Hugo von Hofmannsthal 150

In „Der Tor und der Tod“ gibt es einen Augenblick, da der Edelmann Claudio, den der Geige spielende Tod aufsucht, ihn zu holen, fast hektisch probiert, schonungslos gegen die eigene Person Zeit zu schinden, gar das Leben selbst. „Du meinst, ich hätte doch geliebt, gehasst … / Nein, nie hab ich den Kern davon erfasst, / Es war ein Tausch von Schein und Worten leer! / Da schau, ich kann dir zeigen: Briefe, sieh,“. Und es folgt die Regieanweisung: „Er reißt eine Lade auf und entnimmt ihr Pakete geordneter alter Briefe.“ Geschrieben ist „Der Tor und der Tod“ 1893, da hatte Hugo von Hofmannsthal seinen 20. Geburtstag noch vor sich. 1894 gab es den ersten Druck, die Buchausgabe 1900, die Uraufführung am 13. November 1898 im Theater am Gärtnerplatz, München. Mich fasziniert die Vorstellung eines (wohl noch jungen) Mannes, der dem Tod nicht irgendwelche, sondern „Pakete geordneter alter Briefe“ vorweist. Er bittet gewissermaßen, sie als Beweismittel gegen sich selbst zuzulassen. Briefe, wer je näher mit Hofmannsthal in Kontakt zu kommen suchte, weiß es, sind bei ihm Werkbestandteil in Substanz und Umfang, wie wohl bei kaum einem anderen deutschsprachigen Autor. Jede Bibliographie verblüfft mit der langen Reihe seiner nicht nur geführten, sondern eben auch gedruckten Briefwechsel: Hunderte und aber Hunderte von Seiten.

Man kennt die Adressaten, wenn man sich ein wenig zu Hause weiß in unserer erschöpflichen Literaturgeschichte: Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Max Mell, Carl Jacob Burckhardt, Max Rychner, Rudolf Borchardt, Leopold von Andrian, Rudolf Pannwitz. Aber auch weniger bekannte Namen: Ottonie Gräfin Degenfeld, Edgar Karg von Bebenburg, Josef Redlich, Helene von Nostitz. Der schiere Umfang der Briefwechsel fordert die Frage zwanghaft heraus: Schlief dieser Dichter bisweilen auch, der ja nebenbei noch reiste, der nebenbei noch ein Gesamtwerk verfasste, dem der S. Fischer Verlag immerhin 38 Bände „Sämtliche Werke“ widmete, darunter 20 (!!!) Bände Dramen? Man kann zu seinem privaten Leben nachlesen, dass er seit 1901 mit ein und derselben Frau verheiratet war, mit der er Kinder hatte, mit denen er immer gemeinsam zu Tisch saß, wenn er denn zu Hause war in Rodaun nahe Wien. Gemeinsames Essen war selbstverständlich, manche reden da schon von Ritual, weil ihnen selbst familiäres Leben fremd ist und fremd bleibt. Manche reden aber auch von der Gefahr, die das „nur Geschmackvolle, das Kunstgewerbliche“ für diesen Dichter dargestellt habe. Als wäre nicht jeder Künstler, der die eigene Kunst/Literatur zum Beruf macht, der eben letztlich nichts anderes darstellt als ein Gewerbe, damit schon ein Kunstgewerbler!

Was halten wir dagegen von Verlagen, die ein Roman-Lexikon herausgeben in etlichen Bänden, enthaltend auch Hofmannsthal, von ihm aber nicht etwa nur den Fragment gebliebenen „Andreas“ vorstellen, sondern in blinder Tapferkeit auch gleich noch „Das Märchen der 672. Nacht“, die „Reitergeschichte“, das „Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“ und, unfassbar, „Ein Brief“, wie der eigentliche lapidare Titel des berühmten „Chandos-Briefes“ lautet. Der ist so wenig ein Roman wie ein Fußballschuh ein Bobschlitten. „Die Frau ohne Schatten“, nichts soll vergessen sein, muss ebenfalls als Roman herhalten. Das ohnehin längst beliebige, bisweilen schon völlig wertfreie Klebe-Etikett Roman wird in solcher Handhabung zusätzlich demontiert. Das musste raus, das muss sich der Jubilar gefallen lassen: auch einmal einfach nur benutzt zu werden. Doch Trost: er kennt das schon. Viele, die je schrieben, wahrscheinlich sogar um so öfter, je besser sie schrieben, werden benutzt. Hätte es Shakespeare nicht gegeben, wie viele Regisseure wären mit akuten Symptomen mangelnden Selbstwertgefühls auf der Analyse-Couch gelandet? Hofmannsthal dagegen setzte seinen „Jedermann“ in die Welt und, wenigstens in Salzburg, kam noch niemand bisher auf die Idee, ihn von einer echten Migrantin, die Buhlschaft von Jean-Claude van Damme spielen zu lassen.

