Büchner: Dantons Tod; Landestheater Coburg
Selbst wenn es kein Projekt war, wirkt es wie eins, kein schlechtes zudem: Das Landestheater Coburg bringt in überschaubar kurzer Zeit alle drei dramatischen Texte Georg Büchners auf die Bühne: „Leonce und Lena“ hatte Premiere am 28. Oktober 2011 in der Reithalle, „Woyzeck“ ebenfalls dort am 28. Juni 2013 und nun „Dantons Tod“ im Großen Haus. Allein Niels Liebscher spielte in allen drei Produktionen, den Danton jetzt, den Zeremonienmeister zuerst und dazwischen den Hauptmann. Was selbstverständlich scheint, ohne es zu sein: Man spielt in Coburg tatsächlich „Dantons Tod“ und nicht irgendetwas unter diesem Titel. Regisseur Matthias Straub, auch schon für „Woyzeck“ verantwortlich, hat das Stück mit einer höchst einfachen Idee spielbar und, was noch wichtiger, verstehbar gemacht. Er lässt seine Figuren zwanglos und kaum aufdringlich an die Rampe treten und sich selbst vorstellen. Das steht so natürlich nicht bei Büchner, doch es wäre sonst ziemlich sicher eine zu hohe Zumutung selbst für den sehr gebildeten Theaterbesucher. Denn wer ist schon in der tatsächlichen Geschichte der Französischen Revolution so zu Hause, dass er nicht nur die Namen von mehr als drei der wichtigsten Akteure kennt, geschweige ihre Lebensläufe, ihre Beziehungen zueinander, sondern gar ihre Reden im Parlament und außerhalb.
Die Kehrseite des Aus-dem-Spiel-Tretens der Akteure, es wird mehr Historizität suggeriert, als bei Büchner tatsächlich vorhanden, selbst wenn der aus den einschlägigen Dokumenten insbesondere bei den Reden ganze Passagen wörtlich übernahm. „Dantons Tod“ ist kein Revolutionsstück. Es war nie eins, was kaum schlagender bewiesen werden kann als durch die Rezeptionsgeschichte des Stückes und Büchners überhaupt in der verflossenen DDR. Im Gegenteil: Wer je die künstlich erhöhte Herzfrequenz des intellektuellen Salon-Revolutionärs in sich zu spüren meinte, hat bei und in Büchner eine Art Teufelsaustreibung. Das Drama, das keines ist, das in diesem Nichtsein eine Modernität erreicht, die nur staunendes Kopfschütteln auslösen muss und außerdem wie Prophetie erscheint, die noch fast alle ihre späteren Deuter umstandslos in den Schatten stellt, entzaubert das Phänomen Revolution nicht nur, sondern stellt es als solches prinzipiell in Frage. Matthias Straub hat instinktsicher platte Aktualisierungen umschifft, der Zuschauer darf sie dennoch mitdenken: Die Nebenfolge der absichtsvoll missverstandenen und absichtslos missratenen „Arabellion“ heißt Flüchtlingskrise und droht einen ganzen Kontinent Europa zu destabilisieren.
Wer sich die gar nicht so lange Geschichte der Danton-Inszenierungen anschaut, die allererste Aufführung gab es am 5. Januar 1902 in Berlin fast 70 Jahre nach Büchners frühem Tod, wird eines mit gelindem Erstaunen registrieren: die vielleicht gar nicht gewollte antirevolutionäre Substanz wird entweder übersehen oder absichtsvoll ausgeblendet. Die Coburger Inszenierung beginnt mit einem Schreckbild: ein rot gewandeter Aristokrat soll vom „Volk“, einem gesichtslosen Lynchmob, ohne Urteil gehängt werden, weil er sich in ein Taschentuch schnäuzte und nicht gut proletarisch oder fußballrasennah, wie man heute meinen sollte, durch die Finger rotzte. Der Plebs hatte sich unter aktiver Anfeuerung der revolutionären Populisten und Demagogen mörderisch einfache Erkennungsmerkmale zurechtgelegt, wer wo umstandslos im Namen der Revolution umgebracht werden darf. Die Kultur der Septembermorde, die Büchners Danton um den ruhigen Schlaf und sein gutes Gewissen bringen, sind Straßenalltag geworden. Ähnlich verfuhr die nächste Große Revolution mit denen, die sie Kulaken nannte, die Linie führt direkt zu Pol Pot und Ieng Sary. Nicht zu reden vom grauenhaften Geschwafel der Vor- und Nachdenker von RAF und Co. Robespierre (Thorsten Köhler) und St. Just (Benjamin Hübner) lassen knochentief frösteln mit ihren Reden.
