Peter Härtling 90

Legt man alle Bücher von ihm nebeneinander, die in der DDR gedruckt wurden, könnte man zur Frage verleitet werden: War Peter Härtling ein Autor der DDR? In Chemnitz geboren, nun gut, das war in einer anderen Zeit, es war 1933, niemand dachte an eine spätere DDR, im Gegenteil: viele glaubten an ein Tausendjähriges Reich oder taten so. Im September hatte man, so gut es eben ging, des 200. Geburtstags von Christoph Martin Wieland gedacht, die ganz großen Verbrechen standen noch aus. Ein Klassiker konnte noch als solcher gesehen werden, ohne dass er gleich ins Völkische umgedeutet oder ohne Umdeutung aus selbiger Kuhwärme vertrieben werden musste. Als Härtling 20 Jahre alt wurde, verwandelte sich Chemnitz per Dekret in Karl-Marx-Stadt. Der Name hielt sich immerhin länger als der Stalins, den die Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost verliehen bekam, die nur beinahe Karl-Marx-Stadt geworden wäre, nun aber auf Umbenennung in Eisenhüttenstadt warten durfte, bis Stalin in finale Ungnade fiel, die ihm nicht nur seinen Platz im Mausoleum neben Lenin kostete, sondern auch alle Namenspatenschaften im weiten Sowjetreich inklusive DDR.

Die DDR mochte Peter Härtling auch, weil er ein wichtiger Mann im westdeutschen Verlagswesen war. Man brauchte hie und da eine Lizenz und durfte wohl annehmen, dass jemand wie er Hilfe verschaffen oder selbst helfen konnte. Vielleicht war alles auch ganz anders. Jedenfalls konnten DDR-Leser Romane und Erzählungen, sogar Essays, Reden und einen Kinderroman im heimischen Buchhandel erwerben. Härtling etablierte sich als biographischer Erzähler zu Hölderlin, zu Lenau, Waiblinger und Mörike. Er war, wenn ich mich recht erinnere, nie „Bückware“, man musste keine Buchhändlerin kennen oder keinen, der eine Buchhändlerin kannte. Allenfalls „Hubert oder Die Rückkehr nach Casablanca“ hatte einen etwas sagenhafteren Ruf; sicher aber mehr bei denen, die Humphrey Bogart ins Herz geschlossen hatten, den Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen und der vorn nach unten gebogenen Hutkrempe, der Ingrid Bergman liebt, die ihm Film Ilsa Lund war. 1979 brachte der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar das Buch und konnte im Klappentext schon auf „Eine Frau“ (1974) und „Hölderlin“ (1976) verweisen. Härtling war ab 1974 freier Schriftsteller.

Westdeutsche Quellen, das ist einigermaßen verblüffend, gehen verhalten mit Härtling um. Die immerhin am Ende 18 Bände umfassende Reihe „Deutsche Literatur. Jahresüberblick“ des Reclam-Verlags Stuttgart (1981 – 1998) verzeichnet zwar treu und brav alle neu von Härtling verfassten Bücher, jedoch nur im Band für 1994 wird einmal eine einzige Kritik zu ihm abgedruckt. Sie fand sich am 5. Oktober 1994 in der Frankfurter Rundschau, war von Barbara Schmitz-Burckhardt verfasst und betraf die Novelle „Božena“. Diese findet sich als einer von elf Titeln Härtlings auch in „Reclams Romanlexikon. Band 5. 20. Jahrhundert III“, was die Frage aufwerfen könnte, was Novellen bei Romanen suchen, aber ein Novellenlexikon ist bisher auch in Stuttgart nicht erfunden worden. Reinhard Baumgart (1929 – 2003), immerhin eine Instanz innerhalb der westdeutschen Literaturkritik, hat in seinem umfangreichen Buch „Deutsche Literatur der Gegenwart“ den Namen Härtling nicht für würdig befunden, im Personenregister zu erscheinen. Was aussagekräftig ist, wenn ich auch nicht zu sagen vermag, wofür. Härtling immerhin schrieb und schrieb unbeeindruckt.

Wer die ihm gewidmete Wikipedia-Seite aufruft, findet dort nicht nur eine ellenlange Liste seiner Bücher und sonstigen Arbeiten, er findet auch eine erstaunliche Liste mit 20 Schulen, die Ende 2017, er starb am 10. Juli 2017, seinen Namen trugen. Eine Schule im Gebiet der ehemaligen DDR ist nicht darunter. Dabei hätten doch vielleicht Verantwortliche in Dresden und Umgebung, in Chemnitz und Umgebung, durchaus auf die Idee kommen können. Hartmannsdorf bei Chemnitz etwa, wo der Vater eine Anwaltskanzlei hatte, wäre in Frage gekommen. Dresden, der Stadt seiner Großmutter, widmete Härtling schon 1964 ein mit kindlichen Erinnerungsfetzen durchmischtes Kulturgeschichtsreferat im Modus Schnelldurchlauf. Da war sehr viel mehr angelesen und sauber journalistisch recherchiert als erlebt und betroffen rekonstruiert. Was bei einem Mann mit reicher einschlägiger Berufserfahrung keineswegs verwundert. 1964 war Härtling noch nicht bereit, Dresden wiederzusehen, Anfragen, ob er den Zwinger nicht sehen wollte, folgte er nicht: „Es gibt Städte, die der Phantasie anvertraut sind.“ Antwortete er sich und seinen Lesern damals gedruckt.

In meinem Archiv finde ich neben Besprechungen der Romane „Felix Guttmann“ und „Waiblingers Augen“ in „Neues Deutschland“, „Junge Welt“ und „Sonntag“ auch einen SPIEGEL-Artikel mit der Überschrift „Angst vor Verfolgung“. Dort geht es um eine angebliche antisemitische Beschimpfung im Anschluss an eine Lesung. Härtling soll Marcel Reich-Ranicki einen „kleinen miesen Juden“ genannt haben, wofür sich eine Zeugin fand. Härtling leugnete, es gab ein juristisches Nachspiel. Als einen Hintergrund nannte das Nachrichten-Magazin die Tatsache, dass Reich-Ranicki seit 1969 kein Härtling-Buch mehr besprochen hatte. Auch der 1969 geborene Volker Weidermann, längst selbst ein fast omnipräsenter Autor, strafte Peter Härtling ab in seiner flotten „kurzen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“, Titel „Lichtjahre“, bald als SPIEGEL-Bestseller beworben wegen skandalbedingten hohen Umsatzes: er vergaß ihn (oder wollte ihn vergessen machen). Vielleicht deshalb nahm sich Weidermann die Zeit, den Nachruf für Härtling im SPIEGEL selbst zu verfassen und dabei auf ein Wort aus dem Fontane-Roman „Der Stechlin“ zurückzugreifen.

Ich zitiere: „Es ist der Satz, mit dem der Pastor im Roman seine Grabrede auf den alten Stechlin schließt: „Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind.“ Just diesen Satz wiederholt Weidermann (vw) am Ende seines am 15. Juli 2017 gedruckten Rückblicks. Und vorher: „Peter Härtling war ein Volksschriftsteller, eine Art Wärmestrom schien von seinen Werken auszugehen.“ Das ist eine Aussage, die sich jedem, der es nur will, zur Überprüfung anbietet. Zu seinem 80. Geburtstag jedenfalls am 13. November 2013 war Härtling in nahezu allen namhaften und auch weniger namhaften Feuilletons präsent, man gratulierte ihm, stellte sein neuestes Buch „Tage mit Echo“ vor, auch „Neues Deutschland“ war wieder dabei wie schon fünf Jahre zuvor zum 75. Geburtstag. Alte Liebe rostet nicht, hieß es einschlägig früher in der DDR. „Werden Paläste im Alter klein?“ hatte Härtling 1964 gefragt. „Die Städte unserer Kindheit sind leichter, gewichtloser, heller als alle Städte, die wir später kennenlernen oder bewohnen. Die Perspektive des Kindes gewährt Weite, unermessliche Höhe, sie verleiht Zauber und sie nimmt Zauber auf.“ So ist es wohl.


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