Ich hatte, Privatexkurs, mit „Jedermann“ doppelt Glück. Ich erwarb die gedruckte Erstausgabe zum guten Preis, als Erstausgaben noch etwas darstellten. Und ich sah in Salzburg den „Jedermann“ vor dem Dom, kein Schnürlregen, Peter Lohmeyer als Tod weit oben, am 22. Januar wurde er 62 Jahre alt. Ich musste niemals Katharina Witt als Buhlschaft ertragen, auf die man in Salzburg zum Glück nie verfiel. Da hätte ich mich noch lieber vor Simone Thomalla gegruselt, auf die man in Salzburg zum Glück nie verfiel. Die Untiefen meines Archives zeigen für die vergangenen Jahre neben dem unverwüstlichen „Jedermann“, den es in der Wachau auch in einer Dialekt-Fassung zu sehen gibt angelegentlich, nur noch die „Elektra“ als relativ häufig gespielt, den „Rosenkavalier“ einmal ausgeklammert, der es ja eher wegen Richard Strauss, als wegen Hofmannsthal immer wieder auf gute wie auch weniger gute Bühnen schafft. Die Abhandlung „Hofmannsthal und Dresden“ hat vermutlich schon jemand geschrieben, die Abhandlung „Hofmannsthal und Venedig“ würde ich selbst gern schreiben, doch vermutlich ist auch sie längst geschrieben. Da geht es den modernen Klassikern nicht anders als alten Klassikern: irgendjemand hat immer schon über alles geschrieben. Es zu finden, ist für Spätere eine halbe Lebensarbeit und im Ergebnis fast immer deprimierend.

Der bisweilen mehr als sehr boshafte Karl Kraus, nur ein paar Wochen jünger als Hofmannsthal, Woche für Woche in der selbst gewählten Pflicht stehend, seine „Fackel“ zu füllen, und zwar völlig allein, war ein Sucher und Finder: „Eine Berliner Zeitschrift hat Herrn Hugo v. Hofmannsthal in seinem Heim vorgeführt. Der Dichter sitzt am Schreibtisch und liest ein Buch.“ Diese schlichte Formulierung gewinnt ihren Pointen-Charakter erst durch einen Satz ein paar Zeilen vorher: „Der Dichter hat am Schreibtisch nichts zu suchen, wenn der Photograph kommt, aber dieser will gerade, dass der Dichter am Schreibtisch sitzt.“ Geholfen hat diese Glosse nichts und niemandem. Noch immer wollen Photographen und Kameraleute, dass die Dichter am Schreibtisch sitzen, dass die Professoren, die den Experten mimen müssen, in einem ihrer eigenen Bücher blättern oder es wenigstens aus dem Regal mit den eigenen Büchern ziehen. Wir wissen, wie das ist mit dem Neuen unter der Sonne: kaum anders als unterm Mond. „Die große Menge hatte doch schon bei der Geburt des Herrn von Hofmannsthal gehofft, dass er einmal in den Schlafrock des alten Goethe hineinwachsen werde.“ Über diesem Kraus-Satz stand „Aus der Branche“ und wir dürfen davon ausgehen, dass Karl Kraus zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Sympathie für Hofmannsthal hegte.

„Herr v. Hofmannsthal, der vom Rausch bei goldenen Bechern, in denen kein Wein ist, längst ernüchtert dahinlebt, macht sich nichts mehr daraus, dass man ihm daraufgekommen ist,wie er hinter dem Rücken der Unsterblichkeit mit dem Tag und dem Theater gepackelt hat.“ Das Verhältnis des wehrdienstuntauglichen „Defätisten“ Kraus, wie er 1918 genannt wurde, zum gedienten Reserveoffizier Hugo von Hofmannsthal hatte nie eine Chance, kollegial oder freundlich zu werden. In fescher Ulanenuniform kann man den Leutnant von 1897 im Buch „Die Stunde der Welt“ von Frank Schirrmacher sehen, neben ihm sieht Rilke als Kadett sehr viel bescheidener aus. Und doch hätte auch alles anders kommen können: Hofmannsthal und Kraus saßen gemeinsam am Eleven-Tisch im Kaffeehaus „Griensteidl“ am Michaelerplatz, wo seit dem Vorjahr ein Stammtisch residierte, an dem Hermann Bahr und Arthur Schnitzler das Wort führten. Hofmannsthal erschien dort zuerst mit seinem Vater, der, so ein Kraus-Biograph, auf die Aufwertung seines lädierten Namens spekulierte. Solch väterliche Rückendeckung könnte Karl Kraus vermisst, ein früher Neid an ihm gefressen haben, zumal Hofmannsthal unter seinen Pseudonymen Loris und Morren sehr früh sehr viel Aufmerksamkeit fand, die sehr schnell in Ruhm umschlug weit über Wien hinaus.

