Carl J. Burckhardt zum Beispiel
Auf Carl Jacob Burckhardt kann man zurückgreifen. Bei Bedarf fast immer. Als er am 3. März 1974 starb in Vincel, Kanton Waadt, hätte mir die Todesnachricht nichts gesagt. Vertrauter war mir der Name Carl Christoph Burckhardt, weil von ihm zwei auffällige Bände im verglasten Bücherregal meiner Eltern standen: die „Kulturgeschichte Griechenlands“ und „Die Kultur der Renaissance in Italien“, später erwarb ich für meine eigene Bibliothek „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, vorher noch „Vorträge zur Kunst- und Kulturgeschichte / Erinnerungen an Rubens“. Natürlich ahnte ich nicht, dass ich eines Tages die Schweiz mit Eifer in alle Richtungen und Kantone bereisen würde, auch durch Vincel bin ich gekommen und kannte zuvor schon guten Wein von dort. Dass Carl Jacobs Vater auch Carl Christoph hieß wie der Historiker und Carl Jacob dessen Großneffe wurde, nun ja: Feinheiten, die mich 1974 wenig berührt hätten, wäre ich auf sie gestoßen. So aber war die Rede, die Carl Jacob Burckhardt zum 150. Todestag von Friedrich Schiller hielt, mein Erstkontakt. Inzwischen besitze ich sie nicht nur in dem Ernst-Klett-Band „Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955“, sondern auch in zwei Burckhardt-Bänden: „Bildnisse“ (S. Fischer 1959) und „Betrachtungen und Berichte“ (Manesse 1964), man könnte es eine solide Textgrundlage nennen, muss aber nicht.
Immerhin, Carl J. Burckhardt, so in der Regel die Wiedergabe seines Namens, bekam von Bernhard Zeller, dem Herausgeber der Reden im Auftrag der Deutschen Schillergesellschaft, den zweiten Platz im Buch zugewiesen, gleich nach Thomas Mann und vor allen weiteren zwanzig Rednern, unter denen sich etliche ausgewiesene Schiller-Experten fanden, Verfasser wegweisender Schiller-Bücher, auch der Regisseur Gustav Rudolf Sellner war darunter, der natürlich über „Schiller und die heutige Bühne“ sprach. Burckhardt gab seiner Rede den Titel „Schillers Mut“. Und wies dem meist nur als unvollendetes Nebenwerk gesehenen „Der Geisterseher“ überragende Bedeutung zu: „Wir besitzen innerhalb unserer Sprache kaum einen klügeren, scharfsinnigeren Versuch intellektueller Subtilität, um gewissen Hintergründen jeder politischen Macht nahezukommen.“ Von „Don Carlos“ schreibt er: „Hier, ohne es eingestehen zu wollen, wird Schiller selbst aufs tiefste ergriffen von der Verlorenheit der Liebeswelt in der Welt des Verrats. Hier entsteht eine große Atmosphäre wie vielleicht in keinem seiner Stücke jemals wieder in diesem Ausmaß: Anschauung wirkt, spanischer Barock gilt.“ Natürlich kennt der Historiker Burckhardt auch den Historiker Schiller und die beiden Meisterwerke „Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ und „Der Abfall der Niederlande.“
Es wäre wundersam, wenn der Schweizer Burckhardt den Schweizer „Wilhelm Tell“, wie ihn Schiller sah und bildete, nur nebenher erwähnt hätte. Das aber hat er nicht. „Die Intuition, die Schiller von den entscheidenden Völkereigenschaften innerhalb des europäischen Raumes besitzt, ist immer wieder erstaunlich. Er hat Europa in seinen Dramen umkreist. Im „Wilhelm Tell“, dem unschätzbaren dichterischen Geschenk, das meiner eigenen Heimat gemacht wurde, ist ein entscheidendes Element eines Volkes, der geschichtsbildende Anstoß vom Bündnis zum Bunde, einmalig sichtbar gemacht.“ Für Burckhardt verfügte Schiller über „das ihm eigentümliche politische Genie, das er mit keinem anderen deutschen Dichter teilt“. Und auch das galt ihm ohne Einschränkung, ohne Entschuldigung: „Schiller ist kein Umgang für alle Tage; dieser irrtümlich vertrauliche, ja triviale Umgang hat sein Bild gefälscht, hat sein Wort verbraucht und entstellt. Er ist, innerhalb unseres deutschen Sprachraumes, einer unserer Nothelfer, als solcher stieg er immer wieder auf zur reinsten Lebensquelle, zum Licht.“ Seine Rede hielt Burckhardt am 9. Mai 1955 zuerst anlässlich der Schiller-Gedenkfeier der Freien Universität Berlin; er wiederholte sie in Wien, Heidelberg, Zürich, Basel. Die Erstveröffentlichung besorgte die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart.
