Rodolphe Töpffer, Genfer Geschichten

Die ganz große Keule herauszuholen, ist in diesem Falle sehr einfach. Denn 1799, als dieser Rodolphe Töpffer geboren wurde in Genf, wurde im Nachbarland Frankreich, in Tours, einer geboren, der den Vornamen Honoré erhielt, Honoré de Balzac. Töpffer, vier Monate älter als Balzac, starb 1846 vier Jahre eher als jener, beide sind auch nach damaligen Maßstäben also nicht alt geworden. Und hält man beider Namen, mehr aber natürlich beider Werk, nebeneinander, dann ist die Frage schon entschieden, bevor sie überhaupt gestellt wurde. Neben Balzac, dem literarischen Montblanc der ersten Jahrhunderthälfte, scheint Töpffer allenfalls ein Maulwurfshügel.

Die biografische Notiz am Ende des Bändchen, von dem hier die Rede sein soll, sagt ganz schlicht: „Seine Zeichnungen und Novellen sind hervorragende Zeugnisse des frühen Schweizer Biedermeier.“ Das kann man als Lob interpretieren. Würde aber voraussetzen, dass frühes Schweizer Biedermeier im Gegensatz zum mittleren und späten Schweizer Biedermeier, lassen wir das. Bei Biedermeier fällt wahrscheinlich keinem Menschen die Schweiz ein. Oder nur die Schweiz. Während mir zum Beispiel Georg Lukacs einfällt, ich bitte um Entschuldigung, dass mir so etwas einfällt, ich habe leider kein westdeutsches Reformgymnasium besuchen können, schäme mich deshalb nicht ordnungsgemäß, wenn ich etwas weiß und verberge es auch nicht bescheiden, damit sich niemand auf seinen nicht vorhandenen Schlips getreten fühlt.

Lukacs also, 1885 geboren, fragt in seiner „Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur“: „Was ist aber das Biedermeier anderes als die Vorherrschaft der romantischen Ideologie in der Masse, als das Eindringen der Romantik in das deutsche Spießertum?“ Und er setzt fort: „So entstand die folgenschwerste Verdunkelung des deutschen Geistes...“. Gemach, gemach. Wir halten uns mal gar nicht lange mit der Überlegung auf, dass Töpffer ja französisch schrieb und deshalb erst ins Deutsche übersetzt werden musste, ehe er in das Verdunkelungsgeschäft einsteigen konnte. Die Schweiz würde sich außerdem, vermutlich, bedanken, für solche Einvernahmen. Der Töpffer aber, in dem manche auch einen der stillen Gründerväter des europäischen Comic sehen möchten, hat Geschichten geschrieben, bei denen allein schon der Maikäferfreund ungeschmälert auf seine Kosten kommt. Auf die Gefahr hin, dass Maikäferfreunde nicht zu den klassischen Literaturexperten gezählt werden von der zeitgenössischen Literatursoziologie, verschweige ich es nicht: Ich bin ein Maikäferfreund.

Der Maikäfer auf meiner Zeigefingerspitze, fühlerschwenkend, während seine kratzig-hakigen Füße in den Papillen Halt finden, ersetzt im Zweifelsfalle, mir jedenfalls, ein halbes Sparkassen-Foyer voller zeitgenössischer Grafik. Das Problem: in Ilmenau saß der letzte Maikäfer auf meinem Finger in den späten sechziger Jahren, weiß der Teufel, wer die ausgerottet hat, weshalb ich doch bisweilen auf Sparkassen-Grafik ausweichen muss. Rodolphe Töpffer nun hat in „Die zwei Gefangenen“ den erzählenden jungen Helden auf die Idee kommen lassen, einen Maikäfer mit Schreibtinte in Kontakt zu bringen, wobei die Versuchsanordnung irgendwann dazu führt, dass der Käfer komplett in die Tinte stürzt und nach Rettung seines Lebens eine bibliophil wertvolle Elzevirausgabe der Schrift versaut.

Man kann einwenden, dass damit die Probleme der heraufkommenden bürgerlichen Revolution in Zentraleuropa und insbesondere die Rolle der Arbeiterklasse bei der Überwindung von Verhältnissen, in denen der Mensch des Menschen Wolf ist, nicht hinlänglich prägnant und zum revolutionären Handeln auffordernd, dargestellt sind. Der jugendliche Erzähler, der sich auch noch in ein Mädchen verliebt und deshalb zum Einbrecher in ein Maleratelier wird, weil er ihr dort entstandenes Portrait sehen möchte, der schließlich den Einflüsterungen eines Ganoven folgend, nicht nur eine Bibel, sondern auch eine Feile ins gegenüber liegende Gefängnis schmuggelt, was dem Wachpersonal letztlich nicht entgeht und den jungen Helden zur Flucht aus Genf in Richtung Lausanne zwingt, hat außerdem noch ganz erstaunliche Gedanken. Über Literatur zum Beispiel, Dichter, die leiden, obwohl sie noch gar nichts erlitten haben. Die möglicherweise nur leiden, weil sie dichten. Am Ende geht es gut aus.

Rodolphe Töpffer scheint eine gewisse Neigung zu guten Ausgängen zu haben. Ich gestehe, dass ich das sehr gut verstehen kann. Und eine Geschichte, in der Bauern aus Savoyen zu einem Mann pilgern, ihrem Pastor und dem Bürgermeister folgend, weil der Mann von Schmugglern an eine Lärche gebunden wurde, an der er noch gebunden steht, weil weder der erste Bauer, der ihn findet, noch der Bürgermeister, ihn einfach so losbinden wollen, so vollkommen voraussetzungslos, das ist eine Geschichte, die mich sehr erheitert, sehr. In dieser Geschichte erfährt man auch von der Sprengung von 17 Familienvätern, die auf Pulversäcken saßen. Und an anderer Stelle von einem Franzosen, dessen kombinierter Sitz-Regenschirm zusammenbricht, der aber, wen wundert es, kochen kann, nochmals: kochen kann. Hilfsbereit ist und galant. Zwei von Töpffers Helden gestehen, dass sie furchtsam sind. Das ist eine sehr lobenswerte Eigenschaft, nicht nur weil Dieter Nuhr kürzlich in einer großen Zeitung sagte, Helden würden meist schon hundert Jahre nach ihrer Helden-Tat allgemein als Trottel angesehen.

Zweimal bewegen sich Töpffers Figuren über Berg und Tal in Richtung Martigny. Das kann ich begrüßen. Martigny ist ein lohnendes Ziel. Nicht nur das Amphitheater und das daneben liegende Bernhardiner-Museum, vermutlich das einzige Bernhardiner-Museum der Welt. Das zu Zeiten des frühen Schweizer Biedermeier freilich noch gar nicht da war. Töpffer hat solche Sätze geschrieben: „In beschädigten Büchern scheint immer das, was fehlt, am interessantesten zu sein.“ Oder: „Um mit Vergnügen ausgelassen zu lachen, muss man Schüler sein und womöglich einen Lehrer haben, der auf der Nase eine Warze mit drei Flaumhärchen hat.“ Töpffer hat „daß“ vernünftigerweise noch nicht mit zwei s geschrieben, wie ich hier, aber ich beuge mich der Diktatur meines Rechtschreibprogramms. Mein Lieblingssatz aus diesen Genfer Geschichten lautet: „Ich begann also nachzudenken; aber es kamen keine Gedanken.“ Wie viele Verfasser von täglichen Kolumnen sollten sich das über ihren Arbeitsplatz kleben!

Für Feinschmecker will ich noch, und erneut entschuldige ich mich für eine solche Assoziation, auf Töpffers Ausführungen über Geologen, Vulkanismus und Neptunismus hinweisen. Dem Goethefreund steigen dabei wahrscheinlich die Tränen in die Augen und ich bin mir nicht sicher, ob es durchweg Tränen der Freude sein werden. Die beste der vier Geschichten in diesem Bändchen heißt „Der Lac de Gers“, von ihr verrate ich nichts, denn vielleicht ist sie nur für mich die beste. Ich könnte damit gut leben.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround