Sophokles u. a.: Elektra; Südthür. Staatstheater Meiningen

Alles Müller, oder was? Nein, gar nicht so viel Müller, wie vielleicht zu befürchten gewesen wäre. Der Text, den man im Programmheft nachlesen kann, ist zweimal zu hören. Vom Blut-Schweiß-Urin-Müller eher wenig bis nichts. Dergleichen Avantgarde steckt auch längst unter einer dicken Moos-Schicht, selbst wenn sie dreist zu glänzen scheint. Der Müller der Gespräche ist auf Länge einfach interessanter als der, der allweil Blut aus Brüsten saugen lässt und in Sägespäne pinkeln.Barbara Neureiter hat kein Stück „Elektra“ inszeniert, sondern den Stoff. Das ist nicht illegitim, wenngleich auch nicht originell. Eine Collage aus allerhand „Elektra“ von Aischylos („Das Opfer am Grabe“) über Sophokles und Euripides (jeweils schlicht „Elektra“) bis hin zu Hugo von Hofmannsthal („Elektra) gab es schon öfter, man kann nach Belieben auch Sartre beimischen („Die Fliegen“). In den Meininger Kammerspielen hörte man die Fliegen eingangs sogar summen und brummen, ehe das Spiel einsetzte, von Fliegen ist freilich auch bei Hofmannsthal die Rede. Streng genommen, hat Hofmannsthal die wichtigsten Teile zu diesem Bastelsatz „Elektra“ geliefert.

Es gab also eine Metamorphose zwischen der Aufnahme in das Spielplanheft 2015/16, wo noch von Sophokles pur die Schreibe war und dem schließlich fürs Spiel agglomerierten Text, den Regie und Dramaturgie (Barbara Neureiter und Patric Seibert) erstellten. Die Rudolf-Schottlaender-Übertragung des Sophokles bewies, wo sie zum Zuge kam, ihre Qualitäten, ihr fehlen auf alle Fälle jene Schwächen, die man Wolfgang Schadewaldt nachsagte, dessen Fassung früher gespielt wurde, wenn die „Elektra“ denn überhaupt gespielt wurde. Die „Antigone“ hatte immer bessere Karten, mit leichtem Abstand gefolgt vom „König Ödipus“. Dafür aber brachte Meiningen vor noch gar nicht so schrecklich langer Zeit einen „Ajax“, Regie Sebastian Baumgarten. Als der 1969 geboren wurde, spielte Deep Purple zum ersten mal „Child in time“ ein, ich erinnere mich des wilden Wettlaufs zwischen uns Ilmenauer Goethe-Schülern, wer zuerst die komplette Fassung auf Band hatte. An die Platten „Deep Purple in Rock“, „Concerto for Group and Orchestra“, später an „Made in Japan“ mit den frühen Zehn-Minuten-Fassungen, es gibt auch solche mit 16 Minuten, kam man natürlich nicht ran. In Meiningen liefert „Child in time“ die umwerfende Begleitmusik zum Finale Furioso.

So weit sind wir jedoch noch nicht. Aber ich bekenne gern zwischendurch meine Bestechlichkeit. Mit solcher Bühnenmusik bin ich zu bestechen. Da das Programmheft keine gesonderte Musik-Verantwortung ausweist und der Dramaturg Patric Seibert in durchaus ungewohnter Rolle als Kaugummi-kauender Pylades so hingebungsvoll Luftgitarre spielte, danke ich blind einmal ihm, er kann ja weiter reichen, falls er es nicht war. Zunächst also sitzt Meret Engelhardt als Führerin des nicht vorhandenen Chores auf einer Art Tennis-Schiedsrichter-Stuhl, oben strenge Zwiebel im Haar, Brille auf, man assoziiert jene aus siebzehn bis zweiunddreißig Filmen bekannten Blaustrümpfe, die nach dem Lösen ihre Haares zum Vamp werden, die den Schenkel schon um den Liebhaber schlingen, ehe der noch die Brille beiseite gelegt hat, die zur Kostümjacke passt. Gespielt wird dann auch tatsächlich, als wäre in der Mitte ein unsichtbares Netz gespannt, jedenfalls überwiegend. Die von Sophokles stammende Ankunft der drei Männer Orest (Björn Boresch), Pylades (Patric Seibert) und Erzieher (Christian A. Hoelzke), lässt Schlimmes ahnen, aber es wird nicht so.