In einem Brief an den Physiker Werner Heisenberg (5. Dezember 1901 – 1. Februar 1976) fand ich diesen bemerkenswerten Satz: „Nach meiner Erfahrung nährt sich das historische Urteil aus Einzelheiten und nicht aus gerecht abwägenden Synthesen.“ Burckhardt schrieb das am 25. August 1969. Und am 30. November 1971, wieder an Heisenberg: „Zukunft war mir immer ein sehr merkwürdiges Wort, weil es das auf uns Zukommende, also schon Vorhandene bezeichnet.“ Dem Bildhauer und Grafiker Gerhard Marcks (18. Februar 1889 – 13. November 1981) berichtete Burckhardt von einer Afrika-Reise, die er sich gegönnt hatte nach Abschluss der viele Jahre beanspruchenden Arbeit an seinem Groß-Projekt „Richelieu“ (3 Bände plus separater Band IV für Nachwort und Apparat). Dort lesen wir: „Die schönsten Menschen der Schöpfung sind die Massai. Jeder junge Stammesangehörige muss, um den Rang des Kriegers zu erhalten, einen Löwen mit dem Speer getötet haben. Ein Herrenvolk, ein deshalb aussterbendes Volk, jetzt schon, wie die nordamerikanischen Indianer, auf Reservate angewiesen.“ Auf solche Sätze kann heute der letzte Depp mit Einwänden reagieren, die ihm Beifall von anderen Deppen einbringen. Wer bitte sagt denn Indianer, ohne rot zu werden? Wer Herrenvolk, ohne das alternative Damenvolk zu erwähnen?
In gewissen Abständen kommen Menschen auf solche Ideen: das Verwenden bestimmter Elemente einer Sprache spreche gegen den Verwender, wenn die Elemente in posthumer Diktierfreude nur noch negativ bewertet werden. Dergleichen steht nicht nur jeder Kommunikationstheorie von leidlicher Hirnhaltigkeit, sondern auch jeder Kommunikationspraxis diametral entgegen. Man benötigt einen gemeinsamen Zeichenvorrat, um miteinander zu kommunizieren. Wer sich eigene Kunst- und Neusprachen ausdenkt, darf sich nicht über unerwünschte Nebenwirkungen wundern. Jemand, der das Wort Herrenvolk benutzt, ist natürlich kein Vertreter einer Herrenmenschentheorie, wer Indianer sagt, denkt womöglich eher an Cowboys als an späteiszeitliche Kontinentalwanderer auf der Suche nach Lebensraum. Was ja ebenfalls schon wieder sehr problematisch wäre, denn für das Wort Lebensraum liegt auch kein vom Bundesrat abgesegnetes Verwendungszertifikat vor. Carl Jacob Burckhardt war in seinem Leben viele, nicht wenige Jahre Diplomat. Die höchste Kunst der Diplomatie, vermute ich ungeschützt, ist Kommunikation in Zeiten des Schweigens der öffentlichen Glockenspiele, der Kommunikationslosigkeit. Will ich mit einem Türken über Kurden reden und weiß nicht, dass der Kurden gar nicht kennt, weil sie ihm Bergtürken sind, werde ich kaum gehört.
