Schiller: Die Räuber; Berliner Ensemble
Wenn hinreichend viele Regisseure und Regisseurinnen es hinreichend lange lustig fanden, die klassischen Schiller-Schlüsse und die nicht ganz so klassischen Schiller-Anfänge auf alle Fälle zu streichen, kommt irgendwann der eine, die eine, die dann wieder dem Drang zum Gegenteil Freilauf lassen und das führt in „Die Räuber“ im Berliner Ensemble dazu, dass hinten „Dem Mann kann geholfen werden“ gesagt wird und vorn: „Aber ist Euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blass.“Auch der geübtere Muttersprachler hat so die prima Gelegenheit, erst einmal über das scheinbar fehlende „aus“ am Anfang zu stolpern und gut gestolpert ist schon halb gewonnen. Regisseur Leander Haußmann schaute sich die ersten Minuten seines Regie-Produkts aus der Perspektive der Seitenloge an, vor die er sich gestellt hatte, denn ihm ist ein Vorspiel auf dem Theater eingefallen (Premiere war am 27. Mai 2016), in dem die Räuber schon während des Zuschauer-Einlasses vorn ein wenig Allotri treiben dürfen. Allotri mit Gesang, der, soweit es sich um gute alte Kampflieder der guten alten Arbeiterbewegung handelt, schon von eingeborenen Charlottenburgern nicht mehr gänzlich irritationsfrei aufgenommen werden kann, weil diesen die entsprechende Sozialisation fehlt. Ein 1959 zu Quedlinburg geborener Regisseur freilich, der kennt Kampflieder zwangsläufig auswendig, selbst wenn er sie erst spät im Dienst bei der NVA kennen gelernt haben sollte.
Es gab aber nicht nur „Wach auf, du junge Garde“ und „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf“, sondern auch „Street Fighting Man“, Titel Nummer 6 der legendären Rolling-Stones-Scheibe „Beggars Banquet“ (Decca 1968), später auch auf „Hot Rocks 2“, zu verkraften. Den Stones-Fan in mir riss es fast von meinem Sitz in der Reihe 12, die Dame links neben mir hielt sich beide Ohren zu und war mit ihrem Partner nach der Pause verschwunden, nachdem sie zu Beginn noch ganz stolz war, zwei Restkarten an der Abendkasse ergattert zu haben. So ist das, den einen ziehts, den andern schiebts. Zunächst aber, und das ist der Part des Abends, darf Matthias Mosbach sich als Franz Moor austoben. Drei Schiller-Monologe lang hat er Zeit, alles aus sich herauszuholen, was der Text scheinbar und tatsächlich hergibt. Schon wie er einrollt: grenzdebil in einem Rollstuhl hängend, dann plötzlich wie von einem Stromstoß aktiviert. Den Brief trägt er seinem Vater vor, nicht einen Augenblick auf das Papier schauend, denn diesen Brief kennt er tatsächlich auswendig, er bibbert vor Lust und Angstlust. Und so weiter. Das ist ein Franz! Wer für diese „Kanaille“ einen solchen Darsteller auf die Bühne stellt, muss damit leben, dass Bruder Karl nicht nur von des Gedankens Blässe angekränkelt scheint. Anderen Inszenierungen ist gelegentlich angelastet worden, der Hyperbösewicht treibe automatisch Sympathien des Publikums in Karls Pferch. Anderen.
