Arthur Eloesser: Klopstock

Friedrich Gottlieb Klopstock, dessen 299. Geburtstag wir heute begehen könnten, wenn wir es wollten, kommt in Arthur Eloessers erstem Buch ebenso vor wie in seinem letzten. Zwischen beiden vergingen 38 Jahre, in beiden spielt Klopstock eine Nebenrolle. Die ist so klein, dass sie für einen literaturhistorischen Nebenrollen-Oscar nicht in Frage kommt, den es ohnehin nirgendwo zu gewinnen gibt. Aber immerhin: Klopstock erscheint auch in drei der letzten Publikationen Eloessers in der traditionsreichen Vossischen Zeitung, die dritte, gedruckt am 25. März 1934, ist überhaupt seine allerletzte in diesem Blatt, das am 31. März 1934 endgültig und für immer sein Erscheinen einstellte nach 300 und etwas mehr Jahren. Die Zählweisen der Zeitungsgeschichte können hier außer Betracht bleiben, sie beginnen mit 1704 oder auch mit 1721. Auf jeden Fall erschien sie schon, als Klopstock noch nicht geboren war, und immer noch, als er starb und als sein 200. Geburtstag gefeiert wurde, war sie trotz vielfältigster Konkurrenz in Berlin und Deutschland ein Vorzeigeblatt, für das fast alle schrieben, die in den Jahren nach dem Krieg Rang und Namen hatten. Den Geburtstagsbeitrag von 1924 schrieb aber nicht Arthur Eloesser, sondern Rudolf Unger, dazumal Professor an der Universität Königsberg, nachzulesen in der Morgenausgabe vom 1. Juli.

„Alle unsere Klassiker sind schnell berühmt geworden, … Keiner von ihnen ist wie Klopstock empfangen worden, keinem von ihnen ist eine so respektvolle Verehrung der Persönlichkeit treu geblieben, die sich aus einem einmaligen alt gewordenen Verdienst erhielt, und die eine religiöse Stimmung oder Weihe nie verlor.“ Das stammt nun von Arthur Eloesser und ist weder in seinem ersten noch in seinem letzten Buch zu finden. Es steht auf Seite 127 seines Hauptwerkes, der zweibändigen Geschichte „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“. Dort finden sich ein ganzes Klopstock-Kapitel im ersten Band und eine recht lange Reihe Einzel-Erwähnungen auch in anderen Kapiteln und im zweiten Band. Ein selbständige, ausschließlich Klopstock gewidmete Arbeit Eloessers konnte bisher nicht aufgefunden werden, es ist allerdings auf die noch immer nicht abgeschlossene Ermittlung seiner zahlreichen verstreuten Einzeltexte zu verweisen, Funde bleiben immer möglich. Im ersten Buch 1898 hieß es: „Es war nicht der „Messias“, der zuerst eine unmittelbare Wirkung auf ein großes Publikum hatte. Die überschwängliche Diktion Klopstocks mit ihren kühnen dem gemeinen Sprachgefühl noch fremden Neubildungen, die ungewohnte Form des Hexameters, waren zunächst nur einer fortgeschrittenen litterarischen Gemeinde verständlich.“

Da galt Arthur Eloessers Aufmerksamkeit noch der Geschichte des bürgerlichen Dramas im 18. und 19. Jahrhundert, den Dramatiker Klopstock aber klammerte er komplett aus. Nicht aus Ignoranz, eher sicher aus dem Wissen heraus, dass Klopstock wohl einige Werke dramatischen Charakters hinterlassen hat, die aber auch bei gutem Willen kaum als Dramen, gar Tragödien anzusehen waren, von ihrer Spielbarkeit auf einer Bühne nicht zu reden. Immerhin hat Eloesser später ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in jener Zeit Dramen eher gelesen als gesehen wurden, Klopstock befand sich demnach als nicht gespielter Dramatiker in einer eher normalen als besonders bedauerlichen Situation. Jene Werke, die Eloesser in seiner Literaturgeschichte dann natürlich behandelt, wecken allein aus der Tatsache heraus, dass Klopstock selbst sie „Bardiete“ nannte, regelmäßig Kurzzeit-Neugier, denn unter einem Bardiet kann sich allenfalls der Experte etwas vorstellen. Falls er vorher auf die Dienste einer Suchmaschine oder, als haptisch veranlagt, zu einem Lexikon gegriffen hat. Es hat etwas mit dem, wenn auch nicht folgenlosen, so doch weithin sinnlosen Versuch Klopstocks zu tun, aus einer falsch verstandenen deutschen Frühgeschichte eine Bardendichtung zu destillieren und diese für sein 18. Jahrhundert mit eigenen Musterstücken zu bereichern: Bardiete für Bühnen.

Klopstock erscheint bereits im allerersten Satz der Literaturgeschichte, im Vorwort, das Eloesser im Juli 1929 verfasste. „Die Darstellungen unserer neueren Literatur pflegten mit der Erscheinung Klopstocks als des ersten nationalen Dichters einzusetzen, mit dem Reformwerk Lessings als des ersten nationalen Führers, dem allenfalls Gottsched als pedantischer Ordner und Schulmeister vorangeschickt wurde.“ Das steht deshalb so am Anfang, weil der Autor sich dafür entschieden hat, mit dem Barock zu beginnen, wie schon sein Buchtitel verrät. Seine eigenen frühen Aussagen zu Klopstock hat er auf jeden Fall präsent und so wiederholt er, noch ehe er das eigentliche Klopstock-Kapitel beginnt, eine ihm wichtige Aussage von 1898: „Es ist nicht Klopstocks Messias mit der noch ungewohnten Form des Hexameters, mit der über das Lutherdeutsch hinausschwingenden Empfindsamkeit und Übersinnlichkeit, an dem die Masse des erst entstehenden Publikums lesen lernt, es ist der sanfte Zuspruch des Gellertschen Traktats, der die alten festen kerngläubigen Erbauungsschriften wie der Arndt und Scrivers ergänzt.“ Die Rede ist hier von Johann Arndt (27. Dezember 1555 – 11. Mai 1621) und von Christian Scriver (2. Januar 1629 – 5. April 1693). Scriver starb in Quedlinburg, wo Klopstock gut dreißig Jahre später, am 2. Juli 1724, geboren wurde.

„Seit Klopstock sind die Deutschen wieder das lyrische, das singende Volk vor allen Europas; das Gedicht ist unsere größte und unvergleichliche Leistung. Klopstock hat die lyrische Stimmung, die nach dem 17. Jahrhundert verschüttet schien, zum Durchbruch gebracht, als die wärmere Welle des Pietismus die Aufklärung befruchtete. Seine Poesie war noch gesellig, er nahm alle seine Freunde und Freundinnen, Genossen der Unsterblichkeit, an die Hand, um Gott mit ihnen zu danken, um die Erfindung seiner Schöpfung noch einmal zu denken. Die Gefahr lag bald nahe, dass nichts mehr gedacht, dass auch vor lauter Empfindung, wie Schiller ihm nachsagt, nichts mehr empfunden wurde. Die christliche Symbolik einer von aller Mystik gereinigten Vernunft hielt schon im Messias nicht stand; nach dem ersten schönen Aufschäumen und Aufleuchten mangelte es seiner Lyrik an körperlichen Widerständen, an Schattengebung in so viel Licht; sie spielte auf der einen Fläche der Unendlichkeit, ohne einen Raum zu erfüllen.“ Das ist ein Vorgriff auf die Wirkungen Klopstocks, wie Arthur Eloesser sie sieht, gleich einen der zeitgenössischen Kritiker einbeziehend. Schillers Verhältnis zu Klopstock wird hier ein eigenes Thema sein und bleibt deshalb unerörtert. Ebenso Eloessers ausführliche Darstellung von Goethes Sicht auf Klopstock, die er breit zitierend belegt.

„Die Bardenpoesie gab seiner Schwärmerei, seiner Unveränderlichkeit wenigstens die scheinbare Möglichkeit, eine Rolle zu spielen, sich zu verwandeln, gab seiner vaterländischen Gesinnung das Gegenständliche einer Vergangenheit, eines Kultes, einer zweiten Art von Frömmigkeit und Feierlichkeit. Sie gab ihm zu dem Spielplatz Kostüm und Requisite. Der Aufzug mit seinen christlichen Freunden war etwas steif geworden; sie standen da anbetend und singend in einer Reihe wie auf einem alten Bilde ohne Hintergrund. Nun verwandelte er sie, verwandelten sie sich alle in alte Helden und Sänger, sie trugen Skuldis Stab, schwangen Wurdis Dolch, labten sich an Mimers Quell, schmückten sich mit Eichenkränzen und ließen sich unter Eichen begraben.“ Klopstock erfand sich die Helden seiner germanischen Barden-Mythologie teilweise selbst, was Eloesser mit seinem ironischen Grundton quittiert. Ohne Ironie, jedenfalls weitgehend ohne, behandelt er das Werk, das Klopstock selbst und auch die meisten seiner Anhänger, die sich tatsächlich sehr oft wie Jünger gebärdeten, als Hauptwerk, als das Hauptwerk schlechthin, ansahen, das Epos „Der Messias“. Wobei letztlich nur die ersten drei der am Ende zwanzig Gesänge die übergroße Wirkung hatten, die Klopstock auf Dauer in der Literaturgeschichte verankerten, ihn zum Klassiker machten.

