Heinrich Berl 1947

Eigentlich hieß er Heinrich Lott. Wikipedia nennt eine Mutter Josefine und eine Schwester Irmgard, ein Vater wird nicht erwähnt. Geboren am 2. September 1896 in Baden-Baden, dortselbst auch gestorben am 3. April 1953. Verheiratet war Lott, der sich ab 1919 den Namen Berl gab, mit Frieda, geborene Kassewitz, sie war wenige Tage älter als er (26. August 1896) und starb vor ihrem Mann am 1. April 1950 ebenfalls in Baden-Baden. Das Paar hatte eine gemeinsame Tochter Ruth, lebte von 1933 bis 1950 in der Schlossstraße 8. Ein Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus in Baden-Baden dokumentiert den Antrag der Jüdin Frieda Berl auf Ausstellung eines Reisepasses Ende 1938. Wir lesen dort: „Baden-Baden, 28. Dezember 1938; An Polizeidirektion Baden-Baden. Ich melde hiermit meine Absicht an, aus Deutschland auszuwandern. Ich bin jüdischer Abstammung und seit 1921 mit dem rein arischen Schriftsteller Heinrich Berl (hier) verheiratet. Bisher habe ich folgendes eingeleitet: Meine Verwandten in Denver-Colorado, USA, haben mir ein Affidavit in Aussicht gestellt. Ferner haben sich meine Verwandten in Zürich bereit erklärt, eine Kaution für einen vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz zur Verfügung zu stellen. Ich füge hier den Lebenslauf und drei Passbilder bei und bitte um freundliche Benachrichtigung, welche Formalitäten noch zu erfüllen sind. Meinen Reisepass habe ich an der Passstelle abgeliefert.“

Was auch immer im Detail dazu führte: das deutsch-jüdische Paar überlebte Nationalsozialismus und Holocaust und erlebte noch die frühen Jahre im Südwesten Deutschlands in der französischen Besatzungszone. In Otto Flakes Autobiographie „Es wird Abend“ (Fischer Taschenbuch 2272) findet sich dies: „Heinrich Berl, der die Gesellschaft für geistigen Wiederaufbau in Karlsruhe hatte aufgeben müssen, weil mit einer Jüdin verheiratet, und nach Baden-Baden gezogen, wandte sich später dem Thema zu. Seine Frau war die Tochter eines Viehhändlers, die Nazis haben das der empörten Bevölkerung durch ein Flugblatt mitgeteilt.“ Etwas weiter das: „Berl hielt Vorträge im Kurhaus, über Baden-Baden im neunzehnten Jahrhundert. Er las Briefe der Queen Victoria vor und sprach vom Preince of Wales, vom Dök of York, zur Erheiterung der Hörer. In einem der Vorträge behandelte er mich, Hauptmann saß neben mir.“ Von Flake erfahre ich auch, dass Heinrich Berl angestellter Lektor wurde im Verlag von Hans Bühler junior. Flake erwähnt seinen Eintritt in eine Kommission, die im Auftrag der Franzosen Naziliteratur aus Buchhandlungen und Bibliotheken entfernen sollte, ihre gehörte auch Heinrich Berl an. Diese Kommission wandelte sich dann in einen „Kulturrat“ um. Das weiß auch Wikipedia, es mangelt dort aber an weiter führenden, vertiefenden Quellen. Es gab Differenzen zwischen Flake und Berl: „Berl verlangte Vollmachten als Sekretär.“

