Williams: Die Glasmenagerie; Komödie am Kurfürstendamm

Was macht diese Katharina Thalbach da einfach vollkommen ungeniert? Sie inszeniert einen mehr als siebzig Jahre alten Bühnentext, dem in dem kleinen Land, in dem sie aufwuchs, ein sehr einflussreicher Kritiker namens Fritz Erpenbeck die bösartigste und von bewusstem Missverstehen getragene Kritik widmete, die sich denken lässt. Und das nahezu vom Blatt. Was Erpenbeck einst zum Bellen brachte, war im Grund ja nicht Tennessee Williams und sein Welterfolg „Die Glasmenagerie“, es war das epische Theater, dem Tritte und Schläge galten. Bei Katharina Thalbach sehen wir, was wir von Thornton Wilder schon wissen: sehr viel Titelschutz am epischen Theater konnte und kann Brecht nicht für sich in Anspruch nehmen. Und es ist gar nicht schlimm. Was weinten einst die angeblichen Freunde des dramatischen Theaters, wenn ein Ansager, ein Conferencier an die Rampe trat oder eine Projektion auf die Bühne holte, was dem Stummfilm zur Verständlichkeit verhalf! Und nun: Wo war/ist eigentlich das Problem, wenn so ein Tom Wingfield (Leonard Scheicher) erst einmal sagt, was zu sehen sein wird, ehe er dann am Spiel teilnimmt? Das Problem ist, dass wahrscheinlich eine dreistellige Zahl von deutschsprachigen Theatern diese Regisseurin beneiden wird um einen so guten jungen Darsteller, der ja auch am Berliner Ensemble agiert und an den Münchner Kammerspielen frühe Sporen sich verdiente.

Wo ist eigentlich das Problem, wenn diese „Glasmenagerie“ keine „Handlung“ hat? Sondern nur Episoden, wie in zwei von drei Kritiken exponiert sorgsam betont wird? In der Komödie am Kurfürstendamm, wo das seit der Premiere am 6. März läuft und läuft und läuft, hat der Zuschauer Theater, dass einem das Herz aufgeht. Man kann lachen, man kann heftig in den Augenwinkeln herum wischen, damit die unvermeidbaren Tränen nicht aufs Schlüsselbein klatschen. Man sieht schauspielerische Leistung, nicht inszenatorischen Auerbachsalto mit vierfach gehockter Schraube und Jonglage während des Flugs sowie Gesang der Internationale. Katharina Thalbach schickt Tochter und Enkelin ins Rennen. Anna Thalbach ist Amanda Wingfield, die spielten auch schon mal Therese Giehse oder Helene Thimig oder Paula Wessely, denn es ist eine Rolle, die man in Versalien schreiben sollte. Tennessee Williams war einer, der auch Rollen konnte und es wird wohl kaum einen Mimen der diversen gendergeprüften Geschlechter geben, der/die/das lieber Rollen hat, in denen und an denen nichts zu spielen ist. Nellie Thalbach, die Enkelin, ist noch drei Jahre jünger als Leonard Scheicher und wie spielt sie! Wie spielt sie! Wie spielt sie! Man könnte in uralte Theorien von der Vererbung erworbener Eigenschaften zurückfallen oder von Genen quasseln. Sie hält den ganzen Abend dies Stimmchen und verrät nur sekundenkurz, dass sie auch Organ hat.

Für alle, die nicht den Schauspielführer neben der Bibel im Regal stehen haben: „Die Glasmenagerie“ war in ihrem früheren Leben ein Drehbuch, das keiner haben wollte, Uraufführung als Stück am 26. Dezember 1944 im Civic Theatre Chicago, Premiere in New York am 31. März 1945 die deutschsprachige Erstaufführung gab es am 17. Oktober 1946 in Basel. Es ist ein Vier-Personen-Stück, nicht-aristotelisch eingeteilt in zwei Teile mit insgesamt sieben Szenen, die siebente ist die mit Abstand längste, etwa ein Drittel des gesamten Textes. Tennessee Williams hat wie nur irgendein europäischer Naturalist ausführliche Vorschriften und Vorschläge als Regietext beigegeben und diese unglaubliche Katharina Thalbach hat viel davon offensichtlich und offenhörlich nicht für Kokolores gehalten. Es gibt durchscheinende Vorhänge, zwei separat sich drehende Flächen, in einer Seitenloge links von den Zuschauern sitzt Emanuel Hauptmann am Schlagwerk, hat einen Hut auf und kommuniziert als Joe mit Tom Wingfield. Manchmal spielt er so, dass man Tom Wingfields Text nicht versteht und ich vermute heftig, das soll so sein. Am Text ist kaum gesäbelt worden. Nur an markanter Stelle hat der diktatorische Zeitgeist zugebissen. Amanda arbeitet, bis Jim zu Besuch erscheint, nicht wie ein „Neger“, sondern wie ein Berserker. Wir erinnern uns, dass in den Südstaaten seinerzeit Berserker die Baumwolle pflückten.

