die Begegnung dieser beiden vom Leben schon arg zugerichteten, aber ungebrochenen Menschen, sein erstes Gespräch mit ihren alten Eltern und seine Aufnahme im Dorf gehören zum Bewegendsten, das je in einem Gegenwartsfilm geschaffen wurde.“

Solche Filme wurden damals in der Sowjetunion gedreht, auch wenn sie wohl kaum die Regel waren. Mehrfachbegabungen wie diesen Schukschin, an dessen Ende sicher auch der Trunk eine wichtige Rolle spielte, gab es damals wie heute selten. Die Zeit seines höchsten Ruhmes jedenfalls währte nicht länger als zehn Jahre, zwölf vielleicht. In der DDR erschien, vor Vergleichbarem in der Sowjetunion, worauf seinerzeit schon der Übersetzer Eckhard Thiele hinwies, so etwas wie eine vierbändige Werkausgabe von Schukschin. Eröffnet mit dem Roman über Stepan Rasin „Ich kam, euch die Freiheit zu bringen“, der im Westen Deutschlands mit dem Titel „Rebell gegen den Zaren“ erschien. Auf fast tausend Seiten kam die zweibändige Erzählungssammlung „Gespräche bei hellem Mondschein“, der vierte Band hieß „Kalina Krasnaja“ wie schon ein Büchlein der dialog-Reihe Jahre zuvor, nur nun 654 Seiten stark und diverse Texte nicht nur zum Film vereinend. Satiren gab es in der Reihe Spektrum des Verlages Volk und Welt, der auch in seiner nobleren Reihe Ex Libris noch einmal Erzählungen sammelte wie vorher bereits als Einzelstück unter dem Titel „Von der Seite und von vorn“ und in Leder mit „Striche zu einem Porträt“. Auch der Leipziger Reclam-Verlag und Eulenspiegel trugen mit je einer Erzählsammlung zur guten Schukschin-Versorgung bei („Null null Kopeken“ und „Kuckuckstränen“ hießen die Bände).

Eckhard Thieles Nachwort zur Reclam-Ausgabe, die auf der zweibändigen von Volk und Welt fußt, hat zielsicher, weil aus Kenntnis heraus, Schukschins Credo über das Erzählen an den Anfang seiner Bemerkungen gestellt. Schukschin distanziert sich nämlich keineswegs nur vom literaturästhetischen Dogmatismus sowjetischen Zuschnitts, er macht sich auch über modernes Erzählen lustig, indem er durchspielt, wie andere Autoren eine einfache Situation wohl schildern würden. „Am schlimmsten ist es, wenn unser Gegenüber fragen muss: Wovon redest du überhaupt?“ Beim Bauern Derjabin muss kein Literaturprofessor mit Kenntnissen in Dekomposition, Postrealismus oder präkolumbianischer Oraltradition herangezogen werden, man gerät nicht in Zweifel über das, was erzählt wird und siehe, es braucht nicht einmal etwas wie einen gebauten Standpunkt mit einem Transparent über dem Eingangstor. Wer gerne Westausgaben von Schukschin in die Hand nehmen will, weil er Infiltration fürchtet seitens früher Vorfahren gefährlicher Putin-Versteher, der findet Dünnes bei Luchterhand oder in der freilich schon vom Namen her verdächtigen „Kleinen Arbeiterbibliothek“ des Münchner Damnitzverlages.


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