Jugend, eines ihrer unanfechtbaren Privilegien, oszilliert zwischen „Himmelhoch jauchzend“ und „Zu Tode betrübt“. Als Hofmannsthal am 15. Juli 1929 überraschend starb, sein Sohn hatte sich kurz zuvor in der elterlichen Wohnung erschossen, überließ die „Weltbühne“ ihren Platz für einen gedenkenden Beitrag dem bis dahin kaum bekannten Hans Flesch (5. Februar 1895 – 1. August 1981). Flesch, geborener Johannes Evangelista Luitpold Flesch Edler von Brunningen, ist zwischen 1929 und 1932 mit sieben Beiträgen in der „Weltbühne“. Am 23. Juli 1929, Nummer 30 des XXV. Jahrgangs, hieß sein Thema „Hofmannsthals Zeitgenossen“. Er schildert seine frühe Begeisterung als eine Generationsbegeisterung der Dreißigjährigen, was immer den Verdacht aufkommen lässt, dass wieder einer, statt nur für sich zu sprechen, ungefragt seine Altersgenossen mit vereinnahmt. „Wir ärgerten unseren Deutschprofessor, indem wir in unsre Hausarbeiten Sätze von Hofmannsthal einflochten. Es war revolutionär, für Hofmannsthal zu sein.“ Später war es, um den Gedankengang abzukürzen, nicht mehr revolutionär und so endet der mehr als seltsame Nicht-Nachruf von Flesch überraschend: „Ich schlage vor zu vergessen, dass sich Hofmannsthal von der Brudergemeinde der Franziskaner zu Rodaun zu Grabe tragen ließ. Ich schlage vor, ihn überhaupt zu vergessen.“

Am 24. November 1924 schrieb Hofmannsthal an Max Rychner (8. April 1897 - 10. Juni 1965), dem wir eine ganze Reihe lesenswerter Arbeiten über Hofmannsthal verdanken: „Nun streifen Sie in Ihrem Brief irgendwelche negativen Urteile von K. über meine Arbeiten. Darüber weiß ich nichts; ich habe die „Fackel“ seit 12, vielleicht seit 15 Jahren nicht vor Augen gehabt. Ein Urteil von K. könnte mich nicht beschäftigen; ich glaube nicht, dass er zu einem fundierten Urteil – und nur ein solches hat irgendwelches Gewicht – die Substanz in sich hat. Ich weiß, dass er manchmal, wenn er in Schwung ist, in einer gewissen Art gut schreibt, und mit wirklichem Witz. Aber irgendwelche Substanz traue ich ihm nicht zu.“ Das geht noch weiter, doch hier soll es genug sein. Mir fiel eben, antiquarischer Zufall, der natürlich niemals einer ist, ein Programmheft des Wiener Burgtheaters von 1983 in die Hände. Die Burg gastierte in Ost-Berlin: in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, im Deutschen Theater Schumannstraße. Ein Foto in Neues Deutschland zeigt den nicht mit einem gleichnamigen Fußballer zu verwechselnden und mir bis heute völlig unbekannten Willi Boldt von der Künstler-Agentur der DDR, Paula Wessely begrüßend. Sie spielte am 15. Oktober 1983 in der Volksbühne die Baronin in Hofmannsthals Lustspiel „Der Unbestechliche“.