Georg Büchner hat ein Männerstück geschrieben, in dem auch Frauen vorkommen. Und Matthias Straub hat die alles andere als nur ökonomische Idee, Sarah Zaharanski, 1989 in Salzburg geboren, in dieser Spielzeit im Erstengagement in Coburg, drei dieser Frauenrollen zu übertragen: sie ist Julie, die Gattin Dantons, die an der Rampe sagen muss, dass sie Büchners Erfindung sei, sie ist Lucile, die Gattin Desmoulins (Ingo Paulick), und sie ist die Grisette Marion. Von den hinter Strumpfmasken verborgenen Bürgern ist sie außerdem der Fünfte Bürger. Für mich die Entdeckung. Ich sah sie schon in Max Frischs „Andorra“, hier aber sah ich sie erst wirklich. Sie gab nicht nur eine jeweils andere, sie war es auch. Bis in die stimmlichen Nuancen hinein, den mimischen Ausdruck. Es wäre kaum gesondert zu erwähnen, wäre es die Norm. Vielleicht bleibt sie ja eine Weile in Coburg. Carola Volles (Kostüm) hat gerade ihr mit ihren Kreationen geholfen und dem Publikum natürlich auch, das andernorts verkraften muss, drei Rollen in einem Kostüm zu sehen und eben nicht zu wissen, wer da gerade in Aktion ist. Und das Bühnenbild von Till Kuhnert? Hängende oder stehende Eimer verrätseln ihre Symbolik nicht, rollbare Gerüste, eine verwandelbare Schräge mit mehreren Spielmöglichkeiten, es diente, ohne zu sich vorzudrängen.
Eine Möglichkeit hat Regisseur Straub verschenkt. Die bösartige Ironie deutlicher zu akzentuieren, die Büchner in der Aufforderung Dantons an Robespierre versteckt, sein Gesicht hinter einem Taschentuch zu verbergen, die einen rasanten Bogen zum Coburger Anfang gezogen hätte, der ja eben nicht Büchners Anfang ist. Der permanente Napoleon-Verweis bei Benjamin Hübners St. Just dagegen ist eine überzeugende Überraschung. Alles in allem: das Ensemble überzeugt auch. Und dabei keineswegs zuletzt die Statisterie. Auch ein Revolutionsstück, das keines ist, kann ohne den Träger der Revolution kaum existieren, das Volk, das hier sogar rufen muss „Wir sind das Volk!“, in Coburg kennt man dergleichen ja nur aus dem permanenten Geschichtsunterricht seit 1989. Die Zeiten, da Regisseure für ihre Massen-Regie gelobt werden konnten wie etwa Max Reinhardt 1916 für seinen Berliner „Dantons Tod“, sind wohl Geschichte ohne Wiederkehr. Schon sechs Bürger verkörpern heute Opulenz. Die Verführbarkeit von Massen zu zeigen, reichen sie in Coburg allemal aus. Sie brüllen eben für Danton, und fast im Handumdrehen für Robespierre. Und bei beiden werden sie offenen Mundes die abgehackten, in die Körbe (Eimer) plumpsenden Köpfe begaffen. Das wenigstens haben spätere Große Revolutionen abgeschafft. Die islamische allein nicht.
Niels Liebschers Danton darf in Coburg erst spät von seinem Gelangweiltsein reden, Thorsten Köhler die Momente der Selbstbefragung Robespierres nur fast beiläufig zeigen. Dennoch reicht es, die Hauptfiguren gegeneinander und in sich zu differenzieren. Die Vorstellungen aller Hauptfiguren an der Rampe ermöglichen es dem Zuschauer zudem, die weitere Geschichte im Auge zu behalten. Einer wird 85 Jahre alt, einige folgen Danton unter die Guillotine. Dass Büchner die Juli-Revolution von 1830 verpuffen sah, hat seinen Blick auf deren Vorgängerin schärfer gemacht. Wenn am Ende gegen 21.40 Uhr eine ganze hintere weiße Wand vom Blut überströmt ist, hat das Spiel ein starkes finales Symbol. Selbst die dezent angedeuteten Hinrichtungen mit dem Stürzen in die Versenkung bewegten das Publikum spürbar. Leichter darf man es ihm wohl nicht machen. Auch ein Karl Marx wusste, dass der Fortschritt seinen Nektar aus den Schädeln Erschlagener trinkt. Man muss das ja nicht als Präambel in sein Parteiprogramm aufnehmen. Der Lynchmob formiert sich bei passender Gelegenheit immer fast ganz von allein. Optimistisch aus „Dantons Tod“ kommen, fällt schwer. Das ist schon optimistisch formuliert. „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“ bleibt Dantons ewige Frage. Auch: „Es gibt Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte.“
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