Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame, Theater Rudolstadt

Aus dem Besuch der alten Dame ist in Rudolstadt die Abreise des alten Herrn geworden, eine letztlich makabre, weil endgültige Abreise. Finalen Aufschluss über das Regiekonzept (Grazyna Kania) in dieser mehr als nur leichten Akzentverschiebung gibt der lange Schlussauftritt des Alfred Ill (Matthias Winde), direkt ans Publikum gerichtet. Dieser Alfred Ill spricht da über weite Strecken den Text, den bei Dürrenmatt der Lehrer spricht. In Rudolstadt gibt es den Lehrer gar nicht, er ist eine Lehrerin (Charlotte Ronas). Und was mir neben allem anderen in dieser tragischen Komödie, das zu Atemstocken führen kann (und soll) am meisten unter die Haut geht, ist eben diese Lehrerfigur, die von Beginn bei der hochtönenden Phrase bleiben darf, die sich humanistisch und altphilologisch drapiert, und unter ihr am bitterbösen Ende die letztlich unfassbare Rechtfertigung des Mordes in wohlgesetzten Worten vollzieht.

Das, genau das, hat die Regie nicht einfach gestrichen, sie hat es so umgebaut, dass schließlich die Lehrerin, die Steinhäger trinken und nach Steinhäger brüllen darf, selbst als tragische Figur dasteht, obwohl sie bei Dürrenmatt fast das Böse schlechthin ist, freilich in männlicher Verkörperung. Bei Dürrenmatt, das sei zunächst ein Stichwort. Einer der immer noch namhaften Professoren des deutschen Germanistik-Betriebes hat vor 15 Jahren den „Besuch der alten Dame“ mit Schwung aus jeder Aktualität verabschiedet, seine Argumente waren teilweise so peinlich, dass ich mir aus eigenem Fremdschämen heraus die Nennung seines Namens verkneife. Hätte die Rudolstädter Inszenierung nur dies vermocht: zu zeigen, wie unterirdisch albern und dumm eine solche Sicht auf dieses Stück wäre und ist, dann müsste ihr schon hohes Verdienst bescheinigt werden.

Das Bescheinigen aber geht weiter: Regie und Darsteller haben dem Dürrenmatt gegeben, was des Dürrenmatts ist, gegenstehende Details werden benannt. Das ist nämlich bei dem 1921 geborenen Schweizer nicht irgendein Stück gewesen und geworden, es ist ein genialer Text, es ist eine fast rauschhafte Folge von Einfällen mit einer, verdammt noch mal, brandaktuellen Höchsttrefferquote. Da kann gar nichts veralten, ob da nun am Anfang und Ende ein Bahnhof steht, oder, Herr Professor, zeitgemäßer, ein Flugplatz. Natürlich kann der Orthodox-Marxist aus diesem nun wirklich nicht sehr marxistischen Stück die Folgerung ziehen, Dürrenmatt hätte die berühmteste aller Marx-Fußnoten mit dem Wagemut und dem Kapital und den dabei eine Rolle spielenden Prozenten in ein Bühnenstück verwandelt. Einen mitschreibenden Kritiker sah ich bei den je deutlichsten Kapitalismuskritiken so heftig für sich nicken, dass ich um seine Nackenwirbel fürchtete. Es klappt also noch, was Dürrenmatt vermutlich wollte, bezweckte, anvisierte.

Die Geschichte von der Milliardärin, die in das Kaff ihrer Jugend zurückkehrt, um Rache zu nehmen an dem Mann, der sie einst nicht nur einfach sitzenließ und verriet, sondern der auch gerichtliche Meineide organisierte, um einer Vaterschaftsklage zu entkommen, sie war wegen ihres Aussprechens dessen, was „man“ nicht ausspricht, in den Fünfzigern nach der Zürcher Uraufführung ein Skandalon. Und sie war für die großen alten Damen ein Stück mit einer Traumrolle. Therese Giehse, Hermine Körner, Elisabeth Flickenschildt, sie glänzten, selbst wenn sie nicht immer glaubhaft machen konnten, dass sie in ihrer Jugend auch einmal mehr als nur begehrenswerte Geschöpfe waren. In Rudolstadt hat Verena Blankenburg aus dieser Claire Zachanassian keine Paraderolle gemacht und ich hege den Verdacht, das war auch nicht gewollt.

Man kann, meine ich, eine Figur, die vielfach aus Prothesen besteht, wohl steif und zum Puppenhaften gewendet geben, das monotone Sprechen aller Texte über Mikrophon war gar keine so abseitige Idee, die Darstellerin ist damit jedoch fast jeder Möglichkeit beraubt zu glänzen. Das muss eine Darstellerin erst mögen. Glänzen durfte vor allem Matthias Winde und er hat die Chance alles in allem genutzt. In weiteren Aufführungen wird sich wohl das eine oder andere noch befeilen lassen. Die Masse der bei Dürrenmatt 34 Rollen war auf neun Schauspieler verteilt, allein fünf Rollen fielen an Markus Seidensticker, der mir unlängst als Jupiter im „Amphitryon“ eher wenig gefallen hatte. Er wie alle anderen außer Blankenburg und Winde waren zunächst angehalten, das Komödiantische der Komödie so dick wie nur möglich aufzutragen, das permanente Abkippen ins Groteske, Absurde auch saftig-deftig zu artikulieren. Das gelang. Das gelang fast durchweg selbst da, wo Benjamin Griebel dem vorbeidonnernden Schnellzug seinen nackten Hintern zeigte, was ihn danach noch lange mit der rutschenden Hose befasst hielt.

Diese tragische Komödie verträgt sehr viel, auch Slapstick bis zum Abwinken, Szenenapplaus dankte es mehrfach. Die Kunst besteht darin, das Lachen in den Hälsen ersticken zu lassen. Das Premierenpublikum lachte tatsächlich nach der Pause kaum noch und als es Hans Burkias Ratschlag an Matthias Winde, sich doch das Leben zu nehmen, gehört hatte, vereinzelte Lacher noch gab, klangen sie verlegen, fast schuldbewusst. Das hätte Dürrenmatt wohl gefreut. Ute Schmidt und Laura Göttner blieb am wenigsten Variabilität zu zeigen, Benjamin Griebel wohl am meisten. Viele, viele saukomische Einfälle, die Ausstattung (Fred Pommerehn) mit gestapelten Getränkekästen eröffnet für die beteiligten Brauereien, die lange im Bild blieben, völlig neue Möglichkeiten des Indirekt-Sponsoring.

Gefreut hat sich einigermaßen sicher auch Steffen Mensching, der anfangs wegen der Unpässlichkeit zweier Spieler eine freilich hoffnungsfrohe Vorwarnung formuliert hatte: es gab keinen, nicht einmal einen Teilausfall. Claire Zachanassian, die besuchende alte Dame, und Alfred Ill, der mit seinem Leben bezahlende alte Herr, gehen nach einer Art von Auferstehung Arm in Arm nach hinten ab, ehe der Schlussbeifall erschallen darf. Bei Dürrenmatt steht das nicht. Und ausnahmsweise frage ich: Na und? Nur einen echten Lapsus gibt es bei Dürrenmatt selbst aus heutiger Sicht: Niemand würde eine 61 Jahre alte Frau heute „alte Dame“ nennen. Auch mit Prothese nicht.
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