Marie Luise Kaschnitz: Florens

Am 12. Oktober 1974, einem Sonnabend, sollte Marie Luise Kaschnitz einen Vortrag halten, Anlass der 75. Geburtstag des Insel-Verlages, damals geteilt wie Deutschland in das eigentliche Stammhaus in Leipzig und die Nachkriegs-Gründung in Wiesbaden. Auch wenn der Verlag eigentlich erst 1901 entstanden ist, schlug man nicht ohne Grund großzügig die beiden Jahre dazu, die die Zeitschrift „Die Insel“ bereits vorher existierte, das ergab die zu feiernden 75 Jahre. Die erste Nummer der Vierteljahresschrift war am 15. Oktober 1899 erschienen. Die westdeutsche Niederlassung leitete bis ins Jahr 1960 der in Ilmenau geborene Friedrich Michael, der sich 1970 in einem kleinen Aufsatz „Von Leipzig nach Wiesbaden“ dazu auch äußerte. Am 9. Oktober druckte die Neue Zürcher Zeitung von ihm „75 Jahre Insel. Chronik und Erinnerung“. Der Name Kaschnitz taucht in beiden Fällen nicht auf, auch in allen sonstigen Schriften Michaels nicht, die in immerhin zwei soliden Sammelbänden bei Thorbecke in Sigmaringen gedruckt sind. Ihren Vortrag konnte Marie Luise Kaschnitz nicht halten, weil sie zwei Tage zuvor, am 10. Oktober, in Rom gestorben war. Sie starb in einem Krankenhaus, der Clinica de Spirito Santo, wo 1970 nach einer Operation auch schon Stefan Andres gestorben war: am 29. Juni. Kaschnitz wusste das und sie soll bei ihrer Ankunft dort gesagt haben: „Das ist der Anfang vom Ende.“ So schreibt die Biografin Dagmar von Gersdorff.

Der 10. Oktober 1974 war für mich der Tag vor dem 46. Geburtstag meiner Mutter, für Margot Honecker der Tag, da ihr Enkel Roberto geboren wurde, dessen Vater sechs Jahre später das zweite Gutachten zu meiner Diplomarbeit verfasste und mich zu Gesprächen in seine Wohnung in der Leipziger Straße in Berlin einlud. Marie Luise Kaschnitz war mir damals allenfalls dem Namen nach bekannt, erst später landeten „Lange Schatten“ (Union Verlag Berlin 1968), „Ein königliches Kind. Geistliche Stücke und Hörspiele von Marie Luise Kaschnitz und Ilse Langner“ (St. Benno Verlag Leipzig 1982) und „Notizen der Hoffnung. Ausgewählte Gedichte“ (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1984) in meinen Bücherregalen. Vertreten war sie in den Anthologien „Erkundungen. 19 westdeutsche Erzähler“ (Verlag Volk und Welt Berlin 1964), „BRD heute Westberlin heute. Ein Lesebuch“ (Verlag Volk und Welt Berlin 1982) und „Die nicht erloschenen Wörter. Westdeutsche Lyrik seit 1945. Lyrik aus der BRD. Lyrik aus Westberlin“ (Verlag Volk und Welt 1985). Die krampfhaft korrekten Titel der beiden letztgenannten Bände verraten mehr als jede ausgedehntere Erkundung über den Umgang der kleinen DDR mit den deutschen Resten, die einmal im Jahr nach Wiedervereinigung riefen und die entsprechenden Reden schwingen ließen. Die „Erkundungen“ von 1964 erwarb ich erst Jahre später antiquarisch, die DDR hatte sich da bereits verabschiedet.