Dem Programmheft lagen Kritiken von Ernst Schumacher (Berliner Zeitung), Rainer Kerndl (Neues Deutschland), Ingrid Seyfarth (Sonntag) und Wolfgang Gersch (Tribüne) bei: Sammlerherz, was willst du mehr? Ich muss gestehen, dass Berliner Gastspiele des Burgtheaters mir damals noch nicht den Puls beschleunigten, später sah ich eines in Dresden, aber weder Hofmannsthal noch Schnitzler. Dafür Shakespeare, kein schlechter Ersatz. Dass ich gut vier Jahre nach dem Gastspiel in dem Blatt, für das Wolfgang Gersch damals schrieb, eine kleine Kritik zu „Blicke“, einer Essay-Sammlung von Hofmannsthal im Leipziger Reclam-Verlag, veröffentlichte, ist mir erst mit Blick auf das heutige Jubiläum wieder bewusst geworden (siehe meine Rubrik ALTE SACHEN). Im Februar 2003 notierte ich mir, ziemlich letztmalig mit der alten elektrischen Schreibmaschine, einen Satz aus Hofmannsthals „Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie“, den man sehr gut mit Grundgedanken des Dichters in Verbindung bringen kann: „Niemand findet leicht als erster etwas Auffälliges: denn es ist den Menschen im allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“ Die sicher folgenreichsten derartigen Gedanken finden sich im fingierten Brief, den Philipp Lord Chandos an Francis Bacon schrieb. S. Fischer druckte 2002 ein ganzes Buch voll später Antworten darauf.

Unter den durchweg einzeln Antwortenden von Ilse Aichinger bis Feridun Zaimoglu fand sich auch ein Paar in trauter Gemeinsamkeit: Andrea Paluch und Robert Habeck. Dass letzterer dereinst als Wirtschaftsminister am industriellen Niedergang Deutschlands arbeiten würde, ahnte da noch niemand. Unter die Hofmannsthal-Experten ist er sicher zu keinem Zeitpunkt zu sortieren. „Du bist einer Metaphysik auf den Leim gegangen, die Dichter wie Du entwickelt haben, um ihrer Existenz, die aus Luft Schlösser baut, den Status eines Broterwerbs zu verschaffen.“ Andrea und Robert, so unterzeichneten sie ihr Schreiben, haben, wie wir wissen, stets an Feststoff-Häusern gearbeitet, nur ihre Klimaziele griffen sie aus der Luft, der verschmutzten natürlich. Wir halten hier nur fest, dass nach Meinung des weiland oberberühmten Rhetorik-Professors Walter Jens „Der Brief“ etwas wie die Zäsur der Zäsuren darstellte: „Erst hier, in Philipp Chandos' Brief an Francis Bacon, nicht in den „Kritischen Waffengängen der Gebrüder Hart, oder in Conrads „Gesellschaft“, nicht in Bleibtreus „Revolution der Literatur“ oder den Programmen Conradis und Henckells bricht die Tradition des 19. Jahrhunderts ab. Erst 1901 trennen sich „damals“ und „jetzt“, das „Ich“ verliert, vor dem Zugriff des „Ist“ seine Macht, das Objekt entzieht sich dem Subjekt“ und so weiter und so fort: Rhetorik.

„Ein Brief“ war natürlich zuerst auch eine Zäsur für Hofmannsthal selbst. Das ist im Leben wie im Werk danach ablesbar, und soll hier nicht nachvollzogen werden. „Hofmannsthal war zu einem sorglosen Leben bestimmt und musste es sein, seine Dichtung war ein Ergreifen von Kostbarkeiten und Seltenheiten, die ihre Vergänglichkeit noch schöner gemacht hatte.“ So 1931 der Kritiker Arthur Eloesser. 1908 besuchte Hofmannsthal gemeinsam mit Harry Graf Kessler und zeitweise Aristide Maillol Griechenland: „Hier geht niemand, der einem anderen Wanderer in der Einöde des Gebirges begegnet, wortlos an ihm vorüber.“ „Unter diesem Licht ist ja wirklich das Geistige leiblicher und das Leibliche geistiger als irgend sonst auf der Welt.“ „Wir sind aus dem Norden, und das Halbdunkel des Nordens hat unsere Einbildungskraft geformt.“ „Hier ist der Mensch geboren worden, wie wir ihn verstehen: denn hier ist das Maß geboren worden.“ „Was in diesem Licht lebt, das lebt wirklich: ohne Hoffnung, ohne Sehnsucht, ohne Grandezza: es lebt.“ Der Herausgeber von „Augenblicke in Griechenland“ riet Lesern der schönen Ausgabe als Insel Taschenbuch (it 2408) vor mehr als zwanzig Jahren, parallel die Aufzeichnungen Graf Kesslers von dieser kurzen Reise zu studieren. Bücher, die ein Begleitbuch brauchen, werden keine Bestseller, heute weniger als je.


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