Diese Wendung steht natürlich nicht zufällig an dieser Stelle, denn im Jahr 1923 wurde Burckhardt mit einer Mission betraut, die ihn nach Kleinasien führte. Was er dort wirklich zu tun hatte, was er dort wirklich erlebte, und das muss man ihm vorwerfen, spiegelt sich nicht in seinem Büchlein „Kleinasiatische Reise“ wider. Auch wenn der Verfasser des Burckhardt-Artikels in meinem Killy offenbar ohne jede Textkenntnis das dreiste Gegenteil behauptet, „die Rückführung der griechischen Gefangenen aus der Türkei“ spiegele sich dort: nein, das tut sie nicht. Burckhardt hat auch keineswegs, wie derselbe Verfasser, ich verschweige seinen Namen hier aus Rücksicht auf seinen Ruf, behauptet, bei Arnold Wölfflin, Karl Brandi und Edmund Husserl Geschichte studiert. Einen Arnold Wölfflin gab es gar nicht, dafür den Maler Arnold Böcklin und den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, Karl Brandi war tatsächlich Historiker und lehrte auch Geschichte, was man von Edmund Husserl wiederum nicht behaupten kann, denn die von ihm begründete Phänomenologie ist eher ahistorisch. Das könnte man wissen, wenn man für Lexika schreibt. Die „Kleinasiatische Reise“ dokumentiert vor allem einen hohen literarisch-poetischen Ehrgeiz ihres Verfassers, der ihn zu schwingenden, langen Satzperioden verführt, die urplötzlich mit arg schrägen Bildern aufwarten.
Beschreibung ist das Element, Landschaften, Farben, bisweilen auch Menschen erscheinen im Fluss der Sätze und dazu ein wiederkehrendes Personal. Über genau dieses aber schweigt sich Burckhardt weitgehend aus. Der Leser erfährt weder, warum diese Kleingruppe die Reise überwiegend zusammen absolviert, noch warum der eine oder andere bisweilen vorausfährt, zurückkehrt. Dazu müsste man wissen, welche Funktionen die Reisenden auszufüllen haben, wer ihre Ansprechpartner sein sollten, mit welchen davon sie auch tatsächlich ins Gespräch und dann vielleicht zum Ergebnis gelangten. Burckhardt hat zunächst einen Gesamtbericht verfasst für seine Auftraggeber und dann, so ist zu lesen, auf Anraten Hofmannsthals, den poetischen Teil separiert für eine gesonderte Publikation. Das nur Poetische aber ist letztlich kaum etwas anderes als vollständig vom Knochen gelöstes Fleisch. Verräterisch sind die Reaktionen auf die Veröffentlichung: alle reden von der Sprache, von der Prosa, niemand verliert ein Wort über das Ziel und den tatsächlichen Inhalt der Reise. Man bleibt bei der Form und ist damit in einem sehr engen Zirkel: Hofmannsthal berichtet von Professoren und deren Gattinnen, die angeblich völlig begeistert waren. Und gleich mehrfach in Folge den Text lasen. Ich gestehe unumwunden: einmal hat mir völlig gereicht, mehr will nicht rein.
Und, um das gleich vorwegzunehmen: einen ähnlichen Effekt gibt es mit Burckhardts Erinnerungen an Hugo von Hofmannsthal. Man liest zu schnell über die Titel hinweg. „Erinnerungen an Hofmannsthal“ heißt die erste anlässlich des 70. Geburtstages 1944, „Erinnerung an Hugo von Hofmannsthal“ die zweite anlässlich des 80. Geburtstages 1954. Es sind unterschiedliche Texte, ihr Verfasser hat wohltuend darauf verzichtet, bei sich selbst abzuschreiben. Allerdings ist es ratsam, den ersten zuerst zu lesen, er erinnert in seiner Bemühtheit noch sehr stark an die „Kleinasiatische Reise“ und ist, um es freundlich zu sagen, nicht immer sehr klar. Der zweite Text bringt eine Aufhellung des Stils, man freut sich über Aussagen, mit denen etwas anzufangen ist. Vielleicht hat gar der Stil Hofmannsthals selbst unglücklich als Vorbild gewirkt. Wer dessen „Augenblicke in Griechenland“ kennt, wird über ganze Seiten mehr beschreibenden Stilwillen als pure Faktizität vorgefunden haben. Falls ihm das genügt oder er darin gar überhaupt das Ziel solcher Prosa sieht, wird er begeistert sein wie die lesenden Professoren. Wer Hintergrund braucht, weil er eben kein Experte für den griechisch-türkischen Krieg von 1919 – 1922 ist, weil ihm auch der Frieden von Lausanne wenig sagt, den lässt Burckhardt mit seinem Büchlein ebenso allein wie Hofmannsthal.
In einem Brief an Hofmannsthal aber gibt es ein Schlaglicht auf das profane, auf das unpoetische Reiseerlebnis. Nicht die dichte Reihe von Gastmählern, die folkloristischen Darbietungen, die Düfte auf den Dächern, nicht einmal der ständig betrunkene Ingenieur sind es. Die Rede ist da von Eskischehir, „wo die Hunde griechische Leichen aus dem Staub der Pisten rissen.“ Am 4. August 1923, schon wieder in Venedig auf der Heimreise, informierte Burckhardt seinen Freund: „... wir durchfuhren Anatolien in die Kreuz und Quer, nächtigten unter freiem Himmel und in Karawansereien, fanden die Kriegsgefangenen in elendem Zustand, fast alle malariakrank … im verwüsteten Smyrna machten wir Aufenthalte und leiteten den Rücktransport der Gefangenen ein. Es war auch möglich, eine gewisse Mäßigung in der Durchführung des erzwungenen, ungeheuerlichen Exodus der vertriebenen griechischen Zivilbevölkerung zu erreichen.“ Wer etwas Geschichtsunterricht braucht, kann über Mustapha Kemal, dem 1934 per Gesetz der Nachname Atatürk verliehen wurde, nachlesen: „... er leitet den furchtbaren Vorgang der Entwurzelung und Vertreibung uralter Völkerschaften, er mordet Armenier, Kurden und Tscherkessen. Die Siegermächte, sich gegenseitig beargwöhnend und betrügend, sehen zu. Er wird Schule machen.“
1991, der 100. Geburtstag von Burckhardt, war zu begehen, legte Paul Stauffer (7. April 1930 – 18. Oktober 2008), ein Schweizer Diplomat und Historiker, in Zürich im Verlag der NZZ sein Buch „Zwischen Hofmannsthal und Hitler. Carl Jacob Burckhardt. Facetten einer außergewöhnlichen Existenz“ vor. Dem SPIEGEL (Nr. 39 vom 23. September 1991), war das immerhin drei Seiten wert, mit zwei Fotos und zwei Anzeigen garniert. Das Hamburger Fachblatt für personenbezogene Ansehens- und Ruf-Demontage ließ gleich unter die Überschrift „Grandiose Anpassung“ den Pseudo-Vorspann setzen: „Der Schweizer Essayist und Diplomat Carl Jakob Burckhardt war ein eitler Geschichtsklitterer und Dokumentenfälscher“. Und behauptete, Stauffer habe das Denkmal seines Landsmanns vom Sockel gestoßen. Wir reden nicht über diese abgenutzteste aller Floskeln für dergleichen Vorgänge, damals erschienen Beiträge noch anonym. Auch nicht davon, dass der „gelernte Historiker“ Stauffer eine Paraderolle „demontiert“. Denn ihm blieb als Schweizer Botschafter in Warschau, der nie als Historiker gearbeitet hatte, offenbar genug Zeit, in Archiven zu sitzen, um vermeintliche oder auch tatsächliche „Klitterungen“ in genau dem Buch zu finden, das er selbst knapp 30 Jahre zuvor im Deutschen Taschenbuch Verlag München herausgegeben hatte.
