Vor 40 Jahren starb Franz Fühmann

Ob ich „Vor 50 Jahren starb Franz Fühmann“ noch werde schreiben können, steht, wie ich atheistisch fromm nach oben schauend sagen würde, in den Sternen. Dass ich „Vor 30 Jahren starb Franz Fühmann“ schrieb, ist nachlesbar, es hat nicht wenige Leser gefunden. Zehn Jahre später, heute, mag ich mit einem seltsamen Bekenntnis beginnen: Ich habe „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“ noch immer nicht gelesen. Obwohl ich natürlich weiß, welcher Stellenwert dem Buch mit dem grünen Schutzumschlag aus dem Rostocker Hinstorff Verlag beigemessen wird. Ich besitze nicht einmal die erste Auflage, sondern nur die zweite von 1974, die also eben jetzt 50 Jahre alt ist und nie im Westen mit einem fremden Titel beklebt wurde wie „Vor Feuerschlünden“ oder Christoph Heins „Der fremde Freund“. 1973, im Jahr der Erstauflage, absolvierte ich meine siebente Ungarn-Reise, die sechste in einer Länge von vier kompletten Wochen, die siebente auch mit meinen Eltern, die erste nach meiner Armeezeit. Es folgten noch drei Reisen mit meiner Frau, die dritte war so etwas wie die Hochzeitsreise, stark mitfinanziert von Eltern und Schwiegereltern. In all den Jahren danach reichte das DDR-Geld nicht mehr für Ungarn, erst 1991, im Besitz jener Devisen, die immer gefehlt hatten, waren wir plötzlich die reichen Deutschen im armen Ungarn.

Ich war, niemand soll sich hier auf eine auch nur minimale Folter gespannt fühlen, einfach nur stinksauer, dass ein berühmter Mann, und der war Franz Fühmann für mich natürlich schon früh, aus armseligen 22 Tagen Ungarn ein ganzes Buch basteln durfte. Als die DDR implodierte, hatte ich ein volles halbes Jahr Ungarn hinter mir. Zwar hätte ich nie, wie Fühmann, Gedichte aus dem Ungarischen übertragen können, obwohl ich natürlich Gedichte schrieb und las und dann auch doppelt erfuhr während des Schweriner Poetenseminars, wie man aus Interlinearübersetzungen echte „Übertragungen“ macht. Es war nicht meine Welt, es wurde sie auch nie, aber Fühmannsche Übertragungen wurden mir, und sind es bis heute, ein Begriff. Erst in diesem Jahr 2024, 33 Jahre nach der letzten Übernachtung in Budapest, Üllői út, bezogen wir wieder einmal ein ungarisches Quartier. Und das war der Anlass, das grüne Buch aus dem Regal zu nehmen. „Ferenc wartet im Foyer auf mich“, lese ich auf einer beliebig aufgeschlagenen Seite und finde eine andere, wo dem Tagebuchschreiber die auf der Straße rauchenden ungarischen Frauen ins Auge stechen. Einen, zwei, drei Ference kannte ich auch. Ach ja, damals rauchte ich gern die „Fecske“, vier Forint die Packung, später „Filtol“, das waren dann sechs Forint für die schmale und limitierte Urlaubskasse.

