Lessing: Emilia Galotti; Südthür. Staatstheater Meiningen

Wer sagt eigentlich, man könne „Emilia Galotti“ nicht (mehr) spielen, wie sie im Buche steht? Man kann. Man kann sogar so gut, dass mich das schiere Erstaunen auf dem Weg zu meinem nicht gekennzeichneten Kritiker-Parkplatz nicht verlassen will. So lebendig, so staubfrei, so nahe und ohne alle Zutat aus der Kiste „Wir pinkeln auf offener Bühne“ kann diese vermeintliche Kamelle aus der Moralkammer der deutschen Aufklärung sein? Sie kann, sie ist mit jeden „itzt“ gegenwärtig, nicht museal. Natürlich muss auch Ansgar Haag, Regisseur und Intendant dieser Meininger Neu-Meiningerei der feinsten Art, streichen. Auch er jagt den Maler Conti über den Jordan respektive über die Werra. Und weil ihm das mit den Augen und dem Mund dann doch zu schön erscheint, lässt er seinen Hettore Gonzaga (Vivian Frey) das Bildchen aus einem verschließbaren Wandfach holen und liegend anschmachten, das Bild mit dieser Emilia. Es war, für mich, eine helle Freude, hell wie die Farben der Drehbühnen-Kulisse (Bernd Dieter Müller) mit ihren Treppen und kleinen Balkonen, denn ich sah Lessing, nicht Haag. Ein auf den Kopf gestelltes Rokoko-Gemälde dazu unaufdringlich passend.

Einen Lessing, es zu wiederholen, der bis in die bekannte letzte Wendung mit dem Dolchstoß in die Brust der Jungfrau Emilia aus einem Guss wirkte, Dolch kann Dolch sein, ohne dass man anschließend eine Diskursanalyse anstellen muss über Dolche als Kippfigur und ihre virtuellen oder tatsächlichen Erscheinungsweisen als Schusswaffe mit Würge-Untertext und poströmischer Revolutionsabstinenz. Haag und seine Spielschar zeigen ein Drama, ein Trauerspiel. Die wie immer lachwillige Untergruppe des Premierenpublikums merkt balde, dass hier des Lachens kaum zu frönen sei. Die Lacher werden stille wie alle anderen, die offenbar gebannt dem Geschehen folgen, die sich zweimal gar zu überhaupt nicht verschämtem Szenenapplaus aufrappeln. Ludwig Börne, in Vorzeiten großer und dennoch unterlegener Gegenspieler Heinrich Heines, schrieb gelegentlich einer „Emilia Galotti“ einen bemerkenswerten Satz: „In einem Kotzebueschen Stücke kann auch ein gewöhnlicher Schauspieler nicht durchaus schlecht spielen; aber in den Dramen Lessings, // wo die plastischen Dimensionen kein Zurückbleiben und keine Überschreitung dulden, kann er dies allerdings.“ Die Meininger Darsteller und Darstellerinnen haben sich diese Blöße nicht gegeben, im Gegenteil. In größter Textsicherheit durch die Bank fanden sie zu einem Spiel dessen, was ihnen der Lessing-Text aufgab.

Ein kundiger Mann hat vor Jahren festgestellt, dass Lessing der Regie eigentlich wenig Raum lässt, was selbstredend den Ehrgeiz diverser Spielleiter geweckt haben mag, das Gegenteil zu beweisen. Man kann immer aus einer saftigen Frucht Dörrobst machen, man kann Dörrobst wässern, bis es trübe Brühe hinterlasst. Ansgar Haag hat sich in den Dienst Lessings gestellt. Das verdient ohne jede Ironie Bewunderung, es ist sogar mutig, von der Beweiskraft des Ergebnisses war schon die Rede. Also: Es beginnt mit dem Anfang, der junge Prinz muss den Büroteil seines Amtes bedienen und hat wenig Lust dazu. Das liegt, man darf es ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Alleingültigkeit der Klassenkampftheorie auf den Schaubühnen des Staates DDR so deutlich als möglich sagen, nicht am sozialen Status der Herrn, wenngleich der natürlich eine gewichtige Rolle spielt, es liegt an seiner Jugend, an seiner schwärmerischen Momentan-Befindlichkeit. Da sind selbst einfache Unterschriften lästig und das Prinzip, nachdem unterschrieben wird, zeigt diese Befindlichkeit im klarsten Schlaglicht. Eine Emilia bekommt den Vorzug vor jeder Francesca oder auch jedem Luigi.

Noch ein Vorzug dieser Haag-Inszenierung: Sie verzichtet nicht auf die Stellen, die den sozialkritischen Anklagewert des Lessing-Textes am prägnantesten verkörpern. Das Erschauern des Rates Camillo Rota (Matthias Herold) über die Leichtherzigkeit, mit der der Prinz noch eben rasch und nebenher ein Todesurteil unterzeichnen will, ehe er zu einer Ausfahrt aufbricht, das ist sogar an die Rampe exponiert. In Zeiten, da der Kammerdiener in Schillers „Kabale und Liebe“ das liebste Streichopfer geworden ist, nur weil zu dieser Szene der Deutschlehrer einst seinen Zeigefinger jeweils am höchsten reckte, sei das betont. Natürlich zeigt Lessing damit zuerst den Charakter, aber eben auch ein dem Rang eines jungen Landesherren keinesfalls untypisches Herangehen. Liest man heute, was in der frühen DDR über die Zwänge geschrieben wurde, dessen Lessing ausgeliefert war und deshalb angeblich Schauplatzverlegungen und ähnliche Manöver praktizierte, dann kann man sich des milden Wunderns kaum enthalten. Denn auch in den Fünfzigern war das Nachverfolgen der Motivgeschichte einer vom Vater getöteten Virginia aus der frührömischen Geschichte leicht möglich. Es wäre sogar hilfreich gewesen, denn es hätte verständlich machen können, das Lessing wollte, was er schrieb und keineswegs Sklavensprache vorführte aus Rücksicht oder Angst.

Weil mir, ohne dass ich mit dieser meiner Beobachtung des Beobachters in den Wettstreit um den Michael-Althen-Preis für Kritiker eintreten will, in der „Emilia Galotti“ die Gräfin Orsina näher als alle anderen Figuren auf Leib und Seele rückt, warte ich regelmäßig fast unruhig, bis ihr Auftritt (der dritte des vierten Aufzuges) endlich kommt. In Meiningen nach der Pause, die begann, als zuletzt in Leipzig die Zuschauer schon erleichtert an der Garderobe standen, so früh nach Hause zu dürfen. Evelyn Fuchs ist diese Gräfin und ich, sie möge mein Geschlecht vier Generationen rückwirkend verfluchen, hätte ihr diese Leistung nicht zugetraut, ohne dass ich präzise zu sagen wüsste, warum. Diese Orsina aber war furios und leistönig, gestensicher und in einer bewegenden Variabilität intoniert, eine in mehrfacher Hinsicht reife Leistung. Lessing selbst schrieb über seine Figur: „Was sie sagt, hat sie nicht auswendig gelernt; jedes ihrer Worte kommt aus dem eigenen Kopfe, dem eigenen Herzen...“. Das darf Evelyn Fuchs auf sich beziehen, mehr ist kaum zu leisten, wenn es eine große Orsina in der Reihe vieler großer sein soll.

Das Trauerspiel heißt „Emilia Galotti“. Deshalb muss umgehend von Alexandra Riemann die Rede sein. Sie stirbt auf der Bühne, anders als im Programmheft, nicht in Dessous und barbeinig, sondern in dem Kleid, das ihren Bräutigam an die erste Begegnung erinnern sollte und deshalb für die Hochzeit ausgewählt wurde. Das spitzengeschmückte Unterkleidchen hätte in der Tat abseits führende Assoziationen geweckt. Bis sie stirbt, muss sie allerhand zeigen: die atemlose Heimkehr aus der Kirche, wo sich der Prinz während der Messe von hinten an sie herangemacht hat. Die gar nicht nur ganz brave Braut des Grafen Appiani (Peter Liebaug), die ein kurzes Entsetzen im Gesicht nicht verbergen kann, als sie hört, sie verspreche, eine fromme Gattin zu werden. Ein zur ehelichen Liebe gestimmtes Jungfrauchen, eine vertrauende wie ergebene Tochter und am Ende natürlich eine selbstbewusste, zu souveräner Entscheidung fähige junge Frau, die den Vater notfalls sogar appellierend provoziert, um ihn die von ihr gewollte Tat vollbringen zu lassen. Alexandra Riemann sauste und stand, schrie auf dem Arm des Prinzen und nahm widerstrebend die lebensklugen Lehren aus dem Munde ihrer Mutter Claudia (Ulrike Walther) an. Aller Applaus für sie verdient.

Michael Jeske, es sei nicht verschwiegen, spielte eingangs seinen Marinelli so dominant, so omnipräsent, dass man um die anderen, nicht um ihn fürchten musste. Bald aber wurde klarer, dass dies nicht nur seinem Organ, seiner Körperlichkeit geschuldet war, sondern eben auch und gar nicht nebenbei der indirekten Charakterisierung des Prinzen diente, der sich nicht umsonst zweimal an auffälligen Stellen seinem Kammerherrn an die Brust warf. Die Schwäche, die Schwächen dieses sehr jungen, sehr ungefestigten, seiner selbst höchst unsicheren Prinzen, immer wieder wie übermotiviert überspielt von Vivian Frey, alles kalkuliert, alles Regie, bisweilen hart an die Karikatur. Dazu passte Jeske nahtlos. Dazu hätte alle Übertreibung seinerseits eben nicht gepasst, er in der Nähe der Karikatur, eine Versuchung manch anderer „Emilia“-Inszenierung, hätte das Gleichgewicht, die Balance ge- oder gar zerstört. Jeske Souveränität zu attestieren, wäre billig. Vor allem Beherrschtheit zeichnet ihn als Marinelli aus, immer wieder Beherrschtheit, bisweilen sichtbar mühevoll erzwungen. Chargieren wäre die einfachere Lösung gewesen.

Und Odoardo Galotti? Am Anfang einer langen Reihe von Odoardos stand Konrad Ekhof mit seinem Zupfen am Federhute, wie es Friedrich Nicolai aus Weimar 1773 überliefert hat (die Uraufführung gab es am 13. März 1772 in Braunschweig). In Meiningen ist Hans-Joachim Rodewald der Vater Odoardo, der sich fast kindlich freut mit seiner Claudia auf den künftigen Schwiegersohn, der ihm ein Sohn werden soll. Der streng ist mit seiner Claudia und immer noch ein bisschen verliebt. Er hat seinen großen Auftritt im fünften Aufzug. Da begegnet er der Orsina, da steht er Marinelli und dem Prinzen gegenüber, da wankt er zwischen Untertänigkeit und Vaterstolz, zwischen Moralstrenge und tiefster Trauer. Als er am Aberwitz des Geschehenen und im Erkennen der Zusammenhänge irre zu werden scheint, als er sich immer wieder zwingt, Verstand über Leidenschaft gehen zu lassen und auch wegen der wirren grauen Haarpracht, da sieht man den König Lear ein wenig nachleben mitten im Lessing und da er ein sehr starker Lear war, soll das nicht unpassend genannt werden. Er macht im Zusammenspiel mit Alexandra Riemann, dass der finale Dolchstoß nicht schlechte Oper geworden ist. Beinahe hätte auch ich Bravo gerufen, aber es gab genügend Zuschauer, die das statt meiner taten.
www.das-meininger-theater.de


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