Die Rede zum Insel-Jubiläum 1974 lag, rückblickend gesehen, mehr als nur nahe. Auch wenn die Büchner-Preisträgerin von 1955 im Laufe ihres Autorinnen-Lebens an mehrere Verlage gebunden war, Claassen Hamburg, Suhrkamp Frankfurt am Main, Deutscher Taschenbuch Verlag München, bei Insel erschienen als Taschenbuch, als Großdruck, als Hardcover sehr viele ihrer Titel, in der „Insel-Bücherei“, einem Flaggschiff und Markenzeichen des Hauses seit 1912, war sie nur einmal vertreten: Mit „Florens. Eichendorffs Jugend“, 1996 als Band 1157. Entstanden ist die Abhandlung 1943/1944, vierzig Jahre später und zehn Jahre nach ihrem Tode zuerst aus dem Nachlass gedruckt. In die Sammlung „Zwischen Immer und Nie. Gestalten und Themen der Dichtung“ von 1971 noch nicht aufgenommen, warum auch immer, dokumentiert „Florens“ den intensiven Umgang mit dem exemplarischen Dichter Joseph von Eichendorff anhand seiner Tagebücher der Jahre von 1800 bis 1810. Die schöne Ausgabe „Schlesische Tagebücher“ in der Reihe „Deutsche Bibliothek des Ostens“, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Alfred Riemen, 1988 in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung Beuermann Berlin gedruckt, konnte Kaschnitz natürlich noch nicht nutzen, der heutige Leser von „Florens“ dagegen darf den späteren Band getrost zur Hand nehmen: eigene Urteile anhand des Originals haben noch niemandem geschadet, so auch hier.

Es darf als sicher gelten, dass die Hinwendung der Marie Luise Kaschnitz zum jungen Eichendorff ihren tieferen Grund nicht in der Tatsache hatte, dass er auch ein guter Schwimmer war. Dennoch wird ihr seine sportliche Neigung, er war zudem leidenschaftlicher Reiter, durchaus sympathisch gewesen sein, weil sie selbst eine leidenschaftliche Schwimmerin war, der letztlich diese ihre Leidenschaft zum Verhängnis wurde. Sie starb in Rom an den Folgen einer Lungenentzündung, die sie sich wohl zugezogen hatte beim Schwimmen im offenen Meer vor Porto Ercole nördlich von Rom. Dreimal täglich, so die Überlieferung, stieg sie in jenem kalten September ins Wasser, als sie ihren Urlaub mit ihrem Bruder dort verbrachte. Es gab sicher einen vereinbarten Abreisetermin, schon wegen des Vortrages während der Buchmesse in Frankfurt. Und sie selbst war sich jenseits der 70 auch durchaus bewusst, dass es galt, in mancher Hinsicht etwas kürzer zutreten. Geholfen hat das Wissen schließlich nicht; ihr Leichtsinn vorzuwerfen, wäre dennoch kaum angebracht. Dagmar von Gersdorff hat dem „Florens“ in ihrer Kaschnitz-Biographie vier Seiten gewidmet, von hier weiß ich, dass es fünfzig handgeschriebene Seiten in einer Kladde waren: „Es ist einer ihrer innigsten und lyrischsten Prosatexte.“ Sie war damals Hilfskraft im Kulturhistorischen Institut und trug Bücher aus dem Dachgeschoss in den Keller. Nach dem Maler Courbet wandte sie sich Eichendorff zu.

Gersdorff: „Sie erzählt aber mit einer so leidenschaftlichen Einfühlsamkeit von Eichendorff, dass spürbar wird: sein ganzes Werk, seine Welt- und Lebensauffassung haben in einer von der Natur, von Abenteuern und Träumen erfüllten Kinderzeit ihren Ursprung.“ Die Biografin stellt ihrem Abschnitt „Eichendorff 1944“ vier Zeilen aus dem Kaschnitz-Gedicht „Kindheit“ aus dem Jahr 1947 voran: „O hüte dich, der Kindheit nachzusinnen / So schaurig ist's im tiefen stillen Tal / Der ersten Freude Glanz wirst du gewinnen / Doch auch des ersten Grauens bittre Qual.“ Mit just diesem Gedicht hat auch Heinz Czechowski seine Auswahl „Notizen der Hoffnung“ eröffnet und in seinem Nachwort geschrieben: „Mehr schweigend über sich nachdenkend als lauthals von sich redend, hat sie zu ihren Lebzeiten die Literaturkritik eher zu einer einverständigen Kenntnisnahme ihres Werkes denn zu überschwenglichem Lob veranlasst.“ Daran hat sich nie wirklich viel geändert. Was man gutwillig als Voraussetzung ausdauernderer Nachwirkung bestimmen möchte, stünden nicht alle Erfahrungen dagegen. Lauthals verkauft mehr, Mehrverkauf generiert in Zeiten diktatorischer Wahrnehmungsökonomie Aufmerksamkeit. In Zeiten, da selbst gute Filme aus traditionellen Filmländern wie Italien, wo Kaschnitz lange lebte und schließlich starb, keinen Verleih finden in Deutschland, sind leise Stimmen aus Lyrik und Prosa unhörbar, Bücher unsichtbar.

