Friedrich Michael: Annette Kolb in memoriam
Am 19. Dezember 1967 veröffentlichte die F.A.Z. einen Gast-Beitrag, der etwas wie einen sehr persönlichen Nachruf auf die am 3. Dezember in München verstorbene Annette Kolb darstellte. Der Autor: Friedrich Michael (30. Oktober 1892 – 22. Juni 1986), in Ilmenau geboren und allein deshalb immer interessant für einen, der in und aus Ilmenau schreibt wie ich. Michaels Beziehung zu Kolb reichte zurück bis zu einem Rezensionsauftrag aus dem Jahr 1915. Für Georg Witkowskis (11. September 1863 – 21. September 1939) „Zeitschrift für Bücherfreunde“ sollte er Annette Kolbs Buch „Wege und Umwege“ besprechen. Das Buch war im Verlag der weißen Blätter erschienen und enthielt auf 362 Seiten zahlreiche kurze Texte, die zuvor in diversen Zeitungen, Zeitschriften und Almanachen gedruckt waren. Keine dankbare Aufgabe für einen jungen Kritiker, Witkowski wird gewusst haben, was er seinem Schüler und Freund, wie er ihn in seinen Erinnerungen „Von Menschen und Büchern“ nennt, da zugemutet hat. Vor allem aber outet sich Michael als einer derer, die stets zum falschen Tag gratulierten, wenn Annette Kolbs Geburtstag Anfang Februar heran war.
„Und nun wird man ihr also nicht mehr begegnen, nicht mehr zum 2. Februar die kleine Geburtstagsepistel schicken, die sie immer in ihrer Handschrift beantwortete – die Buchstaben wurden von Jahr zu Jahr größer -, und im letzten dieser Briefchen vom 4. Februar 1967 steht am Rand: „Leider sind meine Augen zu nichts mehr nutz.“ Das war eines der Dinge, die die nunmehr uralte Dame mit dem Hütchen plagten, sie sah nur noch sehr schlecht: am Tag ihres Todes war sie genau zwei Monate von ihrem 98. Geburtstag entfernt. Friedrich Michael aber bekannte sich zum ersten der nur drei Romane, die Kolb in ihrem langen Leben schrieb, zu „Das Exemplar“. Es werde „immer mein Lieblingsbuch bleiben.“ Weil das so war, findet man in den verstreuten Äußerungen Michaels keinen Buchtitel häufiger als eben diesen. Für „Jahresring“, Stuttgart 1968, den Almanach der Deutschen Verlagsanstalt DVA, schrieb er jenen Text, der hier den Titel für mich liefert: „Annette Kolb in memoriam“. Es ist die längste zusammenhängende Äußerung Michaels und zugleich die zweite nach einer aus dem Jahr 1954, die er ebenfalls für den „Jahresring“ verfasste.
Sein Anfang sagt viel über die Verstorbene: „Wenn man in den letzten Jahrzehnten von Annette Kolb sprach, waren alle Worte der Verehrung für die Hochbetagte fast immer begleitet von einem dankbaren Lächeln der Erinnerung an das Amüsement einer Begegnung, von jener eigentümlichen Heiterkeit, die das originelle Wesen eines Menschen in uns weckt, der sich seiner Eigenart bewusst ist und damit auf anmutige Art zu spielen weiß. Aber es ist nicht ungefährlich für einen Menschen, als Original zu gelten, weil die Welt dann über dem Menschen allzu leicht seine Leistung vergisst“. Das mag wahr sein, denn immer wieder begegnet man Beschreibungen von Äußerlichkeiten der Autorin, immer wieder vor allem sieht man Fotos von ihr mit dem unvermeidlichen Hütchen, mit der unvermeidlich überlangen Zigarettenspitze. Sie zelebriert vergangene Damenhaftigkeit, scheint das zu bedeuten. Dass sie auch eine Autorin von großen Qualitäten war, muss eigens in Erinnerung gerufen werden, auch Friedrich Michael sah das so und fragte: „Aber hat man sich in all den Jahren auch um ihr Werk gekümmert, kennt man ihre Bücher, leben sie noch und was geben sie uns?“
Man hat sich um ihr Werk gekümmert, die Romane erschienen als Taschenbücher oder in einem Band alle zusammen, die Biographien von Mozart und Schubert erschienen in ansehnlichen Auflagen, „das lebendigste Mozartbuch, so gar nicht das, was gemeinhin Monographie heißt, ein ganz persönliches Buch“, meinte Michael. Am 29. Juni 1963, Annette Kolb lebte noch, druckte die F.A.Z. eine Besprechung von Michael zu einem Buch von Bernard von Brentano, „Schöne Literatur und öffentliche Meinung“, im Wiesbadener Limes Verlag erschienen, und nicht ganz nach dem Geschmack des Kritikers. Darin aber auch diese Passage: „Es gibt ja Bücher, die über ihren Autor mehr aussagen als über den behandelten Gegenstand, das macht ihren eigenen Reiz aus. Die Werke der Annette Kolb gehören für mich dahin; ich liebe ihre Schönheiten, kenne ihre Schwächen, ich kann sie immer wieder lesen, und dann ist da stets von neuem die nun hochbetagte bayerische „Demoiselle“ selbst gegenwärtig, das unverwechselbare „Exemplar“.“ Michael war einer, der sich von einzelnen Sätzen verführen ließ und wegen dieser Sätze immer wieder zu ihren Büchern griff.
