Franz Fühmann 90

Aus Franz Fühmann konnte ich lange nach seinem Tod Trost und Bestätigung ziehen. Als ich erstmals las, wie er in einem Brief vom 11. November 1976 die vier Gründe formuliert für sein Schreiben an Christa Wolf, überraschte mich vor allem Grund 4: „... weil ich alles so unsagbar beschissen finde, inklusive dieser unsäglichen Kunze-Affaire, ein miserables Buch, und eine Aufblähung, und Böll liegt auf dem Buch und Hans Mayer, und wir verbietens natürlich, und der PEN interveniert, und wir werden ruppig, und die Jugend schreit und hälts für das Nonplusultra der Literatur und sie schreibts ab (die Jugend) und wird dafür eingesperrt werden – könnten wir uns darüber unterhalten?“

Auf fünf Zeilen ist hier DDR-Geschichte in ihrer finstersten Erscheinungsweise zusammengezogen und es ist ein Stück meiner Lebensgeschichte, das immer von Unsicherheit begleitet war. In dieser besonderen Hinsicht. Denn ich war auf Wegen, die heute noch wundersam erscheinen, in die Situation gekommen, das nämliche Kunze-Buch, „Die wunderbaren Jahre“, nicht nur in den Händen zu halten, sondern auch rasch lesen zu dürfen, ehe es zu weiteren heimlichen Lesern wandern musste. Und ich fand das Buch: MISERABEL. Ich wagte nicht, mit meinen engeren Freunden darüber zu reden, weil dieser Kunze, den wir alle wegen der wunderbaren Gedichte liebten, die er unter anderem auch schrieb, quasi unter Schutz stand. Er wagte, was sonst kaum einer wagte, er schrieb, wie die meisten nicht schrieben. Und nun hielt ich in den Händen, was ich für einen grauenhaft gequirlten Quark hielt und fasste es nicht. Es gibt etliche Seiten Manuskript von mir dazu aus dem Ende 1976, nie bearbeitet, nie weiter verfolgt.

Dann dieser Fühmann. Fühmann nannte das Buch nicht nur miserabel, sondern er durchschaute auch alle anliegenden Kollateralprobleme. Er benannte die bedingten Reflexe. Es ist für alle Begriffstutzigen und für alle deutungshoheitlichen Klugscheißer ausdrücklich noch einmal zu betonen: Jeder dahergelaufene Systemkritiker aus dem Osten wurde im Westen hochgejubelt, was immer er für einen Müll verzapfte, Hauptsache es sah lyrisch, episch oder dramatisch aus. Umgekehrt erschien im Osten jeder DKP-Schmierant als unmittelbarer Goethe- und Schiller-Erbe, drastisch ausgedrückt, und das ganze war nicht nur unter kalten Krieg zu subsumieren. Es war einfach doppelseitige Blödheit und ist es bis heute.

Die wirklich guten Leute, Fühmann beispielsweise, litten darunter, sie litten lange und tief und, ein anderes Beispiel zu nennen, wenn einer wie Günter Kunert, gerade des angeblichen Geschichtspessimismusses halber im Osten exkommuniziert, im Westen als erstes von einem oberschlauen Lyrik-Papst eigener Ernanntheit erneut seiner pessimistischen Weltsicht wegen angeödet wurde, was sollte der junge kleine Beobachter des Geschehens davon halten? Der in seine kleine DDR eingesperrt war, der es mindestens unoriginell fand, seine eigene Verfolgung herbei zu organisieren, um wenigstens dadurch etwas Ruhm auf sich zu laden. Natürlich fallen keine Namen, weil meine Sicht ungerecht ist wie jede Sicht, die Namen nennt ohne Kennntnis aller Details und Zusammenhänge. Woran sich halten?

Franz Fühmann also, ein reichliches halbes Jahr jünger als mein Vater, ein knappes halbes Jahr älter als mein Schwiegervater, so einen kann man verstehen. Man kann in vielen Zeilen von ihm Dinge erahnen, die man bei anderen nicht erahnen würde. Dabei ist es wenig interessant, ob all die erahnten Dinge wirklich stimmen. Es geht um Wirkung. Auch bei Fühmann fand ich Schrott. Das Buch „Spuk“ beispielsweise, im Aufbau-Verlag erschienen mit dem Untertitel „Aus den Erzählungen des Polizeileutnants K.“ Ich malte mir Ende 1979, als ich es las, aus, eine Studie zu machen zu den schlechtesten Büchern der größten Schriftsteller des Landes, Strittmatters „Paul und die Dame Daniel“ wäre Beispiel Nummer 2 geworden. Als ich jetzt Uwe Wittstocks Fühmann-Beitrag in dem Band „Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg“ nachlas, fand ich viel, aber eines nicht: Neugier auf Fühmann, die auch andere auf Fühmann neugierig macht.

Mit Hans Richters dicker Fühmann-Biografie ist es da etwas anders. Seine bisweilen übergroße Freundlichkeit bei der Deutung dieses oder jenes Faktums hat mit Zuneigung zu tun. Meine Freundlichkeit bei der Beurteilung der Biografie hat auf ihre Art auch mit Zuneigung zu tun. Denn nach meiner Kritik eines Richter-Buches in NEUE DEUTSCHE LITERATUR hat er sich bei mir nicht nur bedankt, sondern wollte mich auch in einem Kritiker-Wettbewerb protegieren. Da starb aber gerade das Land aus, in dem dieser Wettbewerb hätte stattfinden sollen. Und das war gut so.

Es klingt möglicherweise allzu arg an den Haaren herbeigezogen, wenn ich einen Hauptinhalt von Fühmanns Leben und Schreiben in die Titel zweier Kinderbücher kleide: „Vom Moritz, der kein Schmutzfink mehr sein wollte“ und „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“. Ja, Franz Fühmann wollte kein Schmutzfink mehr sein nach 1945 und er war, länger als gut war, könnte man meinen, auf der Suche nach dem wunderbunten Vögelchen, das sich fast zu Suchbeginn schon als grauer Spatz erwies, der in der Hand angeblich eine nennenswerte Konkurrenz zur Taube auf dem Dach darstellt. Verglichen mit dem wunderbunten Vögelchen aber, da schmiert der Spatz ab, selbst wenn ihn der Dachverband für dieses, jenes und fast alles zum Vogel des Jahres erklärt. Franz Fühmann wäre heute 90 Jahre alt geworden, wenn er nicht schon 1984 gestorben wäre.


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