Erst nach Franz Fühmanns Tod wurde offenbar, dass unter seinen letzten Arbeiten vier Hörspiele waren, drei davon las ich jetzt erst und sah auch, wie andere über sie dachten und schrieben. Für Uwe Wittstock etwa, den spät berufenen Verfasser einer Fühmann-Biographie, die keine ist und dennoch so genannt wird, spielen die Hörspiele keine Rolle, nur „Die Schatten“ erwähnt er einmal. Vielleicht sprach ihre schiere Existenz gegen die von Wittstock vorgeführte These eines Übergangs vom Märchen zum Mythos. Man hätte auch mit dieser These über eine mindestens partielle Rückkehr zum Märchen reden (und schreiben) können. Fühmann schien in den letzten Jahren seines von schlimmster Krankheit gezeichneten Lebens ein Mann, der sich nicht festlegen wollte, der die Gattungen und Genres wechselte wie gut erzogene Männer die Unterhosen. Das Sexuelle wurde ihm plötzlich interessant in manchen und manche überraschender Weise. Worauf das deutet, hat meines Wissens niemand bisher näher erörtert, ich werde es auch nicht tun. Mir ist wichtiger als früher, dass Fühmann einer war, der nicht nur nie einen Roman schrieb, sondern auch einer, der nie einen schreiben wollte. Damit rutscht er in aller Regel aus jedem literarhistorischen Beuteschema. Aber er war, und das fiel dann doch auf, eben einfach zu wichtig, zu bedeutend für Ignoranzen.

Zu sagen wäre sofort, dass jeder Roman-Verzicht immer Leser-Verzicht ist. Wäre es anders, würden Verlage sich nicht winden wie Würmer am Angelhaken, auch nur einen Erzählungsband, eine Feuilleton-Sammlung, gar einen Gedichtband zu veröffentlichen. Ich kenne solide Lyriker, die sagen von sich: Ich kann mir derzeit keinen Gedichtband leisten. Denn auch seriöse Verlage haben die Scheu vorm Druckkostenzuschuss längst verloren. Eine so genannte akademische Auflage kostet unverschämt viel Geld und ist letztlich unzumutbar für Menschen, die vom Schreiben leben wollen, also Honorare brauchen und nicht selbst den Verleger honorieren. Abschweifung beendet: Franz Fühmann bringt lange nach seinem Tod selbst dem Verlag wieder Einnahmen, der zu seinen Lebzeiten, vertreten durch die Namen Kurt Batt und Konrad Reich, etwas wie sein Hausverlag war: Hinstorff in Rostock, einst VEB, jetzt privat. Wittstocks Biographie erschien da, Briefbände, die es zuvor so nicht gab, eine Neukompilation von bereits gedruckten Erzähltexten als „Roman einer Jugend unter Hitler in acht Erzählungen“, von Wittstock herausgegeben, und, für mich deutlich am wichtigsten: „Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Theodor Fontanes“, ich habe es mir eben erst besorgt und in Sichtweite abgelegt für baldige Lektüre. Davor aber kommt mir Hans Richter.

Richter (2. Dezember 1928 – 11. Dezember 2017), zuletzt Jena, die armselige Wikipedia-Seite zu ihm kennt das Buch nicht, war der erste und, wie mir scheint, bis heute kenntnisreichste Biograph Fühmanns. Er muss hier genannt werden, weil Uwe Wittstock ihn nicht einmal erwähnt, geschweige sein Verdienst würdigt. Die Wahl zwischen Unwissen und Ignoranz fällt mir dabei schwer, zumal Wittstock den Biographen Gunnar Decker wohl erwähnt und, was schlimmer ist, auch Erich Loest, der 1985 in Paderborn Vorlesungen über Fühmann hielt, die unter dem Titel „Bruder Franz“ dann auch gedruckt wurden. Gemessen am Bestand der Ausgabe „Franz Fühmann: Briefe 1950 – 1984“ hat nichts, aber auch gar nichts, Loest dafür legitimiert, derlei Vorlesungen zu halten. Es war wohl Rolf Schneiders Ehrgeiz, den November 1976 im Roman zu verwursten, ähnlich für Loest, dessen Buch „Durch die Erde ein Riss“ Fühmann „ein typisch sächsisches Buch, stellenweise sehr schön, stellenweise sehr ärgerlich“ nannte. Ich erinnere mich eines späten Buches von Loest, das ich im Sessel eines mir befreundeten Verlegers in die Hand gedrückt bekam und so schauderhaft schlecht geschrieben fand, dass ich mich weigerte, weiter darin zu blättern. Verständnisinnig grienend nickte der Verleger. Dagegen also ist und war Hans Richter aus Jena ein Fels, mit und ohne Brandung.