„Es sind solche Sätze, um derentwillen man den Büchern von Annette Kolb immer wieder zu begegnen wünscht. Das Ergötzen an ihren Bosheiten ist nicht gering.“ Dabei würde sich der Kritiker gern auch zurückhalten: „Von den Büchern Annette Kolbs öffentlich zu sprechen, scheut man sich immer ein wenig – denn was geht unsere Liebe die Welt an?“ Er spricht dann doch, denn warum sonst sollte er überhaupt über Literatur schreiben: „…aber genau betrachtet sind die Bücher Annette Kolbs durchweg Studien zur Kenntnis der Menschen und Völker Europas“, mit einem sehr speziellen Reiz, der „… gerade darin liegt, dass man hier die Welt mit den Augen einer gescheiten Frau betrachtet, die alles viel schärfer sieht, weil sie nicht zu lange auf denselben Fleck blickt.“ Michael zitierte auch guten Gewissens aus seiner mehr als 50 Jahre alten Kritik: „Hier ist jene Unmittelbarkeit, die den Menschen mehr als den Künstler offenbart; hier ist auch der leichte Ton des Plauderers, der sich nie in die Kühle der Studierstube verirrt, … Annette Kolb geht und führt Wege zu bedeutenden Menschen: nach Paris, ihrer anderen Heimat, nach England, nach Italien.“
Und äußerte Verständnis für das große briefliche Lob, das der Dichter Rainer Maria Rilke mit Blick auf ihren ersten Roman formulierte: „Was den Dichter Rilke besonders empfänglich für das Buch machen musste, war wohl die Sprache, diese metaphernreiche Sprache, die noch dem allgemeinsten Vorgang einen eigenen Akzent gibt, kurz gesagt: der Roman als Dichtung.“ Rilkes Briefsatz soll hier nicht fehlen, auch wenn er überall zitiert wird, wenn es um den frühen Rang, nicht unbedingt den frühen Ruhm Kolbs geht: „Wenn ich nicht in dieser infamen Entfernung wäre, ich würde Ihnen alle Blumen ins Haus schicken, die ich zu sehen bekomme, um nur etwas zu tun, was meiner Freude und Ergriffenheit gleichkommt“. Auch Rilke war jünger als Kolb, wenngleich nur fünf Jahre, Hugo von Hofmannsthal auch noch vier Jahre und er stellte den zweiten Roman „Daphne Herbst“ noch über den ersten, „Das Exemplar“. Friedrich Michael ließ sich von solchen unterschiedlichen Vorlieben nicht beirren. Er kannte Schwächen der Autorin, wobei nicht klar ist, ob er darunter auch ihre mangelhafte Fähigkeit, Fabeln zu erfinden, eine „richtige“ Geschichte zu erzählen, rechnete.
Michael zitiert aus einem Gespräch, dass Kolb mit Franz Werfel führte. Dem habe sie gesagt: „Lasst mir meinen impressionistischen Weg. Ein anderer Zugang steht mir nicht zu Gebot.“ Ob man Annette Kolb deshalb einer literarischen Richtung des Impressionismus zurechnen kann, erörtert Michael nicht, manches spricht dafür. Was sie an „Geschichte“ erzählt, „das vergisst man am Ende wieder. Aber die Menschen bleiben, diese eigenwilligen Geschöpfe, die untereinander so verwandt sind“. An ihren Romanen wäre dies wunderbar vorzuweisen. „Die Schaukel“, von Hermann Hesse und von Joseph Roth gleichermaßen in höchsten Tönen gelobt, ist Porträtkunst, Charakterisierungs-Kunst, immer neue Züge zeigend und beschreibend, Handlung ist dabei fast komplett überflüssig. „Es ist die sich immer wiederholende Situation, die sich im Hinblick auf die schreibende Politikerin auch ausdrückt in der Wendung: „Ich dachte an ihm herum.“ Das heißt nichts anderes als: sie ist Zuschauerin und gibt Impressionen, und wir lieben die schöne Leidenschaft, mit der sie sich trotzdem zu den Dingen der Welt und auch zur großen Politik ihre Gedanken macht.“ Trotzdem!
Der Hamburger Hans Dulk Verlag veröffentlichte 1937 Friedrich Michaels „Kleine Reise nach England“. Da lebte Annette Kolb schon im Exil, buchstäblich im letzten Moment aus Badenweiler, wo sie ihr Haus neben dem von René Schickele hatte, nach Basel entkommen: mit dem Taxi, schon am folgenden Tagen wurde der kleine Grenzverkehr verboten. „Als ich auf dem Oberdeck eines Busses durch Oxford Street zum Hotel fahre – wie sollte ich nicht an Mariclée denken, die kapriziöse Heldin aus dem „Exemplar“ Annette Kolbs, die in ihrer Unrast stundenlang auf solch einem ambulanten Dach durch den Londoner Abend fährt, immer vom Endstation durch Oxford Street und Park Lane zur Endstation, bis der Wagen seinen Dienst einstellt. Über die Jahrzehnte hin, die seit Mariclées Vorkriegssommer vergangen sind, fühlt man sich ihr durch den ratternden Bus in der Londoner Julinacht verbunden.“ Kann man einem Buch mehr wünschen, wäre eine schöne Wunschfrage an solcher Stelle? Es gibt solch wundersame Namen oft bei Annette Kolb: wie eben Mariclée, wie Hespera, in einem Buch figuriert sie selbst als Aminta im anderen als Mathias. Einmal, 1956, in einem Pariser Hotel, hörte Friedrich Michael Annette Kolb sagen: „Malen kann jeder … aber schreiben!“ Die Anspielung galt ihrer Schwester in Irland und sagt doch viel mehr.