Die Enthüllungen, die das Nachrichten-Magazin herausgriff, das in engeren Kreisen bisweilen auch „Bild-Zeitung für Intellektuelle“ genannt wird, reißen nur den aus seinen Pantoffeln, der in ihnen schon auf den Fußspitzen wippt, wenn ihm Sockelstöße versprochen werden. Ein Kronzeuge der Anklage trägt den klangvollen, verglichen mit Burckhardt aber geradezu hyper-vorbelasteten Namen Ernst von Weizsäcker. Der es immerhin bis zum angeklagten Kriegsverbrecher brachte. Und man liest, wie es so zugeht: der eine kennt den, die andere jenen und am Ende gibt es einen Posten oder nicht. Ob gedrängt oder nicht gedrängt: letztlich ist am Amt des Völkerbund-Kommissars in Danzig die Ausfüllung des Amtes wichtig und nicht, ob seine Frau jemanden kannte, der jemanden kannte. Dass Carl Jakob Burckhardt beim Besuch im KZ Esterwegen Carl von Ossietzky traf, ist Tatsache. Daraus eine freie Erfindung zu machen, wie es der SPIEGEL unter Berufung auf den Buch-Autor Stauffer macht, ist schon starker Toback, zumal wenn das Argument dafür der Tag der Nobelpreisverleihung sein soll. Die ist tatsächlich auf den 23. November 1936 datiert, der KZ-Besuch am 22. Oktober 1935 galt also keinem bereits ausgezeichneten Preisträger, wohl aber einem Mann, für den die weltweite Verleihungs-Kampagne bereits seit reichlich anderthalb Jahren lief.
Zu den vermutlich dümmsten und schändlichste Sätzen, die je die Hamburger Endredaktion passieren durften, gehört: „die Vorführung des Star-Häftlings gehörte zum normalen Ritual bei KZ-Besuchen“. Wir Älteren erinnern uns: Kraft durch Freude bot mehrmals im Jahr klimaneutrale KZ-Reisen mit der Bahn an, die Teilnehmer durften in echten Häftlingsbaracken echte Wassersuppe löffeln, durften den einen oder anderen Spatenstich im Moor setzen und bekamen dann den einen oder anderen Star-Häftling gezeigt. Leider ist nicht überliefert, ob auch Erich Mühsam bisweilen vorgeführt wurde, eher er sich in der Latrine erhängen musste, auf alle Fälle wäre auch er ein Star-Häftling gewesen, hätte man zwischen 1933 und 1945 in Deutschland in solchen Schwachsinns-Kategorien überhaupt gedacht. Dann aber schlägt der SPIEGEL noch einmal zu: „Burckhardts Interventionen für die KZ-Insassen beschränkten sich im übrigen auf den Wunsch nach Trennung der Kriminellen und Homosexuellen von den politischen Gefangenen. Die Berechtigung der Lager stellte er nie in Frage.“ Hier steckt die ganze Infamie eines Journalismus in der Reihenfolge der Häftlingsgruppen. (Oder jämmerlicher Kleingeist eines Enthüllers mit Schweizer Diplomatenpass.) Was aber soll es besagen, wenn sich Burckhardt mit einem gut verstand, der später wütete?
Wir im Unrechtsstaat sind fast alle in der Situation, dass wir mit einem am Reck turnten, mit einer im Chor sangen, einen in Mathematik abschreiben ließen während unserer Schulzeit, der später als Stasi-IM wütete. Besagt das etwas gegen uns? In der perfiden und idiotischen SPIEGEL-Logik: ja. Eine rühmliche Rolle hätte aus dieser Perspektive Carl Jacob Burckhardt nur spielen können, wenn er gleich neben dem Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ eine Unterschriftenaktion gestartet hätte gegen Himmler und Hitler und (nach Bedarf ausfüllen). Als mit Zeitverzögerung in Danzig Synagogen brannten, brach Burckhardt seinen Jagdausflug nicht etwa ab: „an eine vorzeitige Rückkehr dachte er nicht.“ Das ist früher Claas Relotius, nicht aber Journalismus, der diesen Namen verdient. Schande über alle 1991 im September verantwortlichen Redakteure! Vielleicht hat ja Marion Gräfin Dönhoff unbeabsichtigt 1974 anlässlich des Todes von Burckhardt eine einfache Wahrheit zu gelassen ausgesprochen: „Burckhardt war durch und durch konservativ. Er hielt fest am Überkommenen, hatte einen untrüglichen Sinn für Qualität, der nie durch die Alternative „modern“ angefochten wurde. Er hasste Leute, die Modernität für ein Argument hielten.“ Die haben dann, ob es genau seit 5.45 Uhr war, ist nicht überliefert, zurück gehasst. Das war ihr schlechtes Recht!
Im übrigen gab es eine Stauffer-Dönhoff-Kontroverse, zu der sich, wer Bedarf hat, positionieren kann. Ich habe keinen Bedarf. Ich hätte mich eher gefreut, wenn der Klitterungsexperte Stauffer nachgewiesen hätte, wie und wo Carl Jacob Burckhardt dem Kardinal Richelieu die falsche Strumpffarbe zuschrieb, dazu hätte er sicher 30 Jahre (und mehr) gebraucht; wie Burckhardt selbst für sein Hauptwerk. Marion Gräfin Dönhoff vorzuwerfen, dass sie keine Kämpferin gegen Hitler gewesen sei, ist noch dann ein billige Nummer, wenn sie selbst den falschen Eindruck von sich billigend in Kauf genommen hätte. Vielleicht hat sie aber später tatsächlich von sich geglaubt, widerständig gewesen zu sein. Ich habe ehemalige SED-Parteisekretäre getroffen, die mir stolz berichteten, wie sie es einst denen in der Bezirksleitung gegeben haben. Ich traf Leute, die bitter enttäuscht waren, weil es keine Stasiakte über sie gab. Sie erzählten dann, wie sie jeden Sonnabend in der Bahnhofskneipe böse Witze über Honecker erzählt hätten. Widerstand ist relativ: wir kennen das. Wer den Reisschnaps in China verweigert beim Staatsbesuch, weil dort die Uiguren unterdrückt werden, gilt sich selbst als Held und erzählt das beim Sektempfang in der Botschaft Ugandas gern. Wo selten jemand unterdrückt wird. Im Verfahren folgt jetzt der Zeugenaufruf Hans Bachmann.
Bachmann (1. Juli 1912 – 7. Juli 1997) war von 1942 bis 1945 persönlicher Sekretär von Carl Jacob Burckhardt in Genf, was ihn nicht zum Belastungszeugen prädestiniert, es sei denn, es schwele ein Motiv später Rache in ihm, was mir nicht bekannt ist. Er schrieb ganz unspektakulär über seinen ehemaligen Chef: „Im Verzicht auf wirkungslose Proteste fand sich Carl Burckhardt mit dem Präsidenten der Institution, Max Huber, durchaus einig: Das IKRK ist kein Weltgewissen, sondern eine Hilfsorganisation, die sich für die von ihr zu betreuenden Opfer einzusetzen hat.“ Wie wunderbar einfach kann man einfache Wahrheiten aussprechen! Burckhardt wusste, und das zitiert Bachmann, „dass durch eine einzige, unvorsichtige und billig demonstrative Handlung das ganze weltumspannende Hilfswerk aufs Spiel gesetzt werden kann.“ Heute aber kommen bestenfalls die billig demonstrativen Handlungen in die Abendnachrichten. Laut Bachmann gehört zum Verdienst Burckhardts in Danzig ein „Aufschub in der Verfolgung der Juden, deren großer Teil durch Auswanderung so ihr Leben retten konnte.“ Das zum Beispiel hat Paul Friedrich Stauffer nicht entkräftet, sonst hätte es der SPIEGEL breitgewalzt 1991. Auch nicht, dass Burckhardt die Versorgung Griechenlands mit kanadischem Weizen bewirkte: es passt so wenig ins Wunschbild.