1986, auf nachgelassene Arbeiten Fühmanns schauend, diagnostizierte Richter unter der Überschrift „Vermächtnisse Fühmanns“: „Im Laufe seiner Arbeit ist das einstige Erschrecken Franz Fühmanns über seine Verfügbarkeit zum schreckdurchsetzten Erstaunen über den Menschen aller Orte und Zeiten geworden.“ Richter zitiert aus dem Nachlassband „Das Ohr des Dionysios“ und kommentiert anknüpfend: „Das ist nun freilich nicht die Sprache eines Lehrbuchs über den historischen Materialismus, und dem gestrengen Philosophen wird es nicht schwerfallen zu beweisen, dass Fühmanns Menschenbild mit dem stofflichen Kontakt seines Erzählens zu unserer Zeit zugleich die historisch-konkrete Prägung verliert und ins Anthropologische, Abstrakt-Psychologische gerät.“ Nicht zu vergessen: wohl war Fühmann da bereits zwei Jahre tot, die DDR aber lebte munter unter der verwüstlichen Honecker-Devise „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“. Hans Richter lebte zweifelsfrei in Hoffnungen auf das, was in der Sowjetunion Gorbatschows geschah, seinen Irrtum teilten Heerscharen von Intellektuellen in West noch eher als in Ost. Eine solche Diagnose, dass einer, mitten im Lande und ohne laufenden Ausreiseantrag, die vermeintlich allgemeine Basistheorie verließ zugunsten von Philosophischer Anthropologie, war ein Knaller.

Aber, und dieser Folgerung hat sich Hans Richter offenbar verschlossen, Franz Fühmann schuf sich mit dem Übergang ins Psychoanalytisch-Anthropologische am Ende das, was er mit seinem nie aufhörenden Insistieren auf schuldbeladene Auseinandersetzung mit sich selbst eigentlich immer vermeiden wollte: Er erteilte sich letztlich selbst Absolution, was man auch deshalb so sagen darf, weil die Bibel und ihre Mythen ihm im Lauf der letztlich nur 62 Lebensjahre immer wichtiger geworden waren. Es schloss sich damit etwas wie ein Kreis, denn seine Kindheit war klar christlich geprägt. In Weltgegenden, da jede Erwähnung eines Völkermordes den Verdacht produziert, jemand wolle den Holocaust relativieren, ist der Übergang zu einer Anthropologie des Menschen, der eben so ist, wie Fühmann war, auch wenn es nie so beabsichtigt wurde, der nahtlose Übergang in eine Relativierung individueller Schuld. Dass Klassentheorie, Klassenkampftheorie dem Dichter Franz Fühmann in seiner Selbstanalyse letztlich nicht wirklich halfen, ist kaum verwunderlich. Dass er, als eben nicht dezidierter Denker, als Philosoph für den eigenen Hausgebrauch nach dem griff, was sich schlüssig bot, ist üblich. Ihm lieferten Mythen aus der Antike, der heidnischen wie der christlichen, Modelle und fortan suchte er nach solchen, die universale Anwendbarkeit versprachen.

Franz Fühmann war damit vorschnell, wie Intellektuelle in solchen Fällen immer sind: meinte er doch sogleich die Rezeptur für alle, die mit sich uneins waren, in den Händen zu halten. Nur löst sich eben ein nur verschwindend geringer Teil der Menschen, die eigene Schuld nicht ertragen können, aus eigenen Traumata durch Bibel-Studium oder Lektüre von Homer, Hesiod oder gar Essays aus der Feder Franz Fühmanns. Das gilt es nüchtern zu sehen. Hans Richter schrieb: „Wer das als Verlust sehen will, sollte nur nicht versäumen, auch nach dem Gewinn zu fragen; der aber hat sein gewaltiges Übergewicht, wenn sich das auch nicht in jeder Erzählung in gleichem Grade auswirkt.“ Sein ausführliches Zitat jener Fühmann-Passage, in der es um das Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen und Lanzen zu Winzermessern geht, war eine jener „Stellen“, nach denen der gelernte DDR-Leser immer auf der Suche war. Brisant hier zusätzlich, weil es ja eben die importierte Losung der Friedensbewegung des Westens war. Wenige Jahre früher war die in aller Öffentlichkeit verkündete Diagnose von Geschichtspessimismus, wie sie etwa Hans Koch über Günter Kunert drucken ließ, ein erster Schritt in Richtung Berufsverbot, 1986 aber doch wohl schon mindestens vorübergehend wieder einmal Tauwetter. Von dem Fühmann nichts mehr mitbekam.

In seinem Nachwort zu den acht Erzählungen unter dem Titel „Mein letzter Flug“ ist Uwe Wittstock zu einer bemerkenswerten Erkenntnis gekommen, die ich allein deshalb herausragend finde, weil sie der öden Selbstgerechtigkeit des Westens, die bis heute allüberall waltet, deutlicher widerspricht als alle Krokodilstränen über Defizite bei Besetzung von Spitzenpositionen durch „Ostdeutsche“. „Doch nicht allein die Erzählungen Fühmanns … zeigen, dass die Bereitschaft der in der DDR geprägten Schriftsteller größer war, ohne Beschönigungen über die eigene Anfälligkeit für nationalsozialistische Denkmuster in ihrer Jugend Auskunft zu geben.“ Das berühmte „Mich interessiert der Faschist in mir!“ von Heiner Müller im Senatsaal der Humboldt-Universität 1976 habe ich eigenohrig vernommen, ohne zu wissen, wo und wie oft er das zuvor schon gesagt hatte, oder bei wem er sich den Satz entlieh. Franz Fühmann hat just dieses Interesse an sich und für sich buchstäblich ein bewusstes Leben lang exerziert. Vom ihm genau das lernen, hieße für den Westen zum Beispiel auch zu fragen: Wäre ich womöglich ein IM geworden hinter Schild und Schwert der Partei, wenn ich nicht im Sauerland, sondern im Erfurter Becken aufgewachsen wäre? Ich habe nach 1990 reihenweise Typen kennengelernt, denen ich es zugetraut hätte, keineswegs alle mies.

Eine der Arbeiten, die Hans Richter über Fühmann geschrieben hat, hieß im Druck „Das Beispiel Fühmann“. Dies ist eine Überschrift, die man ruhigen Gewissens jeder größeren Arbeit über ihn geben könnte. Er war ein Beispiel, ein Modell eher nicht. Ein Stellvertreter eher auch nicht. Er war in der Lage, eine These aufzustellen wie diese: „Wenn die Menschheit überleben will, muss sie beginnen, sich als Menschheit zu konstituieren, was zuerst einmal heißt, sich als Menschheit zu verstehn.“ In solchen Sätzen versagt die Anthropologie, denn nie wird sich die Menschheit als Menschheit verstehen, weil sie eben kein Subjekt des Verstehens ist, auch keines einer bewussten Konstituierung wie etwa sich ein eben frisch gewählter Vorstand, ein eben zusammen getretenes Zentralkomitee konstituiert. Das Perverse der Realität ist, dass die Menschheit auch überlebt hat, wenn ihre eine Hälfte oder zwei ihrer Drittel einer globalen Katastrophe zum Opfer fielen. Und ich vermute bis heute, dass das an- und ausdauernde Graben nach dem eigenen Gewordensein in Franz Fühmanns Leben bis zum bitteren Ende Gründe gehabt haben muss, die er mit sich ins Grab nahm. In ihrer „Annäherung“ an Fühmann schrieb Margarete Hannsmann vor Jahren: „Je öfter er kam, desto deutlicher sagte er, dass sein Land und mein Land nie unser Land werden könne.“ Irrte er?


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