Aufnahme ohne Rechtsanspruch

Der 22. März 1967 war ein Mittwoch. Im Rat des Kreises Ilmenau (Bezirk Suhl) hatte eine Kommission getagt mit dem originellen Namen Kreiskommission. Ihre Aufgabe war es, darüber zu befinden, ob Sohn X oder Tochter Y in die Vorbereitungsklassen der Erweiterten Oberschule aufgenommen werden oder nicht. Zur Mitteilung des Befundes hatte eine fleißige Sekretärin einen Standardtext auf Kopfbögen des Rates getippt, Format A 5, man verschwendete noch nicht so viel Papier wie heute, wo allein der Hinweis, dass das Schreiben maschinell erstellt wurde und deshalb ohne Unterschrift gültig sei, ein ganzes A-4-Blatt verschlingt. Der vorbereitete Text lautete: Werter Herr/ Werte Frau … ! Die Kreiskommission hat über die Aufnahme Ihres Sohnes …, Ihrer Tochter … in die Vorbereitungsklasse an der Erweiterten Oberschule Ilmenau beraten. Auf Grund der Leistungen und des Verhaltens Ihres Kindes hat die Kommission die Aufnahme bestätigt. Aus der Aufnahme in die Vorbereitungsklasse kann kein Rechtsanspruch auf Aufnahme in die Erweiterte Oberschule (Klasse 11) abgeleitet werden. Wir wünschen Ihrem Sohn/ Ihrer Tochter für die weitere schulische Entwicklung vollen Erfolg. Mit sozialistischem Gruß i. A. der Kommission.

Das mich betreffende Schreiben war an Herrn Oswald Ullrich gerichtet, Vater des Einzelsohnes mit dem Namen Eckhard, dieser Name war mit etwas stärker abgenutztem Farbband über die Punkte getippt. Unten stand die lesbare Unterschrift Woop, stellv. Kreisschulrat. An Woop kann ich mich noch halbwegs gut erinnern, Vorname Erich, seinen Spitznamen im Rat des Kreises verschweige ich des Schutzes der Privatsphäre wegen an dieser Stelle, auch wenn der Betroffene nicht mehr unter den Lebenden weilt. Oswald Ullrich war selbst für etliche Jahre stellvertretender Kreisschulrat, einige davon sogar erster Stellvertreter, ob er einst auch solche Schreiben unterschrieb, weiß ich nicht. Jedenfalls löste das Papier eine nicht wirklich vorhandene Spannung. Für mich, den Sohn, war es nie zweifelhaft, das Abitur ablegen zu wollen. Dass das an der Goetheschule in Ilmenau erfolgen sollte, war ebenfalls nie zweifelhaft. Der Gedanke, das Abitur mit einer Berufsausbildung zu verbinden, ist mir nie gekommen. Wäre ich freilich auch nur ein Jahr älter gewesen, hätte ich darüber nicht nachdenken müssen, denn auch die Abiturienten an Erweiterten Oberschulen, nicht nur an Berufsschulen mit Abiturzweig, erlernten da noch nebenbei einen meist sehr tollen Beruf.

Der vielleicht berühmteste Abiturient dieser Ära ist der Rinderzüchter Gregor Gysi. Doch für das Jahr 1967 hatte man sich höheren Ortes etwas vollkommen Neues ausgedacht, eben diese so genannten Vorbereitungsklassen. Die hatten die ersten zu sein, die zum Abitur und zu nichts als dem Abitur führten. Für Schüler der Polytechnischen Oberschulen, die bis zum Abschluss der zehnten Klasse führten, hieß es nunmehr, mit einer entsprechenden Befürwortung seitens dieser Schulen sich zu bewerben. Ob es Gewohnheitsrecht war oder geschriebene Satzung, weiß ich nicht, es bedeutete jedenfalls für meine Oberschule in Gehren, dass aus jeder achten Klasse, von der es genau drei gab, genau drei Schüler die Chance hatten, die Goetheschule zu besuchen, falls die Kreiskommission, siehe oben, ihren natürlich nicht nur von Leistung und Verhalten abhängigen Segen dazu gab. So weit meine Erinnerungen reichen, verkörperten die je drei Delegierten aus den Klassen 8a, 8b und 8c tatsächlich die besten Schüler, nur in meiner Klasse ging schließlich der Viertplatzierte, weil die Drittplatzierte kein Abitur machen wollte. Wer dann nach Abschluss der 10. Klasse noch an einer Berufsschule die so genannte Hochschulreife erwarb: ich weiß es nicht.