„Kein Dichter ist von solcher Zustimmung getragen worden, es war Allerseelen um ihn, weit über seine eigene Generation hinaus.“ So sagt es Eloesser. Und zum „Messias“ resümierend: „Der Messias wurde zu einem Ehrengrab in unserer Literaturgeschichte, unter hochgeschichteten Lorbeerkränzen so verfallen, dass wir ein Inschrift kaum noch entziffern können. … Eine offenbarte Religion kann weder ein Epos noch ein Drama hervorbringen“. Damit ist auch gesagt, womit und worin Klopstock mit seinem „Messias“ scheiterte, den in kompletter Länge wahrscheinlich nur ganz eingefleischte Germanisten je gelesen haben. Goethe kannte immerhin noch die ersten zehn Gesänge, von denen er bekannte, sie mit Rührung gelesen zu haben. Eloesser weiter: „Da die Handlung des Gedichts auf dem Schauplatz der Ewigkeit spielt, so geschieht eigentlich gar nichts, sogar die Kreuzigung geht ziemlich unmerkbar vorüber.“ „Man erkennt den großen Musiker an der Fähigkeit, jubeln zu können. Das wird auch vom Dichter gelten, nur dass er durch Dutzende von Gesängen nicht jubeln kann, und auch nicht weinen. Vor allem kann Klopstock nicht erzählen, der sich zwischen Superlativen schwingt und nie auf einem Positiv ruht. … der Messias musste von innen vertrocknen, weil ein reifer Mann immer noch als ein Zwanzigjähriger weiterdichtete.“

Wer in Arthur Eloessers Auslassungen zu Friedrich Gottlieb Klopstock das vermisst, was einen heutigen Feuilletonisten am ehesten noch von seiner Fußbodenheizung lockt, Details zum Liebesleben, heimlicher Antisemitismus, etwas Frauenfeindlichkeit tut es notfalls auch, der kann zur Sache auf Eloesser selbst verwiesen werden: „Der alte Dichter, der eigentlich nicht alterte, der immer nur stehenblieb, beschäftigte sich mehr und mehr mit Belanglosigkeiten, die ihm wichtig genug schienen. Sein Dichterruhm hatte ihn so hoch getragen, dass er kein bestätigendes Echo mehr brauchte, wie er immer nur auf sich selbst gehört hatte. Seine Freunde, die seine Verehrer sein mussten, rühmen die Geradheit und Unabhängigkeit des Charakters, die vornehme Arglosigkeit, die schlichte Würde im Umgang, die doch familiäre Annäherung nicht abschreckte. Seine Freunde wussten immer nur zu bestätigen, dass er der gleiche blieb; seit der Enttäuschung, die Bodmer in Zürich von seinem normalen Jünglings- und Erdenwesen empfangen, gab es keine Situation in seinem Leben, die den Stoff auch nur zur geringsten Anekdote geliefert hätte.“ Immer wieder fällt das Wort vom „ewigen Jüngling“, immer wieder gibt es den Hinweis, der Messias-Dichter habe weder Zweifel noch Skrupel empfunden, auch nie unter Widersprüchen und Gegensätzen gelitten.

Klopstock als Vergleichsgröße wird damit zum unausweichlichen Thema, das hier allerdings auch nicht ausgeführt wird. Immerhin, mit etwas einer Anekdote Ähnlichem hat Eloesser seine eigene These kurzzeitig außer Kraft gesetzt: der Reaktion Goethes auf „Vater Klopstocks“ Ermahnung, es in Weimar doch nicht zu wild zu treiben mit dem jungen Herzog: „Als Klopstock nach vielem geschäftigen Geraune und Hörensagen gegen die Weimarer Mätressenwirtschaft ein Veto schleuderte, wurde der verehrte Mann von dem Gescholtenen sehr energisch und mit einer Grobheit abgefertigt, von der er als Briefschreiber nur seltenen Gebrauch zu machen pflegte.“ Klopstock hatte, auch das sagt Eloesser sehr klar, in einem gewichtigen Punkt Goethe etwas voraus: „Klopstock blieb allein durch seinen Messias viel länger als Goethe ein populärer Dichter, ein Sprecher und Sänger seiner Generation, weil er keine Entwicklung hatte.“ Es hielt tatsächlich an bis 1803, da Klopstock am 14. März in Hamburg starb: „Kein deutscher Dichter ist mit höheren Ehren bestattet worden.“ Man kann unterschiedliche Zahlen zum Trauerzug nachlesen, fünfstellig sind sie alle. „Klopstock hat viel geschrieben, aber nicht gearbeitet; er musste dilettieren, wenn er nicht dichtete, er war das Gegenteil eines Forschers und Prüfers“, darin nun wirklich anders als Goethe.

„Von unseren Klassikern hat Klopstock außer Goethe die gesündeste und reichste Jugend gehabt … Der Dichter verdankt dieser Jugend seine körperliche Rüstigkeit und Strammheit. Die Natur, in der er unbehindert aufwuchs, ist allerdings in seinen Gedichten nicht wieder erschienen“. Für Eloesser war Klopstock der „junge Student, der eigentlich nie studiert hat“, ihm „geschah wohl zum einzigen Male in der deutschen Literatur, daß ihre anerkannten Vertreter, und nicht nur diese, sich in solcher Sorge um die Erhaltung eines Genies einigten. … Die Vollendung des Messias galt als nationale Angelegenheit.“ Klopstocks Figuren Fanny und Cidli „haben keine Geschichte, wie auch Klopstock nach dem Abrauschen seiner Jugend keine Geschichte mehr hat.“ So gibt es eben auch von seiner Ehe mit Meta Moller nichts zu berichten: „Der Dichter, der durchaus zum Ehemann gemacht war, führte mit ihr eine kurze glückliche Ehe, die durch ihren Tod im Kindbett gelöst wurde. Nach über dreißigjährigem Witwerstande schloss er eine zweite Ehe mit ihrer Nichte, der verwitweten Frau Elisabeth von Windhem, die wieder glücklich wurde.“ Dafür hat er sich „in seiner naiven Unbedenklichkeit … doch zu einem frühen Rufer für das Urheberrecht gemacht“, was Eloesser, der beim SDS (Schutzverband deutscher Schriftsteller) führend aktiv war, höchst anmerkenswert fand.

Eloesser fand es auch nicht ehrenrührig, Klopstock eine „großdeutsche“ Gesinnung zuzuordnen, gemeint als eine eben nicht preußische Gesinnung. „Klopstock wollte aber von den Schlachten, die in seiner Zeit und in seiner Nähe geschlagen wurden, nichts wissen; trotz den Hymnen auf Friedrich von Dänemark, in denen er sich nichts vergab, blieb er Republikaner, vor allem aber Diktator der deutschen Gelehrtenrepublik. Es war ihm, der als Bürger im Wirklichen, als Dichter über dem Wirklichen lebte, durchaus möglich, auch in reiferen Jahren in einer selbstgeschaffenen Welt zu verharren, die von antiquarischen Erinnerungen lebte, zuweilen auch von vorgreifenden Wünschen und Träumen, die viel später Gestalt annahmen. Das Ideal oder die seit dem 17. Jahrhundert verbliebene Preisaufgabe eines Gedichts auf Hermann hat ihn nie verlassen, den einzigen Helden, auf den sich Alldeutschland einigen konnte.“ Und: „Die französische Revolution begeisterte den alten Freiheitsschwärmer und entsetzte ihn, als sie sich mit Blut färbte. Ehrwürdig blieb immer sein Mut, seine Unabhängigkeit, seine Gläubigkeit, in welchen schrulligen Unternehmungen sie sich auch verwirklichen mochte.“ Mit einem Satz sagt Arthur Eloesser prägnant, worum sich die DDR-Klopstock-Literatur am liebsten herumdrückte: Klopstocks Kehrtwende im Blick nach Frankreich. Das wäre ein neues, ein weiteres eigenes Thema, der 300. Geburtstag in einem Jahr reizt auch dazu.


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