Von Flake erfahre ich auch das Ende: „An Ostern starb Heinrich Berl, nach einem bösen Krebsleiden.“ Da war ich fünf Wochen alt, das Thema Sterben natürlich für mich nicht gegeben. Immerhin: 1953 gehörte Heinrich Berls unscheinbare Broschüre „Die geistige Situation des deutschen Schriftstellers“ schon einige Jahre zum Bestand in den Bücherregalen meiner Eltern. Wo sie damals (hinter Glas) stand, weiß ich natürlich nicht. Schmal wie sie war, wäre sie von hinten auch kaum zu identifizieren gewesen. Verlegt wurde die Broschüre im Verlag Hans Bühler junior Baden Baden 1947, die Verlagswerbung hinten nennt weitere Titel von Berl. Darunter das „Buch der Gespräche“ und „Napoleon III. Demokratie und Diktatur“. „Paris und Baden-Baden im Neunzehnten Jahrhundert“ erschien 1946, ein Jahr zuvor. Wie eine Broschüre aus der französischen Zone in die sowjetische gelangte 1947 und dort in die Hände meines Vaters, der seine Bücher noch nicht mit dem kleinen Stempel versah, den ich heute auch wieder benutze, sondern ganz einfach „Osw. Ullrich“ hineinschrieb mit Bleistift oder dem von ihm geliebten Kopierstift, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht mehr, bei welcher Gelegenheit er mir das gelblich-bräunliche Heft schenkte. Es wanderte seither in meinen Beständen von da noch dort, denn ich hatte nie etwas von Heinrich Berl gehört, obwohl ich auch in jungen Jahren schon sehr viele Schriftstellern-Namen kannte.

Wer mir bis hier gefolgt ist, hat mich ertappt: ich kann keinen tief seriösen Grund nennen, warum ich mich ausgerechnet jetzt mit dem völlig vergessenen Heinrich Berl befasse und mich dabei auch noch auf eine Broschüre beschränke, die man bestenfalls als Zeitdokument noch lesen kann. Eine Enttäuschung, die ich mir beim Recherchieren selbst bereitete, war der erfolglose Versuch, den Beziehungen Berls zu Alfred Döblin auf die Spur zu kommen. Wikipedia hält ohne Kommentar, ohne Quellenhinweis schlicht fest: „Die Familie verbrachte viel Zeit mit Alfred Döblin.“ Von den vier Döblin-Biographien, die ich besitze, kennt überhaupt nur eine den Namen Berl, es ist die von Gabriele Sander verfasste (Reclam Stuttgart). Sie nennt Berl im Zusammenhang mit Döblins 70. Geburtstag im August 1948 einen „neu gewonnenen“ Freund. Tatsächlich taucht Dr. Alfred Döblin gleich im ersten Absatz der Broschüre namentlich auf (danach nicht wieder), was bemerkenswert insofern ist, als sonst nur die Namen Goethe, Schiller, Luther, Grillparzer aufgerufen werden, dazu ein Franzose namens Prevost-Paradol. Letzterer war Berl vermutlich vertraut als kämpferischer Gegner Napoleons III., der sich am 20. Juli 1870 in Washington das Leben nahm, wo er als Gesandter Frankreichs tätig war. Angeblich war die Nachricht vom eben begonnenen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich der Auslöser, ich muss es hier im Konjunktiv stehen lassen.

Dass der DDR-Biograph Roland Links, sehr guter Kenner Döblins, Heinrich Berl aus ideologischen Gründen unerwähnt ließ (falls ich nichts übersah), scheint nachvollziehbar. Schriften wie „Der Kampf gegen das rote Berlin oder Berlin eine Unterwelts-Residenz“ oder „Die Männerbewegung: ein antifeministisches Manifest“ erwecken heute allein vom Titel her forcierte Neugier. Ob diese berechtigt ist, vermag ich nicht zu sagen, will es auch keinesfalls ergründen. 1947, also vor 75 Jahren mittlerweile, am 29. und 30. April, erlebte Baden-Baden die Gründungsversammlung des Verbandes Südwestdeutscher Autoren. Heinrich Berl versah seine dort gehaltene Rede im Mai mit einem Vorwort, der Verlag Hans Bühler junior druckte beides zusammen auf 24 Seiten holzhaltigen Papiers, das bis heute erstaunlich gut überlebte: weder ist es nennenswert nachgedunkelt wie vieles aus der Zeit, noch neigen die Seiten zum Zerbröseln wie manches aus der Zeit. Berl ordnete sich selbst der so genannten inneren Emigration zu, ausdrücklich aber mit dem festen Vorsatz, der „äußeren“ Emigration versöhnlich aufgeschlossen und möglichst ohne Vorurteile entgegenzutreten. Das war 1947 eine durchaus substantielle Erklärung, denn offene Feindseligkeit beider Seiten wurde damals gern auch öffentlich ausgetragen. Über die Erfahrungen emigrierter Schriftsteller in Westdeutschland empfehle ich „Und das wurde nicht ihr Staat“ von Peter Mertz (Verlag C.H. Beck).