Ob man eine formlose Bewerbung zu schreiben hatte oder ob ein Fragenkatalog zu beantworten war, ist mir nicht mehr geläufig, ich erinnere mich aber, dass ich als Studienwunsch das Fach Physik nannte, was mich schon sehr bald verwunderte bis belustigte. Es ging immerhin das Gerücht, dass bestimmte Studienwünsche sich besonders förderlich auf die Entscheidung der Kommission auswirken sollten, Physik war vermutlich nicht darunter, eher wohl schon das Lehrer-Studium oder die militärische Laufbahn an einer Offiziersschule. Wir hatten in Gehren zwar einen, der den Dienst in der NVA vermied, in dem er sich dem Ministerium für Staatssicherheit zur Verfügung stellte, einen Offiziersbewerber brachte dieser Jahrgang jedoch nicht hervor. Ehe ich von Gehren nach Ilmenau wechselte, errang ich noch die beiden einzigen beurkundeten Sport-Erfolge meiner unsportlichen Lebenslaufbahn. Mit einer Laufzeit von 14:01 min. landete ich beim Schulsportfest Wintersport in der Disziplin Langlauf (Tourenski) der Klassen 7 und 8 auf Platz 2. Das Geheimnis dieser unfassbaren Platzierung besteht darin, dass in dieser Disziplin nur vier Starter antraten, von denen zwei disqualifiziert werden mussten, ich lief genau doppelt so lange wie der Sieger.

Das war am 13. Februar 1967 und die Urkunde trägt seltsamerweise neben den Namen des Schuldirektors und des Sportlehrers auch bei Pionierleitung eine Unterschrift, obwohl ich da schon volle vier Monate gar kein Pionier mehr war. Vermutlich war die Pionierleiterin einfach gerade so schön beim Unterschreiben und geschadet hat es mir schließlich nicht. Vom 2. Juni 1967 stammt die zweite Urkunde. Hier fehlt die Pionierleitungsunterschrift und der Sportlehrer hat gewechselt. Ich belegte in den Klassenstufen 8 bis 10 in der Disziplin Schach den dritten Platz. Wie viele Teilnehmer es da gab und wie die Plätze ausgespielt wurden, weiß ich nicht mehr, sehr wohl aber, dass ich ein Weilchen semiprofessionell, wie ich heute sagen würde, organisiert Schach spielte. Ich besaß eine Reihe von Schachbüchern und spielte emsig berühmte Partien nach. Mein Talent hielt sich offenbar in sehr überschaubaren Grenzen, denn ein Versuch, im studentischen Schach der Humboldt-Universität an alte Betätigungen anzuknüpfen, fiel einer peinlichen Niederlagenserie zum Opfer. Wer verliert schon gern am laufenden Meter gegen Leute, denen er fachphilosophisch dem eigenen Empfinden nach haushoch, wenigsten einfamilienhaushoch überlegen ist? Ich nicht.

Mit welchem Zeugnis ich schließlich in die Vorbereitungsklasse kam, kann ich leider nicht mehr überprüfen. Ich verweise auf das Ende meines kleinen Rückblicks auf die Jugendweihe an dieser Stelle. Immerhin zeichnete ich, wenn ich die verwendeten Stiftfarben richtig deute, als das Zeugnis mir noch zur Verfügung stand, ein Diagramm mit den Durchschnittsnoten. Das Diagramm weist vom Ende der achten Klasse zum Halbjahreszeugnis der neunten Klasse etwas aus, was man im Börsendiagramm Crash nennen würde. Ohne Kopfnoten von 1,44 auf 1,83, mit Kopfnoten von 1,47 auf 1,79. In Numerus-Clausus-Zeiten und -Gegenden hätte ich mich damit im Staub vor Dekanen wälzen müssen, hier aber, in der niedlichen kleinen DDR war ich ein Guter, wobei meine Güte den Zusammenbruch der DDR nicht verhindern half. In der Vorbereitungsklasse war ich dann ein Versuchskaninchen. Wir alle waren Versuchskaninchen. Genauer: wir waren Gegenstand eines pädagogischen Experiments, welches einem ehemaligen Schuldirektor zum Doktortitel verhelfen sollte. Und meine Klassenlehrerin, jene, die kürzlich starb, vollzog an uns den praktischen Teil des Experimentes. Wenn ich deshalb hier schreibe, das wäre eine andere Geschichte, ist das ein Kliffhanger. Was das ist, weiß ich dank eines freundlichen Lesers, der Aufklärungen liebt.


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