Dieser von Leander Haußmann entworfene Karl Moor (Felix Tittel) ist kein Typ, dem die Herzen sämtlicher aktuellen Geschlechter entgegen fliegen, hinzu kommt, dass auch diese Inszenierung am Ende die Frage unbeantwortet lässt, wieso Amalia (Antonia Bill) diesen jungen Mann nicht erkennt, wo doch selbst bei Klassentreffen nach vierzig Jahren die Trefferquote sehr hoch ist. Die Frage ist aber leicht zu beantworten, wenn man „Die Räuber“ nicht als Bild wirklichen Lebens nimmt. „Die Räuber“ sind ein Bühnenkonstrukt, sonst wären sie kein Kunstwerk. Man könnte alles aufzählen, was den schwäbischen Heißsporn an Quellen, Anregungen, Inspirationen bewegt hat inklusive seiner eigenen Biographie mit ihrem brachialen Vater-Verlust bei Eintritt in die gern zur Hölle stilisierte Karlsschule (sie war es nicht, das ist längst erwiesen), dem Theaterpublikum ist das heute so egal wie stets, wenn der Erstling auf einer Bühne erscheint. Mit den Augen rollen allenfalls die Kritiker, während in der Pause junge Besucherinnen sich gegenseitig versichern, „es sei phasenweise ganz witzig“ gewesen, ältere Paare darüber sinnieren, warum Textteile in englischer Sprache vorgetragen wurden, was sie gar nicht verstanden hätten. Als müsste man aus dem Theater gehen und alles verstanden haben. Wo man doch auch im Leben eher weniger als mehr versteht. Semiotisch gesprochen ist es faktisch ausgeschlossen, es liegt am nicht-identischen Zeichenvorrat.
„Die Räuber“ im Berliner Ensemble sind einer weniger als bei Schiller, es fehlt der Kamerad Grimm. Abwesend ist auch der Pastor Moser, an dem sich (nicht auf der Bühne) trefflich Biographie lesen ließe, legte man es auf sie an. Ein Pater (Michael Kinkel) ist da, Hermann, der Bastard von einem Edelmann (Uwe Dag Berlin) auch, er baumelt ein Weilchen vom Schnürboden herab, Daniel, Hausknecht des Grafen Moor (Peter Luppa): ein Kleinwüchsiger. Ein Kritiker fühlte sich an die „Glorreichen Sieben“ erinnert, auch wenn es mit Karl acht waren und bei Schiller dann sogar neun. Überhaupt ist es lustig, anlässlich einer Aufführung ein halbes Jahr nach der Premiere die damaligen Kritiken zu lesen. Sie menscheln. Sie menscheln alle. Alle assoziieren, was ihnen selbst wichtig war und ist. Zum Beispiel Geisterbahnen der achtziger Jahre. Mir würde das nie einfallen, weil ich nie in einer war. Zum Beispiel Szenen aus Quentin Tarantino. Die hätte ich längst vergessen, selbst wenn ich sie gesehen hätte. Hab ich aber nicht. Alle haben bemerkt, dass es eine (wunderbare) Szene mit dem Cat-Stevens-Song „Father and Son“ gibt, deren Wirkmacht freilich nicht nur aus dem Umstand des kruden Tanzes von Franz mit seinem vermeintlich toten Vater Maximilian (Roman Kaminski) ausgeht, sondern vom Text her: „It's not time to make a change, just relax, take it easy ...“. Fast Zeile für Zeile Bezüglichkeit, wenn auch keine Sinnhuberei.
Anno 1971, als Leander Haußmann noch ziemlich jung war, gab es an der Volksbühne „Die Räuber“ von Karge/Langhoff. Noch heute mit Lerneffekt zu lesen, was im reichlichen Dutzend damals aktueller Kritiken alles aufgeboten wurde, um das Regieduo indirekt oder sehr direkt abzumeiern. Niemand wagte den direkten Verweis auf westdeutsche Inszenierungen seit 1967, der Blick auf die Studentenbewegung war dennoch selbst in Ostberlin nicht auszublenden und alle hatten, was heute niemand mehr wagen würde zu sagen: Das Bild eines vermeintlich fixen, eines vermeintlich nur zu entfaltenden Schiller-Stückes, dessen marxistisch-leninistische, dialektisch-historisch-materialistische Lesart den Idealtypus bildet, dem sich gute Inszenierungen nähern, im günstigen Falle asymptotisch, von dem aus gesehen aber schlechte Inszenierungen die Potenz in sich trugen, den DDR-Theatergänger vom rechten (sprich: linken) Weg abzulenken, weg zu führen. Die Ablehnung jeden Musterschülertums, die anlässlich dieser „Räuber“ noch einmal fast überall als Haußmann-Credo zitiert wurden, hat im tiefen Grunde damit zu tun. Will ich vermuten. Auch wenn gerade an Schiller die Versuchung klebt, seiner berühmten Bewerbungsrede von der stehenden Schaubühne als moralischer Anstalt buchstäblich auf den Leim zu gehen. Nicht einmal „Kabale und Liebe“ war wirklich eine Eigenprobe aufs Exempel, „Die Räuber“ schon gar nicht.