Bühne und Kostüme stammen von Ezio Tofolutti, 1944 in Venedig geboren, der 1971 an die Berliner Volksbühne ging, als dort Benno Besson war, Vater von Katharina Thalbach und alles weitere wäre Familiengeschichte, die nicht hierher gehört und auch nachlesbar ist. Wie herrlich ist es doch, mal wieder eine Bühne zu sehen, auf der nicht ein Aluminium simulierender Sperrholz-Rhomboeder Vergangenheit, Nudelsuppe und den Geist von Marias Cousine symbolisiert. Dann kann sogar die Abendmahlzeit am Tisch pantomimisch abgewickelt werden, wie Williams es wollte. Also ist da Amanda, die Mutter, die aus den Südstaaten kommt, vom Vater ihrer beiden Kinder verlassen wurde, den aber noch immer liebt, so heftig sie auch sich selbst bisweilen einredet, es sei anders. Laura ist das ältere Kind, Tom das jüngere. Laura mag zwei Dinge im Leben, Glasfiguren, die Tiere darstellen (Menagerie) und uralte Platten. Neue Platten mag sie nicht und da die alten Platten väterliche Hinterlassenschaft darstellen, ist das Psychologie. Tom arbeitet in einem Lagerhaus und nutzt dort jede freie Minute, an seinen Dichtungen zu arbeiten. Sein Freund Jim, der erst im zweiten Teil auftritt, nennt ihn Shakespeare. Am Ende erfährt der Theatergänger, dass er seinen Job verlor, als er ein Gedicht auf einen Schuhkarton schrieb. Heute fliegt man eher, wenn man auf dem Firmencomputer die sechsundvierzig Flirtportale abgrast.

Vielleicht wäre mit Flirtportalen alles anders gelaufen in dieser seltsamen Wohnung, die man laut Tennessee Williams nur über die Feuerleiter betreten kann. So aber hat Anna Thalbach als Amanda nur ein Lebensziel, sie will die Versorgung der offensichtlich nicht sehr lebenstüchtigen Tochter absichern. Das geht, weil die Welt ist, wie sie ist, am ehesten mit einem Ehemann, der idealerweise ein netter ist und kein Trinker. Charme darf er haben, der sollte aber möglichst nicht alles sein, was er hat. Denn so war das beim Vater von Tom und Laura. Laura hat ein verkürztes Bein und deshalb ein Gestell, wie man es von Kinderlähmungsopfern kennt. Williams wollte das nur angedeutet sichtbar haben, Nellie Thalbach spielt es dagegen fast demonstrativ auffällig. Amanda berichtet ausschweifend und sich immer wiederholend von den alten Zeiten, da sie sich vor Herrenbesuchen kaum retten konnte, herrlich und herrlich einfach die Idee, das sichtbar zu machen durch das stumme Mitsprechen der Kinder bei ihren Tiraden. Sohn Tom wird verpflichtet, doch vielleicht einmal einen Besucher zu organisieren und er tut das, indem er seinen Arbeitskollegen Jim einlädt. Das ist zufällig oder eben gerade nicht zufällig jener Jim, auf den Laura als Mittelschülerin die erste und einzige Liebe ihres Lebens projizierte, von Jim unbemerkt natürlich. Wie sie das später gesteht, ist im Stück wie auf der Bühne zwischen Nellie Thalbach und Florian Donath traumschön.