Dafür zitiert Bachmann aus einem Brief Burckhardts an Ernst Gagliardi (7. Januar 1882 – 22. Januar 1940): „Man verhindert vieles, wendet manches, rettet dies und jenes, aber was in Erscheinung tritt und wofür man verantwortlich bleibt, ist nur, was man nicht zu vollbringen vermag.“ Zyniker nennen das Gerechtigkeit in der Geschichte. Das steht ganz auf der Linie des oben schon einmal verwendeten Zitats, das ich hier in voller Absicht wiederhole: „Nach meiner Erfahrung nährt sich das historische Urteil aus Einzelheiten und nicht aus gerecht abwägenden Synthesen.“ Man muss verstehen, dass hier eben nicht dem historischen Urteil, wie es ist, das Lob gesungen wurde. Vielleicht formuliert es nicht einmal ein Wunschbild. Carl Zuckmayer etwa lobte anlässlich des 80. Geburtstages von Burckhardt dessen Erzählungen: „Viele seiner schönsten Erzählungen“ heißt es da, als gäbe es überhaupt viele und von diesen wiederum viele schönste. Das ist aber nicht der Fall. Burckhardt selbst schrieb über Annette Kolb 1958, weitab von irgendeinem runden Feiertag: „Sie hat sehr viel Humor, aber sie benützt ihn nie dazu, Späße zu machen, sondern nur zum Ausgleich alles Grellen und Gespannten. Ihr Humor des Herzens tilgt jede Sentimentalität und verleiht auch dem Mitleid verständige Würde“. War das auch ein wenig pro domo geschrieben?
Zum Ende dieses Versuchs bleibt die Offenlegung eines völlig unwichtigen Klein-Geheimnisses: Vor zehn Jahren, im Mai 2014, war ich schon einmal nahe daran, Carl Jacob Burckhardt einen Text zu widmen. Ich las in „Bildnisse“ sein „Shakespeares Jago“ mit dem Hintergedanken, etwas dazu in ein Buch einzubringen, das ein Verleger bereit war zu machen. Nur kam bei mir nicht rechtzeitig genug das Material zusammen und dann anderes dazwischen. Lese ich heute über meine alten Markierungen und Unterstreichungen hin, dann sehe ich, dass ich Burckhardts Expertise damals wahrscheinlich nicht hoch genug geschätzt hätte. Zu viel naives Lob oder auch zu viel verkennende Einwände hätte ich wohl versammelt. Heute zitiere ich, was er am Ende über Desdemona schrieb: „Sie ist wie der Sandelbaum, dessen Holz noch der Axt, die ihn fällt, seinen Duft leiht. Sie ist eines jener Wesen der Unschuld, wie sie als wunderbare Genien aus Shakespeares Seele hier und dort in die Welt seines Werkes niedergestiegen sind, um die unerbittliche und furchtbare Wahrheit, die diesem Dichter überall eigen ist, auf Augenblicke mit dem Leben zu versöhnen.“ Ich wünschte manchem Holzfäller mehr Kontakt mit Sandelbäumen. Im Umkreis von Denkmalsockeln riecht es öfter nach Schweiß und Urin, dabei gibt es Sandelholzduft sogar in handlichen Duschgel-Formaten.