Was Karge/Langhoff aber 1971 bereits bühnenwirksam zu machen versuchten, nahm den Theorie-Ansatz vorweg, um den sich wie um andere auch selbstbewusste Regiemeister/innen ohnehin vorgeblich nicht kümmern. Herbert Kraft unterzog 1978 gewissermaßen die gesamte bisherige Schiller-Literatur dem Vorwurf, „Um Schiller betrogen“ zu haben, wollte speziell bei „Die Räuber“ die beabsichtigte Fortsetzung „Die Braut in Trauer“ mitgedacht und mitgesehen wissen, aus deren Existenz, wie fragmentarisch auch immer, der Fragment-Charakter auch des scheinbar abgeschlossenen Erstlings herrühre (verschiedene Fassungen, unterdrückte Bogen u.a. inklusive). Und, der Bogen ist gezogen, auch Leander Haußmann hat „Die Räuber“ als Fragment gesehen. Der gemeinsame Abgang der Brüder Karl und Franz, ihr Ringen und Kabbeln, endlich kann ich auch einmal eine Assoziation vortragen, die ich bisher noch nicht las, erinnert an einen Bertolucci-Schluss: zwei „Brüder“, Alfredo und Olmo, auf Schienen in Richtung Ferne, war einer nicht Robert de Niro?? Die Pause, eine Feststellung aller Kritiken, die mir gewärtig sind, trennte den Abend nicht nur zeitlich, sondern auch qualitativ. Vor der Pause Feuerwerk, nach der Pause Verglimmen, Pulver verschossen, das war wohl so, wenngleich es mich nicht unmäßig störte. Die kaum zu kaschierende Uneinheitlichkeit, das soll nie vergessen werden, liegt schon bei Schiller selbst.
Es wimmelt von Einfällen in dieser Inszenierung, wie viele Anspielungen, wie viele Zitate sind, mag der Abteilung Erbsen und Korinthen zählend und kackend wichtig sein, ich nenne ein paar, die mich besonders ansprachen: Spiegelbergs (Luca Schaub) orthodoxe Schläfenlocken, wie Vater Maximilian mit seinem Rollstuhl Franzens Hand überrollt, wie die Räuber in Nonnengewändern einlaufen, wie der Pater seine Hostie mampft. Dass auf den Flugblättern nichts stand, erschloss sich mir in der zwölften Reihe nicht, so weit blies sie die Windmaschine nicht ins Publikum, ich hätte vielleicht „Ätsch!“ aufdrucken lassen, aber ich halte mich mit eigenen Ideen zurück. Sollte der pausieren wollende Regisseur tatsächlich die „sakrosankte Zielgruppe“ der Filmbranche, die 16- 25-Jährigen, vermeintlich gegen eigenes autobiographisches Bekenntnis, im Auge gehabt haben, dann wäre das alles andere als Untreue gegen sich selbst. Zum Film muss diese Zielgruppe nicht getrieben werden, wie auch immer sie ihn konsumiert. Ins Theater aber muss sie ohne Popcorn, sie kann den Abend weder herunterladen noch streamen. Wenn „Die Räuber“ jungen Beifall fänden, obwohl sie „Im Wald, da sind die Räuber, heidi-heida die Räuber“ eben auch singen, dann wäre das ja was. Die akademischen Hörgeräteträger sind in ein paar Jahren weg, die Theater (in der Provinz eher, in Berlin später) wären dann leer, nicht einmal ein reanimierter Castorf hülfe dagegen.
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