Man muss sehen, wie er (Jim O'Connor) auf dem Kissen hinter der Sofalehne sitzt, wie Laura möglichst sogar Blickkontakt vermeiden will und dann langsam mit ihrem Kissen herum rückt. Dann dieser Tanz, dem das gläserne Einhorn zum Opfer fällt. 1945 waren sich bei allen sonstigen Differenzen die New Yorker Kritiker einig, dass mit „Die Glasmenagerie“ die Poesie auf die Bühne zurückgekehrt sei. Ja, Poesie ist auf der Bühne. Sehr viel Poesie, Kitsch nicht, den 1948 im Hebbel-Theater Fritz Erpenbeck gesehen haben wollte, was alle anderen Kritiker, natürlich, möchte man meinen, anders sahen. Erpenbeck hätte es vermutlich lieber gesehen, wenn Amanda ihrer Tochter geraten hätte, in die Kommunistische Partei der USA einzutreten, statt auf einen Versorger zu warten. Stücke mit solchen Pointen liebte die frühe offizielle DDR, Klassenkampfkitsch war erlaubt und erwünscht. Tom Wingfield verlässt Mutter und Schwester und als er vom Geschehen erzählt, das vergangen ist und etwa in der Zeit von 1938/39 handelt, ist nicht mehr passiert als eben sein Versuch, auf eigene Beine zu gelangen. Weder Amanda noch Laura sterben, was wirklich Kitsch-Tragik geworden wäre, beide durchstehen die Situation mit einer Gefasstheit, die alle scheinbare Ge- und Zerbrechlichkeit wie Stärke scheinen lässt. Wie nah oder fern alles Bühnengeschehen der Williams-Biographie steht, ist dann eigentlich unerheblich.

Kurz vor der New Yorker Premiere seines Stücks „Endstation Sehnsucht“ hat Williams am 30. November 1947 einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel „Endstation Erfolg“. Darin stellt er dar, was der gigantische Erfolg der „Glasmenagerie“, die in New York allein mehr als fünfhundert mal gegeben wurde, mit ihm machte. „Selbst auf das Stück war ich nicht mehr stolz, ich mochte es nicht mehr ...“. Er floh nach einer Augenoperation nach Mexiko: „Der einzige Jemand, der zu sein sich lohnt, ist das einsame und unsichtbare Selbst, als das man vom ersten Atemzug an existiert hat ...“. 1950 schrieb Williams unter der Überschrift „Die zeitlose Welt des Theaters“. „Wenn die Welt eines Theaterstückes uns nicht Gelegenheit gäbe, seine Gestalten unter jener besonderen Bedingung einer Welt ohne Zeit zu betrachten, dann würden die Gestalten und Begebenheiten im Drama tatsächlich ebenso sinnlos werden, ebenso trivial wie entsprechende Begegnungen und Ereignisse im Leben.“ Georg Hensel hat einmal von der schamlosen Privatheit der Williams-Dramen geschrieben, die ihren überragenden Erfolg ausmachten. In der Komödie am Kurfürstendamm sehen wir, dass das noch immer perfekt funktioniert. Wir würden alle nicht lachen über die trivialen Dialoge und Verrichtungen, wenn es unsere eigenen wären, die ihnen in jeder Hinsicht gleichen dürften. Wenn wir uns aber verkörpert sehen, ohne uns sofort zu erkennen, dann lachen wir entfesselt.

Was ist aber genauer betrachtet lächerlich an dieser Mutter Amanda, wenn sie ihrem Sohn rät, was er wie essen soll? Was ist lächerlich, wenn sie im Kleid ihrer Jugend (das noch passt !!) zum Abend erscheint, das Berliner Publikum gibt Anna Thalbach hier emphatischen Szenenapplaus, was lächerlich, wenn sie an der ätherischen Robe ihrer Tochter zippelt, die laut Williams ja aus Mutters Kleiderschrank stammen soll? Lächerlich die neue Stehlampe, die neuen Vorhänge? Aus wessen Perspektive ist diese Kleinbürgerlichkeit eigentlich lächerlich, welche Arroganz maßt sich dieses Urteil an? Man muss die Frage nur stellen, um zu sehen, welche Fußangeln da lauern für voreilige Sichten. Man könnte für den zweiten Teil Anna Thalbach vor allem, aber auch Nellie den Vorwurf machen, sie würden eine Spur zu kräftig in Richtung Komödienstadl überdrehen. Genau das aber rettet die Zuschauer in die Distanz. Denn im Grund hat Williams ein todtrauriges Stück geschrieben, die Therapie, die Jim O'Connor Laura gegen ihre Minderwertigkeitskomplexe empfiehlt, ist das inzwischen schon selbst wieder fast klassisch gewordene positive Denken, das eben nicht hilft. Der größte Augenblick im Stück ist der, da Laura Jim das Einhorn schenkt zur Erinnerung. Katharina Thalbach lässt das fast beiläufig spielen. Auch das macht diesen Abend groß. Groß, wie Laura den betrunkenen Bruder bemuttert. Der Tanz von Jim und Laura. Theater geht doch noch. Und wie.
www.komoedie-berlin.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround