Vor 100 Jahren starb Max Klinger
Anständigerweise ist ein ordentlicher Künstler, auch und zumal in Deutschland, zu Lebzeiten unbekannt, verkannt, missachtet und vor allem bettelarm. Er knabbert in Ermangelung von fester Nahrung an seinen Fingernägeln und gleicht es in Kreisen Gleichgesinnter wie Gleichliegender gern mit flüssiger Nahrung aus. Es gibt Bildnisse verschiedener Art von Max Klinger, die insbesondere eine Nase akzentuieren, die dazu zu passen möchte, dass er sich, sobald es ging, einen Weinberg zulegte. Das aber greift vor, denn dieser am 18. Februar 1857 geborene Sohn eines Seifensieders aus Leipzig fällt aus dem vorgegebenen Rahmen. Er ist zu Lebzeiten so erfolgreich, dass er, kaum dass er tot war, zwanghaft vergessen werden musste, um das Weltbild der Welt wieder ins Lot zu richten. Erfolg schändet in Deutschland auch und zumal, in Amerika hätte er sicher Hollywood-Angebote bekommen, wenn Hollywood auch nur minimal mit Malerei und Grafik zu tun gehabt hätte. Der Zufall will, dass seit dem 1. Juli in Großjena das Klinger-Haus mit dem Klinger-Grab und dem Klinger-Weinberg wieder besichtigt werden kann. In Leipzig sind fast ohne Abstandsgebot Klingerweg, Klingerhain und Klingerbrücke zu sehen und zu begehen. Der Asteroid, der nach ihm benannt wurde, trägt Nummer 22369 und ist dem Auge bedauerlicherweise nicht direkt zugänglich.
Hier kündigt sich trotzdem kein Schritt zu neuen Ufern an: der bildenden Kunst wird auch künftig mein Interesse vielfach gelten, ich werde mich zu ihr aber selten bis nie äußern. Klinger ist eine Ausnahme aus einem einfachen Grund: er steht in meinem Privatkalender, weil am heutigen 4. Juli sein 100. Todestag ist, weil ihn Leute mochten, die ich auch mag und ihrerseits Hersteller von Literatur waren: Richard Dehmel etwa, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler. Vor allem aber, und da ist die Verbindung sehr direkt, besitze ich als alter Inselbuch-Sammler natürlich auch die Nummer 263. Das ist eine 1891 zuerst als Privatdruck erschienene kleine Schrift mit dem Titel „Malerei und Zeichnung“ und just diese Schrift hat einige Jahre später auch den Titel geliefert für ein Leipziger Reclam-Buch: „Malerei und Zeichnung. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe“ (RUB 1102). Herausgeberin war Anneliese Hübscher, die, Verzeihung, ein informatives und keineswegs nur hübsches Vorwort zu allem geschrieben hat. Nur für meinen ganz harten Freundeskreis verrate ich noch einen Grund meiner Neigung zu diesem Abweg. Im genannten Reclam-Buch steckt bei der Seite 79 als Lesezeichen eine abgerissene Kinokarte der Bezirksfilmdirektion (vermutlich) Suhl. Dort äußert sich Max Klinger zu meinem Thema Fortschritt, speziell auch zum Kunst-Fortschritt.
Zu meiner Arbeitsweise gehört seit eine ganzen Weile, eventuelle Gedächtnisausfälle vorsorglich ausgleichend, das Anbringen von leicht entfernbaren Klebezetteln in Büchern, die mich demnächst beschäftigen sollen, das demnächst kann gern noch Jahre entfernt liegen. Bei Max Klinger klebt ein Zettel des Bader-Versandes, zu dessen Kunden ich nicht gehöre, der aber zu seinem 75-jährigen Bestehen just diese hübschen farbigen Blöcke in die Welt schickte und auf diesem einen steht: siehe auch Georg Brandes. Das wiederum führt mich an ein Regal zu meinen Füßen, was nur insofern stimmt, wenn ich liege. Dort stehen meine eher bescheidenden Bestände skandinavischer Literatur, dort steht Georg Brandes mit seiner Kierkegaard-Monographie und dort steht ein dunkelblaues Buch aus dem Jahr 1897 (dritte, durchgesehene und bedeutend vermehrte Auflage) mit dem Titel: „Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert von Georg Brandes“. Verlagsort war Frankfurt am Main, den Verlag aber bringt man heute eher nicht mit dieser Stadt in Verbindung: Rütten & Loening. Gleich das zweite der Bildnisse gilt Max Klinger, ein dünnes Papier schützt ein Lichtdruck-Gruppenbild mit Georg Brandes in der Mitte, über ihm Iwan Turgenjew, rechts neben ihm Paul Heyse, links neben ihm Ernest Renan und unten Max Klinger.
Der kommt nach Paul Heyse, dem 55 Druckseiten gelten, mit immerhin 16 Druckseiten an zweiter Stelle. Der Text entstammt dem Jahr 1882, da blieben Max Klinger noch 38 Jahre zu leben. Er war zwar nicht mehr unbekannt, aber vom Höhepunkt seines Ruhmes von 24 Jahre entfernt. 1906, das ist gemeint, ereilten ihn zwei Ehrendoktorwürden: eine medizinische in Greifswald, in Königsberg eine philosophische. Es ereilten ihn weiterhin in diesem schönen Jahr: der Orden Pour le Mérite, der Bayerische Maximiliansorden, er wurde Komtur des Sächsischen Albrechtsordens, Ehrenmitglied der Dresdner und der Stockholmer Akademie. Seinen 50. Geburtstag feierte er 1907 in Paris. Der 15 Jahre ältere Däne Georg Brandes, weshalb er hier aufgerufen wird, hatte ein sicheres Auge und ein gutes Gespür. Der fünfte und letzte Abschnitt seines Porträts beginnt so: „Es ist wahrscheinlich, dass ein Künstler, der bis zu seinem 24. Jahre schon so viel hervorbrachte, im Laufe der Zeit einen weitverbreiteten Ruf erlangen wird. Ich glaube nicht, dass es ihm gelingt, sich eine ebenso große Herrschaft über die Mittel der Malerkunst zu erwerben, wie über die der Radierkunst.“ Dem wird kaum zu widersprechen sein, nur die Perspektive auf Klinger verschiebt sich später recht heftig. Anneliese Hübscher zitiert zum Beleg aus dem Jahr 1917 den Kunsthistoriker Max J. Friedländer.
„Wir wollen im Urteil sauber unterscheiden zwischen Klingers Ruhm und seiner Leistung. Dieser Meister hat einige Vorurteile, Neigungen und Ansprüche des deutschen Publikums so vollkommen befriedigt, dass der Verdacht entstehen konnte, er habe es als ein Charlatan darauf angelegt, diesen Instinkten entgegen zu kommen.“ Das klingt zwar immer noch weit besser als das längst zur Leer-Floskel verkommene „umstritten“, ist aber ein bestenfalls spekulativer Einstieg, die folgende Pseudo-Absolution erteilen zu dürfen: „Solches Misstrauen ist unberechtigt. Klinger war stets ehrlich und echt, in seiner Weise sogar naiv. Sein Schaffen ist organisch gewachsen aus einer originellen Begabung.“ Anneliese Hübscher legt nahe, dass es Friedrich Nietzsche mit seiner Verdammung Richard Wagners war, der sozusagen die Blaupause legte für derartige Sichten. Sie zitiert Thomas Mann als eine Art Entlastungszeugen: „Man kann sich nicht kleiner machen als man ist, man kann sich nicht anders machen; man macht, was man ist, und Kunst ist Wahrheit – die Wahrheit über den Künstler.“ Man muss wohl Thomas Mann sein, um es so knapp und prägnant auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich ist, wenn überhaupt Opfer, Max Klinger ein Opfer des wilden Ismen-Karussells, das sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für Jahrzehnte zu drehen begann.
Klinger wird mehr oder weniger erfolg- und wortreich zwischen Symbolismus, Impressionismus Naturalismus und Realismus hin und her geschoben, auch Verkörperung des Jugendstils ist ihm nachgesagt worden. Und gleich im Verbund mit einer schwungvollen Abwertung: „So vollzog Max Klinger (1857 – 1920) um die Jahrhundertwende – und auch danach – immer wieder eine Verarbeitung aller Traditionen und Einflüsse des 19. Jahrhunderts und ihre Verquickung mit Ideen und Formen jugendstiliger Prägung. Er war einer der höchstgeschätzten Künstler der Epoche. Vieles von dem, was er als Maler und Bildhauer geschaffen hat, ist für uns heute in seiner Pathetik, in seinem naturalistischen Symbolismus und in der letztlich manierierten Phantastik an die Grenze dessen getreten, was lange unter dem unsachlichen Begriff des Kitsches ebenso unsachgerecht zusammengestellt wurde.“ Das schrieb vor fast 50 Jahren ein Dr. Hans Müller im Sonderband „Jugendstil“ der Reihe „Die Schatzkammer“ des Leipziger Prisma-Verlages Zenner und Gürchott. Randbemerkung: Als ich im späten Herbst westdeutsche Antiquariate für den Buch-Nachlass meiner Mutter zu interessieren suchte, hatte ich mit der weitgehenden Vollständigkeit der Prisma-Sammlung meiner Eltern zu werben begonnen: niemand kannte diesen Verlag dort, warum auch?
Zu sehen ist im Buch eine Schwarzweiß-Abbildung der Klinger-Plastik „Phryne“. Da vermittelt der Reclam-Band eine sehr viel komplexere Vorstellung vom Schaffen Klingers. Als der am 4. Juli 1920 auf seinem Weinberg gestorben war, reiste zur Bestattung auch Käthe Kollwitz an. In ihr Tagebuch notierte sie unter dem 8. Juli: „An seinem Grab Reden von Leipziger und Dresdener Abgesandten. Als vierter sprach ich. Zu meiner Freude hatte ich keine Angst und Befangenheit. Drüben am Grab stand Kalckreuth, ich sprach auch zu ihm. Ich dankte Klinger ganz von Herzen, denn ich hab' ihm viel zu danken. Kurz vor dem Begräbnis ein schweres Unwetter. Auch an seinem Tode soll ein ebensolches gewesen sein. Der Karl sagte mir, als ich gesprochen hatte und zurücktrat: „Du bist ein ganzer Kerl.“ Diese Worte freuten mich sehr.“ Heute würden völlig bedeutungslose Frauen nach solchem Lob aus ihrer feministischen Unterhose springen und wie Furien über den Weinberg fegen. Käthe Kollwitz war nicht so und das war gut. In ihrer kurzen Rede sprach sie nicht nur für sich selbst: „Was fortriss, was wir liebten in diesen Blättern, war nicht die technische Meisterschaft. Der ungeheure Lebensdrang, die Energie des Ausdrucks waren es, was uns daran packte. Wir wussten: Max Klinger bleibt nicht an der Oberfläche der Dinge haften, er dringt in die dunkle Lebenstiefe.“
Georg Brandes hat Max Klinger vor der Ausstellung im Frühjahr 1878 persönlich kennengelernt, der er dann im Porträt nicht den korrekten Namen gab, den sie hatte: es war 52. Ausstellung der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin. Dort sah er „Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet“. Detailreich und liebevoll beschreibt der Däne Zeichnungen und Radierungen, erinnert an den „kleinen Kreis junger Künstler“, die im fünften Stock eines Hauses der Hohenzollernstraße ihr Atelier hatten mit freier Sicht auf das Schöneberger Ufer. „Sie huldigten der Politik der Pariser Commune“, schrieb er, und: „Sie trugen ihren Benjamin auf den Händen und schworen, dass er den Ruhm aller jetzt lebenden deutschen Künstler in Schatten stellen werde.“ Brandes verheimlicht an keiner Stelle, wo er Grenzen sieht: „... überhaupt besitzt Klinger eine gleichmäßigere Stärke in der Landschaft als in den Figuren“. Oder: „Er gehört nicht zu denen, die schrittweise lernen; er geht im Sprung voran oder er behält seine Fehler.“ Ein Fazit: „Ja, Klinger ist Dichter, ein naturanbetender, unberechenbar phantastischer Poet, der mit der Radiernadel und dem Pinsel dichtet.“ „Klinger ist ein ausgezeichneter Beobachter, der treu nach der Wirklichkeit studiert, der Mann vollendeter Beobachtung.“ Für Georg Brandes gilt das ähnlich.
Ihm schrieb Klinger am 13. Mai 1884: „Ich habe in einer Villa bei Berlin ein Vestibul auszumalen. Mitten in der Arbeit stellt sich heraus, dass das Gebäude total vom Schwamm angesteckt ist, und nun wird das Haus fast halb abgerissen und doch musste ich weiterarbeiten – freilich wie!“ Es handelte sich um den ersten großen Auftrag, der Klinger lange beschäftigte: Malereien für die Villa Albers in Steglitz, damals noch bei Berlin. Johannes Brahms schrieb am 19. Februar 1885 an Fritz Simrock: „Um die Bekanntschaft Max Klingers beneide ich Sie, denn er muss, nach seinen Arbeiten und Erfindungen, ein höchst interessanter Mensch und Künstler sein.“. Im Lebensdaten-Anhang des Reclam-Bandes steht bereits für das Jahr 1880 die Bekanntschaft mit Johannes Brahms, der Brief spräche dagegen. Klinger besucht Brahms in Wien auf dem Weg nach Griechenland 1894, der ihm 1896 vier Lieder widmet. 1904 kauft Klinger Marmor in Italien für sein Brahms-Denkmal, an dem er bis 1909 arbeitet. Bleibt, siehe oben, noch etwas zum Fortschritt in Klingers Sicht nachzutragen: „Fortschritt ist nur der faule, platte Behelf für empfindungs- und gedankenleere Leute, die Gott, oder eine überlegene Kraft nicht sehen können und wollen.“ Dem hätte ich, bei größer Hochachtung für den Mann, der das glaubt, schwungvoll und wortreich widersprochen: einst. Am Tag, da Max Klinger nach Unfall und Schlaganfall 1919 im Weinberg starb vor 100 Jahren, sehe ich es ruhiger.