Insel-Bücher, selbst das ist heute anders als noch vor wenigen Jahren, sind Sammelobjekte, die der Sammler eben nicht erwirbt, weil sie von diesem oder jenem Autor stammen, diesen oder jenen verlockenden Titel tragen oder schöne Bilder versprechen. Im Sammler-Regal stehen sie nach ihren Nummern sortiert, nicht alphabetisch nach Autoren, Herausgebern oder gar Sprachen ihrer Autoren. „Florens“ als Nummer 1157 entstammt für mich schon einer Zeit, da dem Sammeln das Abenteuer abhanden gekommen war. Man konnte schon alles überall bestellen, man musste nicht mehr in Antiquariaten stöbern, erschrocken Preisexplosionen registrieren für Bändchen, die in der DDR 1,25 Mark, der Doppelband 2,50 Mark gekostet hatten und jetzt mit abgeplatztem Rücken fürs Zehnfache angeboten wurden. Die neuen Bände inzwischen weit jenseits der einst magischen 1000 haben den Hauptvorteil in ihrer Haltbarkeit, den Hauptnachteil für Nostalgiker natürlich in der Tatsache, dass Rückenschilder und Titelschilder nicht mehr von Hand geklebt sind, längst überhaupt nicht mehr geklebt werden. Bis etwa 1100 schielt meine Sammlung nach Vollständigkeit, danach sind Autor und Inhalt entscheidend, weshalb Marie Luise Kaschnitz bei mir zwischen Stephan Hermlin (1094) und Wolfgang Hildesheimer (1161) steht und ihren literarischen Wert durch krakelige Skizzen von der Hand Eichendorffs erhöht, die dem Tagebuch-Original entnommen sind.

Das Marbacher Magazin aus Anlass des 100. Geburtstages von Marie Luise Kaschnitz, eingeleitet mit einem Essay von Ruth Klüger, es trägt die Nummer 95/2001, ist nach dem Vorbild eines Wörterbuchs gegliedert und enthält dankenswerter Weise auch das Stichwort „Florens“. Dort steht allerdings nichts über die Biografie der jungen Eichendorff-Jahre selbst, sondern nachgedruckt ist der Entwurf eines Briefes an Rolf Seeliger (1925 – 1995), in dem Kaschnitz begründet, warum sie nicht Ehrenmitglied der „Gruppe 50 – Freie Gemeinschaft junger Autoren im Deutschen Eichendorff-Bund“ werden möchte. Ein Stichwort Eichendorff schien den Machern des Magazins offenbar nicht interessant genug oder durch „Florens“ hinreichend ersetzt. Das ist zu akzeptieren. Im Gedicht „Einiges“ sagt Kaschnitz: „Einiges langweilt mich / Neuerdings: / Von mir selbst zu sprechen / Über mich selbst / Nachzudenken / Mich selbst / Zu beklagen“. Die Menge dessen, was langweilt, nimmt mit den Jahren zu. Falls die Menge dessen, was Neugier weckt, nicht in gleichem Maße schrumpft, ist die Welt noch nicht reif fürs Verlassenwerden. 1974 war für Marie Luise Kaschnitz noch genug Rest. Das Mittelmeer nahe Rom fiel nicht in die Zuständigkeit der Götter. „Siebzigjährig, dem Tode nahe, zeichnete Joseph von Eichendorff in immer neuen Fassungen Erinnerungen an seine frühe Kindheit auf.“ Siebzigjährig war Kaschnitz dem Tode so fern wie nahe.

In „Florens“ hat sie Seite für Seite, Satz für Satz fast, den gesamten Eichendorff parat, sie weiß oder ahnt präzise, wo etwas verwendet wird, neu auftaucht. Sie weiß aber auch, dass die Mühen der späten autobiographischen Versuche, erinnernd in die Kindheit, frühe Jugend und erste Jahre des Wandern in der Welt zu gelangen, den Erfolg eher selten mit sich tragen. Die erinnerte Kindheit des Alters ist nicht die Kindheit des Kindes. „In diesen Tagebüchern findet sich nichts von Träumerei, keine Spur jenes seligen Aufgehens im Zustand des Kindseins, in das sich der Greis erinnernd versetzt.“ Kaschnitz bezieht ganz selbstverständlich die eigene Zeit ein: „Es ist, als habe sich das Leben in jenen Jahren mehr vor allen Augen abgespielt, sei in allen Erscheinungen offener zutage getreten, kräftiger, lärmender, selbstbewusster als in späterer Zeit.“ Das wäre des Nachforschens wert. Kaschnitz tröstet sich geradezu an dem Gedanken, es „… erscheinen in der Liste der zahllosen Theater- und Konzertvorstellungen, denen die Knaben beiwohnten, unter vielen längst vergessenen Stücken die erregenden und ewigen Titel der Schöpfung, der Jungfrau von Orleans, der Minna von Barnhelm und des Wilhelm Tell. Was Eichendorff zu jener Zeit fesselte, war wohl weniger das Kunstwerk als die ganze erregende Welt des Theaters an sich“. Es gab damals Joseph von Eichendorff über lange Zeit nur im Doppelpack mit seinem Bruder Wilhelm von Eichendorff.

Marie Luise Kaschnitz hat genau gelesen: „... das Tagebuch ist Bericht, nicht Geständnis … was diesen Knaben anzog und fesselte, ist im Tagebuch mit unermüdlicher Redelust ausgebreitet, was ihn bewegte, bleibt dunkel“. Und ohne dabei auf sich zu deuten, Verbindendes in Worte gefasst. „Die innere Harmonie, die dem Kinde als ein rechtes Göttergeschenk in die Wiege gelegt worden war, mag der Heranwachsende als eine Gefahr empfunden haben, der er durch Flucht vor der Ruhe und Sättigung des Alltags immer wieder entgegenzuwirken suchte.“ „Was im Tagebuch aufgezeichnet wurde, war noch viel tiefer eingeschrieben in die Erinnerung seiner Sinne und seines Herzens, und wir werden sehen, wie sich aus den Urerlebnissen der ersten Reisen die ganze Welt seiner Gedichte gleich einer zauberhaften Wasserkunst erhebt.“ „Wie von den Motiven der Heimat viele ihren Ursprung in der Kinderzeit hatten, so gehen die meisten der später immer wiederkehrenden Leitbilder von Fernweh und Heimweh, Aufbruch und Einsamkeit auf dieser ersten Welterfahrungen des Jünglings zurück.“ Eichendorff sah Goethe in Lauchstädt, in Halle als Hörer einer Vorlesung: „Goethe war ein ferner Gott, aber auch die Halbgötter Tieck, Steffens und Reichardt blieben dem Studenten der Rechte unerreichbar.“ Die Meeresschwimmerin Marie Luise Kaschnitz beendet beendet ihren Ausflug zu Joseph von Eichendorff auf frappierende Weise.

Sie schreibt: „Das letzte Ziel der Sehnsucht und der Phantasie aber bleibt immer das Meer. Plötzlich liegt es da in seiner schauerlichen Unermesslichkeit und sendet über Wälder und Hügel seinen furchtbaren großen Geisterblick hinaus. Und von seinem Ufer aus tritt man die entscheidende Reise an, die letzte, die in eine unbekannte gewaltige Zukunft führt oder in die große Stille, in den Tod.“ Am 31. Januar 1801, auf den Tag hundert Jahre bevor in Karlsruhe Marie Luise Josephine von Holzing-Berstett als dritte Tochter geboren wurde, notierte der Knabe Eichendorff unter „Pro Memoria. Für das Jahr 1801. Januarius“: „Ein großer Orcan gewesen, und die Frau v. Marwitz Mädel bekommen.“ Den Geburtsnamen von Marie Luise Kaschnitz haben 1974 die italienischen Behörden an ihrem Sarg befestigt, der nach Deutschland überführt wurde. Genau fünfzig Jahre nach ihrem Tod verkündet das schwedische Nobelpreis-Komitee die Preisträgerin für 2024. Es ist die Südkoreanerin Han Kang, geboren am 27. November 1970. Dass die seit 2016 in deutscher Übersetzung erschienenen Werke im Berliner Aufbau-Verlag erschienen und nicht in den üblichen Nobelpreisträger-Verlagen des uralten Bundesgebietes, ist eine gute Nachricht. Einmal immerhin ist auch Kaschnitz dort erschienen: 1984, zehn Jahre nach ihrem Tod. Der Band schloss mit den Gedichten „Diese drei Tage“ und „Abschied von Rom“. Man sollte sie aufschlagen, heute, morgen.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround