Schiller: Don Carlos; Deutsches Theater Berlin
Die schönen Tage von Aranjuez sind nicht gleich im ersten Satz auf der Bühne zu Ende, der Beichtvater Domingo muss erst über den stillen sorgenvollen Prinzen sinnieren. Auch Stephan Kimmig bringt es nicht übers Herz, seinen „Don Carlos“ einfach wie Schillers „Don Carlos“ beginnen zu lassen. Und sein Posa purzelt auf die Spielfläche, als habe er größte Mühe, sich mit seinem Alkoholpegel halbwegs gerade auf den Beinen zu halten. Dieser Posa (Andreas Döhler) hat etwas Derbes. Dazu stimmt der Don Carlos (Alexander Khuon), der sich im Aufbautraining für
einen Boxkampf zu befinden scheint. Er trainiert Liegestütze, Seilhüpfen, Schlagfrequenz und Schlagfolge, man möchte zu seinen Gunsten annehmen, es sei ein Titelkampf, der ihm bevorsteht. Das wäre dann eine sportliche Lesart der Konstellation zwischen dem amtierenden König Philipp II., den Ulrich Matthes langhaarig und bärtig gibt und seinem Sohn Carlos. Man merkt ziemlich rasch, dass Friedrich Schiller hier unterschiedliche Gewichtsklassen gegeneinander in den Ring schickt, was beiden Darstellern freilich von außen am wenigsten anzusehen ist.
Auch am Deutschen Theater 2015 ist Don Carlos in seine Stiefmutter verliebt, die ihm versprochen war, ehe sie sein Vater zur Frau nahm. Diese Elisabeth (Katrin Wichmann) hat eine Tochter, die im Spiel nicht erscheint (Roger Vontobel in Dresden hatte sie seinerzeit nicht gestrichen, ihr hübsche Eingangsszenen gegeben und nicht nur dafür viel Lob eingeheimst). Dafür aber wird die Königin von Carlos übergangslos ungestüm geküsst, als es, noch in Aranjuez, zu jenem Treffen kommt, dessen Vorgeschichte der Strichfassung weitestgehend zum Opfer fiel, weil das Personal reduziert wurde, das spielen darf. Es gibt nur die Prinzessin Eboli (Kathleen Morgeneyer), die anderen Damen der Königin wie auch die Oberhofmeisterin sind gestrichen. Zum Ausgleich fehlen bis auf den Herzog von Alba (Henning Vogt) auch alle Granden von Spanien, es gibt keinen Verlust der Großen Armada, keinen Vertrauten des Prinzen, keine Boten, Personal ohnehin nicht. Wenn dennoch dreieinhalb Stunden Spielzeit mit einer Pause bleiben, dann wird klar, dass die verbliebenen Personen des Stückes ihren Text haben und sprechen dürfen.
Die Bühne (Katja Haß) ist fast ausschließlich in Weiß gehalten, es gibt Lamellen-Jalousien vor Fenstern, die mal sinken, mal aufgezogen werden, ohne dass dabei etwa funktional Sicht freigegeben oder versperrt wird, langsam dreht sich die Bühne, die Abgänge erfolgen fast immer nach unten. Warum setzt Posa auf den Infanten Don Carlos als Führer der Niederlande? Schiller selbst setzt eine Vergangenheit voraus, die nur ansatzweise nachträglich erhellt wird. Alle jene Erläuterungen und Deutungen, die er in seinen zwölf „Briefen über Don Carlos“ gibt, sind ja Ergänzungen als Reaktion auf Reaktionen. Die Jugend der ersten Schiller-Helden hat mit der Jugend ihres Schöpfers zu tun, Hoffnungen auf sie als junge Könige, Herzöge oder was immer ihnen zugedacht oder möglich wäre, sollte man nicht ernsthaft hegen. Wer Jahrhunderte in die Schranken fordert, scheitert oft schon am ersten entschieden vorgetragenen Widerspruch. Es bleibt interessant zu sehen, dass Schiller ja immer von Aufschwüngen erzählt, die scheitern. Und seinen Posa, dem lässt der Dichter schon die Königin Elisabeth auf den Grund der Seele schauen.
Jener König, in dessen Reich die Sonne nicht unter geht, weint bei Stephan Kimmig natürlich auch nicht. Und die finale Aufforderung an den Großinquisitor (Barbara Schnitzler), das Seinige zu tun, entfällt. Dennoch ist Ulrich Matthes ein eindrucksvoller König, der sich betont langsam bewegt, wenn er den Bühnenaufbau durchschreitet, der anders als alle anderen Mitspieler auf das leisere Wort setzt, der zuhört, wenn Posa seine lange Rede vorträgt, der seinen Sohn wie alle anderen auch durchschaut, nur eben in Posa irrt er sich. Und zwar aus dem einzigen Grund, weil er sich irren will. Sein Königtum ist in aller Absolutheit doch massiv beschnitten, wie das Ende bei Schiller zeigt, als der Großinquisitor die Bedingungen und Spielregeln formuliert. Barbara Schnitzler hat in ihren einen finalen Auftritt alle Emotionslosigkeit, alle Unbewegtheit, alle abwesende Steifheit gelegt, die am Klischee der diabolischen Boshaftigkeit vorbeiführen können zu einem haftenden Bild. Da hatte Ulrich Matthes den stärksten Moment bereits hinter sich: die kurze Berührung des Haares Posas, den der Schuss tötete, vor dem der schreckhafte Zuschauer vorsorglich gewarnt wird.
Einige Szenen prägen sich besonders ein. Da packt zum Beispiel der Herzog Alba den Sohn des Königs zwischen den Beinen und Carlos windet sich in Schmerz und Demütigung. Da vibriert die Eboli förmlich im Irrglauben, die Liebe dieses Prinzen für sich zu reklamieren, sie zieht sich aus, der Prinz ist überrumpelt und stößt sie von sich. Und dann der Tanz, in den die Königin den Posa zieht, sie übernimmt die Initiative, die Führung und auch hier ist das Außersichsein ein kurzes, ein fast rauschendes Beisichsein. Diese sehr selbstbewusste Königin steckt eben nicht blind in ihrer Lebenssituation, sie ist ehrlich zum König, ehrlich zum Stiefsohn, der ihr junger Gatte hätte werden sollen und sie entdeckt in sich von der ersten Wiederbegegnung an einen Drang in Richtung Marquis Posa. Dagegen wirkt der Prinz, der meint, die Weltgeschichte rufe ihn, beinahe infantil.
Auch Stephan Kimmig verteilt Gewichte nicht so um, dass Don Carlos im Mittelpunkt von „Don Carlos“ steht. Die lange Stückgeschichte mit ihren Wirkungen auf die Konzeption, von verschiedenen Fassungen zu reden, ist wenig korrekt, ist einfach nicht auszuklammern. Die interessantesten Figuren sind und bleiben der König Philipp und die Prinzessin Eboli. Denn es hat Größe, wenn solch ein König nach einem Menschen verlangt, es hat Größe, wenn solch eine Prinzessin, die sich keine Ehe diktieren lassen möchte, sich zu erniedrigen in der Lage ist, um einer rasenden Racheabsicht nachzugeben. Kathleen Morgeneyer vermag das Publikum zu bewegen und zu berühren. Und mitten in allem finden sich Lachanlässe. Man muss sie nicht mögen, man sollte sie aber durchweg als legitime Versuche ansehen, eine gewisse Ventilwirkung zu erzielen. Wenn also die Königin zwei Zeilen für Carlos auf dem Rücken von Posa schreibt und dieser sich gekitzelt fühlt, wenn Carlos mit einer Tasse und einen Teebeutel in ihr schwenkend erscheint. Wenn Posa „Tschuljung!“ sagt oder „Das zahlste!“, als sein Shirt zerrissen ist.
Verblüffend schlicht sind andere Einfälle: der vermeintlich gewandelte, vom König in Dienst genommene Posa hat plötzlich eine Krawatte um. Hier winkt eher die Generation Turnschuh im Parlament mit dem Telegrafenmast, als dass ein stimmiges Bild gefunden wurde. Kimmig statt stimmig, lautet der passende Kalauer. Auch dass mindestens eine Person auf einer deutschen Bühne eine Zigarette anzündet, seitdem es die Raucher-Regeln zu den öffentlichen Räumen gibt, verliert langsam an Provokationskraft, es stinkt nur noch in Richtung Zuschauer. Jürgen Huth als königlicher Beichtvater mit hohem Intrigenpotential wirkt durch seine pure Erscheinung so vollkommen unbedrohlich, obwohl er es ja tatsächlich ist als Figur, dass man meinen könnte, hier habe das Diktum von der Banalität des Bösen Verkörperung zu finden gehabt. Nun denn. Es gibt frischere Thesen aufzufrischen. Man mag anhand dieser Inszenierung nicht wirklich gern nachdenken über solche Posas, was geboten wäre. Man darf Schillers Verhältnis zu Königen als ein ihm wichtiges erkennen, das immer; die „Maria Stuart“, die ebenfalls Stephan Kimmig am DT herausbrachte (Premiere 23. April 2010), führt es fort. Unvergessliches sieht anders aus.
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