Später weiß man, dass das hochseltsame Outfit des Orest mit Rock und großkarierter Jacke, dazu die Haare strähnig hängend wie Schnittlauch im Glas ohne Wasser (Bühne & Kostüme Helge Ullmann) komplementär gedacht ist zum ebenfalls seltsamen Outfit der Elektra (Evelyn Fuchs), weil ein Tausch vollzogen werden wird. Das stammt sicher aus irgendeinem Gender-Keller, zu dem mir der Zugangscode fehlt. Evelyn Fuchs muss erst einmal lange brüllen. Auf dem Weg zum Parkplatz folgten mir drei außerordentlich aufgedrehte Damen, weil ihr Auto, was ich nicht wissen konnte, genau neben meinem stand. Nachdem die aufgedrehteste den beiden anderen lang und breit von ihrer unruhigen Sitznachbarin erzählt hatte, sagte sie: „Ich dachte schon, das hält ja kein Mensch aus.“ Nach einer Pause: „Vor allem die nicht, die da schreit.“ Evelyn Fuchs hielt aus. Ihre von Haus aus leicht ins Heisere ragende Stimme hielt stand, bravourös. Ob das sein muss, ist eine völlig andere Frage, die Regie wollte es und so wurde es getan. Als Evelyn Fuchs dann mit der Urne und der vermeintlichen Asche Orests am Boden lag, hatte sie leise Töne, bravourös.

Elektra überfordert mehr Zuschauer als andere antike Heldinnen. Der Grund ist einfach: Ihre totale Fixierung auf den eigenen Hass gegen die leibliche Mutter und deren zweiten Gatten vermittelt sich nicht. Jedenfalls nicht in den antiken Ur-Texten. Deshalb, so vermute ich, hat auch Regisseurin Barbara Neureiter ihre Inszenierung an Hofmannsthal orientiert, selbst wo sie über längere Passagen den Schottlaender-Sophokles sprechen lässt. Denn Hofmannsthal hat in seiner Fassung des Stoffes eben der psychologischen Motivierung des Ablaufs Raum gegeben, indem er sie direkt zu Text, zu Dialog machte. Die langen Wechselreden zwischen Elektra und ihrer Mutter Klytaimnestra (Anja Lenßen) wie auch zwischen Elektra und ihrer Schwester Chrysotemis (Anna Krestel) sind reiner Hofmannsthal. Bei ihm ist eben motiviert, warum Elektra, als sie endgültig glauben muss, Orest sei tot, so und nicht anders zu ihrer Schwester spricht wie bei Sophokles, sie baut auf die nur bei Hofmannsthal ausgebaute „Vorgeschichte“ der Wünsche und Sehnsüchte beider Schwestern. Letztlich hat die Regie den leichteren Weg gewählt, die kleinere Herausforderung.

Das ist nicht vorwurfsvoll gesagt, es ist eine Feststellung. Der Psychologe möchte an Elektra vielleicht eine extreme Vater-Bruder-Fixierung erkennen, denn weder der Mutter und ihren Motiven noch der Schwester und ihren Argumenten und Empfindungen bringt sie auch nur den Versuch eines Verständnisses entgegen. Sie ist in einem klassischen Sinne unvernünftig. Das macht wohl bühnenwirksam, aber kaum lebens- und überlebenstüchtig. Es ist weniger Zufall, als es scheint, dass der Name Iphigenie in dieser Collage nicht fällt. Sie war es, die der Vater Agamemnon opferte, sie war es, die er mit ihrer Mutter, seiner Gattin, unter falschen Vorgaben zu sich lockte. Elektra hat kein Wort für sie, die immerhin auch ihre Schwester war/ist. Bei Hofmannsthal wird deutlicher als bei Sophokles, dass der Hass der Elektra im Lauf der Jahre durchaus rituelle Züge angenommen hat. Ein prägnantes Bild für ihre Irrationalität findet die Regie, wenn sie Evelyn Fuchs gegen die Wand rasen lässt. Auf die gegenüberliegende Wand schreibt Patric Seibert mit Kreide Wörter wie Muttermörder und Mördermutter und kurze Sätze. Das wirkt bestenfalls abgeguckt, man kennt es.

Im rechten Spielfeld steht von Beginn an eine Badewanne, sie wird im Lauf der knapp zwei Stunden von Elektra mit zwei Eimern gefüllt. Man ahnt in Kenntnis des Mythos, dass dies die Wanne sein soll, in der die Gattin den aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrten König mit dem Beil erschlug. Warum ihm im gesprochenen Texte Arme und Beine statt Hände und Füße danach abgehackt wurden, erschließt sich mir nicht. Blut aber fließt schließlich nicht in dieser Wanne, denn der usurpatorische neue König Aigisthos, der frisch preisgekrönte Hagen Bähr, wird auf dem Wege des Waterboarding umgebracht. So hat man die amerikanische Foltermethode als Todesart in die Antike implantiert und damit die zufällig oder beliebig wirkende Reihe von Filmeinspielungen nach Jonathan Littell wenigstens intern lose verankert. Man schaut nur immer mal mäßig interessiert an die rechte Wand, wo ein Mann mit langem offenen Militärmantel, langen Haaren und Schirmmütze durch leere Räume innen und außen wandert, während ein Text zu hören ist, der mit Elektra nichts zu tun hat. Von einer Partisanin ist einmal die Rede, die gehängt und geküsst wird. Gut denn.

Bei Sophokles ist der monologische Höhepunkt zweifellos die Erzählung des alten Erziehers, wie Orest beim Wagenrennen angeblich ums Leben kam. Man hat das Gefühl, der Dichter, der die 80 schon hinter sich hatte, als er „Elektra“ schrieb, wollte noch einmal richtig aus sich heraus. Die Regie kürzte, geblieben ist dennoch allerhand und Christian A. Hoelzke versuchte nach Kräften, diesen Part lebendig zu machen. Weniger fast überdrehter Körpereinsatz wäre überzeugender gewesen. Dann kommt Chrysotemis vom Grab des Vaters und hat dort frische Opfergaben entdeckt, die nach aller Logik nur von Orest stammen können. Wieder fehlt erklärende Psychologie im antiken Text, denn natürlich legte nicht irgendjemand Locken auf ein Grab, goss nicht irgendjemand frische Milch aus. Und trotzdem weist Elektra ihre Schwester schroff zurück, sie will glauben, dass Orest tot ist und eben nicht Hoffnung schöpfen oder gar einen ganz anderen Glauben. Und Chrysotemis lässt sich verblüffend rasch zur Lesart der älteren Schwester bekehren. Das sind die Tücken der Originale, die dem heutigen Theatergänger zum Glaubhaftigkeitsproblem werden.

Die linke Spielhälfte wird von Anja Lenßen dominiert. Sie hat vergleichsweise wenig Text, muss aber fast die gesamte Zeit sichtbar sein und agieren. Sie trägt das Hofmannsthal-Rot, bei Sophokles gibt es keine derartigen Angaben. Sie hat Sex mit Aigisthos unter der Decke, sie liegt und räkelt sich, sie kleidet sich vorm Spiegel an und um, alles erfreulich unspekulativ. Sie will wenigstens erklären, warum sie tat, was sie tat. Denn Elektra gesteht nur sich selbst, niemandem sonst, höhere oder vermeintliche höhere Motive zu. Deshalb kann sie nur Aigisthos als den Mordtreiber sehen. Deshalb argumentiert sie vor Chrysotemis zuallererst mit dem verlorenen Eigentum, dann mit dem profanen Wunsch nach Mann und Kindern, materialistisch, könnte man sagen. Heute würde man immer auch fragen, ob es denn Gründe gab für die Königin, sich einem anderen Mann zuzuwenden. Für Elektra aber scheint ewig Treue zum einmal genommenen Gatten göttliches Gesetz. Dafür gibt ihr die Regie ein Prise inzestuöser Neigung zum Bruder Orest bei, so abwegig ist das nicht. Nach vollbrachtem Waterboarding-Mord verliert Orest in Meiningen offenbar den Verstand. Elektra setzt nun auf Menelaos, der Beifall setzt verhalten ein. Ein Fehlversuch war es nicht.
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