„Nur Narren können glauben, mit einer grundsätzlich oppositionellen Haltung an dem Tatbestand etwas ändern zu können“, schreibt Berl in seinem Vorwort bezogen auf die Besatzung Deutschlands, hier speziell die französische Besatzung. Dass das passgerecht zum Verhalten vieler Deutscher in den Jahren der Diktatur formuliert ist, sei nur angemerkt. Außerdem entlastete es ziemlich sicher zusätzlich ein latent schlechtes Gewissen, wenn es auf eine nur aus Narren bestehende Opposition schauen durfte. Berl distanzierte sich noch im Vorwort auch von einer Begriffsbestimmung des Deutschen in den Jahren bis 1945, die „eine völlig Verzerrung unseres Wesens darstellt. Deutsch ist der Universalismus eines Goethe, aber keineswegs der Nationalismus eines Wagner. Dass im Rahmen des Universalismus das Nationale ein konstitutives Element ist, ist selbstverständlich. Der Nationalismus, im Nationalsozialismus absolut gesetzt, ist ein groteskes Zerrbild des Deutschen, ein absolut Undeutsches.“ So klar und unzweideutig liest sich danach der Text der eigentlichen Rede nicht mehr. Berl wird metaphorisch: Abgründe, apokalyptische Landschaften, Wände, Schrei der Kreatur. Da könnte man auch konkreter sein, sozial konkreter, politisch konkreter. Leichenberge sind nach diesem Krieg leider sehr konkret gewesen, nichts, worüber leidende Kreaturen stolperten. Alliierte Technik schob Leichenberge in KZ in Gruben.

„Unsere erste Aufgabe ist es, den Bruch zwischen der inneren und der äußeren Emigration auszuheilen. Wir müssen den Beweis antreten, dass wir einen ebenso schweren und vielleicht noch gefährlicheren Kampf gegen die Verführer des deutschen Volkes geführt haben. Unsere Gedanken waren vermummt mit historischen Kostümen, unsere Gesichter verdeckt mit geheimnisvollen Masken.“ Ein bedeutenderer Autor hätte die Masken nicht auch noch geheimnisvoll genannt, dichterische Ambitionen sind bei der Umschreibung der Situation der inneren Emigration schlicht überflüssig, der Wunsch nach Entlastung ist nachvollziehbar. Aus heutiger Sicht verblüffend, dass auch nach 1990 eine mindestens strukturell ähnliche Lagebeschreibung nach Geltung strebte: wer die DDR verlassen hatte, sah seine Rolle ganz anders als alle, die geblieben waren und dennoch kaum SED-Barden genannt werden dürfen. Die es natürlich auch gab. Ein allerdings für die Bewertung der gern zweite deutsche Diktatur genannten DDR-Zeit geradezu höchst provokantes Zitat entnahm Heinrich Berl 1947 dem erwähnten Lucien-Anatole Prévost-Paradol (8. August 1829 – 20. Juli 1870): „Es lebe die Bedrückung, denn sie verhilft dem Gedanken, alle seine Mittel zu entfalten und verleiht ihm seinen ganzen Wert ...“. DDR-Erfahrung lenkt angesichts solcher Überlegungen sofort zu einem gewissen Lenin und dessen Gedanken zum Thema Sklavensprache.

Diesem Thema kann man selbstredend nicht im Vorbeigehen gerecht werden, mir fällt aber, weil ich das Buch gerade lese, der Autor Dieter Kühn ein, der seinen Ehrgeiz, auch einmal über Goethe zu schreiben, mit dem zweiten Ehrgeiz kombinierte, alle Mittel zu entfalten, über die er verfügte, seinen Gedanken Wert zu verleihen. Kühn tat es ohne Not, sprich ohne Notwendigkeit, das Buch missriet, wie ich meine, folgerichtig. Wer immer in den zurückliegenden Jahren irgendetwas im jetzigen Deutschland mit der DDR verglich im Sinne von „fast wieder wie in der DDR“, erntete wütende Proteste, die beinahe chorisch in Erscheinung traten und fast ausschließlich aus dem Altbundesgebiet kamen. Natürlich durfte man im „Westen“ immer alles sagen, heißt Paragraph 1 des dortigen Selbstbildes. Die Frage wäre, ob das gut für Kunst und Literatur war und ist oder gleichgültig oder gar schlecht. Ein Zwang zur Mittelentfaltung im obigen Sinne entsteht ja heute allenfalls aus dem Umstand, dass immer schon alles gesagt ist, dass die Literatur, das Theater, der Film, Problemlagen betreffend, immer zu spät kommen und das wird nicht besser. Beliebige durchaus wichtige Themen sind nach zwanzig Talk-Shows zu später Stunde restlos ausgeschöpft, ein Plus an Kunst bringt kein Plus für das Publikum. Die Liebe aller Medien zu Künstlern aller Art, die aus Diktaturen agieren, spricht eine höchst verräterische Sprache und merkt es wohl kaum.

„Unter Umständen war man gezwungen, einen hohen Würdenträger der Partei als Deckungsschild zu nehmen. Unter Umständen war man gezwungen, ein Lippenbekenntnis abzulegen. Entscheidend ist allein die lautere Absicht.“ Bliebe die Frage, woher man den hohen Würdenträger im Bedarfsfall rasch genug bekam. Gemeinsam in Zuchthaus oder KZ konnte man kaum gesessen haben. „Wer im Konzentrationslager saß, war unschädlich gemacht. Wer sich hinter einem komplizierten System verbarg, konnte Widerstand leisten.“ Worin aber bestand dann dieser Widerstand? Hustete man lauter als sonst, wenn im Volksempfänger eine Führerrede übertragen wurde? Ignorierte man die Ausstellung „Entartete Kunst“, wenn sie in die eigene Stadt kam? Mied man Plünderungen in den Wohnungen deportierter Juden? „Heute ist Deutschland ein besetztes Land. Der Fall liegt viel, viel komplizierter, als er für die von den Deutschen besetzten Länder gelegen hat.“ Was aber war dort im Umkehrschluss einfacher? Dass die Kollaborateure dort den Besatzern halfen, die versteckten Juden zu finden und vor die Gewehre der Einsatzgruppen zu treiben wie es jene taten, die heute als „Helden der Ukraine“ verehrt werden von dubiosen Botschaftern voller Amtsanmaßung? Heinrich Berl liefert, anders lässt es sich kaum deuten, bequeme Ausreden, die alle amtlichen „Persilscheine“ zwanglos ergänzen vor dem eigenen Gewissen. Das Wort Schuld kommt ihm nicht unter.

Ist es nicht seltsam, wenn ein Deutscher von den Deutschen spricht, die Länder besetzt haben? Dafür räumt er ein, dass es nach diesem Krieg und nach diesen Diktatur-Jahren einem tatsächlichen Hunger entspricht, „der durch die Kultur der anderen Völker gestillt wird.“ Wie rasch aus gestilltem Hunger körperliche und geistige Verfettung werden kann, durften die westlichen Besatzungszonen ausführlicher genießen. Was nur den Anschein von Kulturexport hatte, war rasch purer Kultur-Imperialismus. Zum Abspielen allen amerikanischen Materials mussten später eigens mehrere private Fernsehsender gegründet werden, in den Theatern spielte man nicht nur Eugene O'Neill oder Arthur Miller, Thornton Wilder oder Tennessee Williams, sondern auch den letzten unerträglichen Schrott, man muss nur Theaterkritiken der fünfziger und sechziger Jahre lesen. 1947 beglückte die „Soap Opera“ noch nicht die Nachmittage und Vorabende, man wurde noch nicht von eingespielten Lachkonserven gefoltert. „Wir müssen uns damit abfinden, dass die Besetzung eine lange sein wird“, tröste Heinrich Berl seine Hörer (und Leser). Seinen Versuch, auf zwölf Druckzeilen so etwas wie eine „Philosophie der Freiheit“ zu entwickeln, übergehe ich, denn was sollte ich antworten auf die Behauptung: „Es ist die Tat des deutschen Idealismus, die Frage zwischen Freiheit und Norm geklärt zu haben.“ Als gäbe es auf diesem Felde überhaupt etwas wie Klärung.

Wer ernsthaft annimmt, Schiller lasse „schon in seinen „Räubern“ Karl Moor am Schluss erkennen, dass zwei Menschen wie er den ganzen Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden“, hat irgendwo nicht aufgepasst: nicht einmal Hitler und Stalin Seite an Seite konnten den Bau der sittlichen Welt zugrunde richten und gegen diese Praktiker der Weltgeschichte waren Franz und Karl nun wirklich grünschnäblige Waisenknaben. „Wenn wir also die Freiheit des Geistes fordern, so wollen wir nicht Anarchie. Wir wollen nicht sagen, was wir wollen, sondern was wir müssen.“ Berl ist klar, dass er missverstanden werden kann. Deshalb ergänzt er: „Es kommt eben in allen Fällen darauf an, dass die Freiheit der Meinung nicht gewissenlos missbraucht wird.“ Wer aber soll darüber wachen, mit welcher Legitimation und welchen Vollmachten? „Demokratie ist die selbstverständlichste Voraussetzung unserer geistigen Haltung. Sie fordert nicht Glauben von uns, wie die Diktatur, sondern selbständiges Denken.“ Nicht weniger als dreimal nennt Berl den Österreicher Grillparzer (Schiller zweimal, Goethe und Luther je einmal), der das pessimistische Wort geprägt habe: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Und würde am liebsten umgehend aufzeigen, wie ein Rückweg zum vermeintlichen Ausgangspunkt aussehen könnte. Er geht dann aber lieber zu den mehr praktischen Seiten von „Schriftsteller 1947“ über.

Der will natürlich gedruckt werden, ist aber damit konfrontiert, dass Papierkontingentierung gilt. Der erlebt, dass Neuausgaben von Klassikern auf den Buchmarkt gelangen in großem Maße, sieht „das beinahe lawinenhaft anschwellende Erscheinen von Broschüren und Zeitschriften“. „Der Buchhandel verlangt nach Neuerscheinungen, denn das Publikum hungert.“ Berl verteidigt die Broschüre, legt er ja eben gerade selbst wieder eine vor: „Ihre Wirkung auf den ohnehin gehetzten Menschen ist die sicherste. Er hat wenig Zeit für dicke Bücher.“ Der Mensch? Der Mensch ist weder gehetzt noch hat er mehr oder weniger Zeit. Der Mensch ist allenfalls Gegenstand der philosophischen Anthropologie und dort hatte ihn für viele Jahre Arnold Gehlen fest im Griff. Schriftsteller dürfen da schon deutlich konkreter werden. „Der Schriftsteller braucht einige Jahre Zeit, bis er genügend Abstand und Muße hat, an ein großes Buch zu denken.“ Abstand eher als Muße, würde ich meinen. Berl will Optimismus verbreiten: „Man wird noch lange keine Wohnung einrichten können, weil keine Häuser gebaut und keine Möbel hergestellt werden. Man wird sich nur notdürftig mit Kleidern und Schuhen versehen können. Aber irgend einen stillen Winkel für ein gutes Buch wird man immer finden. Das Buch wird auch noch für lange hinaus eines des wenigen Dinge sein, die sich Menschen schenken können.“ Das bestätige ich für meine Eltern nachdrücklich.

Berl schlägt eine nicht näher erläuterte praktische Beteiligung am Absatz der Bücher vor. „Heute müssen wir die Möglichkeit haben, die geistige Wirkung unserer Bücher zu beobachten und lenkend einzugreifen.“ Sollte das wirklich heißen, der Schriftsteller habe seinen Lesern seine Lesart des eigenen Werkes zu erklären? Wohl kaum. „Was noch fehlt, ist eine dokumentarische Reihe, aus der sich die Elemente zu einer Pathographie ergeben. Nur wenn wir die Verbrechen aus der Erkrankung der deutschen Seele – aus ihrem Massenwahn – restlos erhellen können, wird das letzte Wort zu sprechen sein.“ Was für eine völlig absurde, völlig an der Realität mindestens der Jahre von 1918 bis 1945 vorbeigehende Vorstellung: die deutsche Seele erkrankte an Massenwahn und wurde so verbrecherisch. Ein letztes Wort soll aber möglichst bald gesprochen werden. Auch das verrät ein gar nicht sonderlich maskiertes Gewissen. Deutlicher wird Berl beim Blick auf das Schaffen der „äußeren“ Emigration. „Auch hier wird man ausscheiden müssen, was aus dem bloßen Ressentiment geschrieben ist. So begreiflich dieses Ressentiment im einzelnen Fall sein mag, so müssen wir auch hier den objektiven Wert als oberstes Maß betrachten.“ Dass es diesen Wert gibt, ist sich Berl also sicher und konstituiert damit schon wieder eine Form von Zensur. Heinrich Berl setzt seine Hoffnungen in ein Christentum, das er sich auch auf seltsamste Weise zurechtlegt.

„... das Christentum hat als letztes Bollwerk standgehalten und seine geistige Tradition ist unerschüttert. Hier steht zu hoffen, dass die christliche Einheitsfront bleibt und nicht wieder eine konfessionelle Aufspaltung erfolgt.“ Wer je Ordensschwestern sah in einer Dokumentation, zum Glück oder leider gibt es nicht nur Fotos, sondern eben auch Film-Bilder, die geistig Behinderte in die Gaskammern der Aktion T 4 führten, wird solchen Sätzen fassungslos gegenüberstehen. Was war mit den „Deutschen Christen“, von welcher Einheitsfront, bitteschön, ist die Rede? „Auch der Amerikanismus dringt auf dem Kontinent vor. Allzu lange hat Europa den hochmütigen Standpunkt vertreten, dass Amerika reines Kolonialland war.“ Auf einmal Europa? Hier ist Deutschland, um das es doch die ganze Zeit ging, nett eingebettet in ein Versagen, das dann schon kein nationales mehr war. Ist das im Frühjahr 1947 allen Ernstes eine Aussage oder soll nur das eigene Lob der Franzosen als Besatzer vorbereitet werden, mit dem Heinrich Berl seine Rede schloss? Demzufolge hier im Südwesten literarisch und künstlerisch „am meisten geschieht“? „Wir müssen das Erbe unserer jüngsten Vergangenheit überwinden, müssen auf unsere ältere Vergangenheit zurückgehen … Wir wollen uns bescheiden und froh sein, wenn die Welt den guten Willen zeigt, uns nach und nach wieder in das große geistige Gespräch einzubeziehen.“ Wir kennen den Geschichtsverlauf seither.


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