Shakespeare: Der Sturm; Meininger Staatstheater

Heinrich Heine schrieb einen Satz über „Der Sturm“, der vielleicht eine Brücke baut zu einem auffallenden Detail im Bühnenbild dieser Inszenierung von Andreas Morell: „Das Wesen der Shakespeareschen Komödie besteht in der bunten Schmetterlingslaune, womit sie von Blume zu Blume dahingaukelt, selten den Boden der Wirklichkeit berührend.“ Mehrfach sieht man rechts, wenn sich eines der hohen grauen Wandelemente dreht wie eine klassische Drehtür, auf der Rückseite eine überdimensionale Schmetterlingssammlung. Sie ist einer der drei kräftigeren Farbtupfer des Abends, der zweite die Kinderstube Mirandas mit einer bunten Lichterkette über dem Gitterbett, der dritte eine Art von Terrarium, in dem man Ferdinand und Miranda sieht, als es gilt, die Fronarbeit des Prinzen für die Angebetete sichtbar zu machen: beide steigen wie die Wetterfrösche auf einer Leiter nach oben, die keusche und jungfräuliche Miranda agiert da wie eine rollige Katze. Falls jemandem unerfahrene Keuschheit und maunzende Anmache als Widerspruch erscheinen: sie sind es. Sie sind nicht der einzige Widerspruch des Abends, zugleich auch nicht der einzige in Shakespeares später Romanze, sie charakterisieren, wenngleich nicht allein, das Stück.

„Der Sturm“ erlebte Ende 1611 nachweislich seine erste Aufführung, ist damit vergleichsweise präzise zu datieren. Damals war die Seefahrt mit hohen Risiken verbunden, der Schiffbruch häufig, der Verlust von Mensch, Material und Handelsware Alltag, hinzu kamen, nicht zuletzt in Diensten der englischen Königin, Piraten, die Schiffe überfielen, ausraubten, versenkten. Dennoch wäre die Annahme falsch, dergleichen Umstände hätten Shakespeare mehr als stoffliche Hintergründe geliefert. Die Quellenforscher haben auf einen spektakulären Fall verwiesen, der 1610 im Empire bekannt wurde, die Quellenforscher haben auch auf den Essay „Von den Cannibalen“ hingewiesen von Michel de Montaigne, den Shakespeare gekannt und benutzt haben soll. Auch hier wären alle Annahmen falsch, die daraus den „Sturm“ in eine Art Zeitstück verwandeln wollten. Immerhin: Wer sich an den Text hält, weiß: Prospero war ein Herzog in Mailand, dem alles andere wichtiger war als das Regieren, das er dem Bruder überließ, der das so lange machte, bis ihm die nahe liegende Idee kam, er könne doch gleich die volle Macht übernehmen. Das tat er im Bündnis mit dem König von Neapel, seine Skrupel dabei waren groß genug, Prospero nicht glatt zu ermorden.

Er ließ den rechtmäßigen Herzog stattdessen in einem maroden Boot aussetzen (Gottseidank kam in Meiningen niemand auf den Gedanken, hier „Flüchtlingsboot“ zu assoziieren), gab ihm seine dreijährige Tochter Miranda mit und einige Dinge, darunter offenbar das sprichwörtliche Buch, das einer mit auf eine Insel nehmen würde, wenn er nur eines mitnehmen dürfte. Prospero entscheidet sich für sein Zauberbuch, dessen Studium ihn hauptursächlich vom Regieren abgehalten hatte, bei Shakespeare gehören zur Ausstattung auch ein Zaubermantel und ein Zauberstab. In Meiningen darf man mit etwas gutem Willen einen Pelzmantel als den Zaubermantel ansehen, gestrichen ist der Stab. Dieser Verlust fällt am Ende weniger auf, da auf die finale Verabschiedung von Stab und Buch im finalen Monolog ebenfalls verzichtet wird. Zum Wundern für Zuschauer bleibt: wie kommt der große Pappkarton auf die Insel, in dem der Ex-Herzog nächtigt, nicht zu reden vom Gitterbett für die kleine Miranda. Der Dreijährigen war das Bett wohl angemessen, zwölf Jahre später ist es der Fünfzehnjährigen entschieden zu klein. Dafür muss das Kinderkleid mitgewachsen sein all die Jahre, sonst hätte jede Miranda dieser Welt nackt über die Bühne zu wandeln.

Ein Stück mit Zauberei, Luftgeistern und Erdgeist sollte freilich nicht mit solch staubigen Maßen gemessen werden. Sonst wäre zu fragen, ob einer, der Stürme erzeugen kann und wieder abschalten, obzwar nur unter Zuhilfenahme eines gewissen Ariel, nicht auch eine anständige Jacke beschaffen könnte. Der Meininger Prospero (Michael Kind als Gast) beginnt den Abend im Penner-Outfit, wie es unter keiner Berliner S-Bahn-Brücke schicker zu tragen wäre, dort gibt es immerhin noch Matratzen und Hausrat, hier gab es nichts weiter. Wir ahnen nicht und Shakespeare verrät es auch nicht, wie Vater und Tochter über die zwölf Jahre kamen, wir ahnen nicht einmal, wozu in Meiningen das Holz benötigt wird, für das Caliban zuständig ist: sein Sklavendienst besteht hauptsächlich im Holzmachen. Die Pappkiste hat ebenso wenig einen Ofen wie die bunte Kinderstube, die immerhin über elektrischen Strom verfügt. Verblüffend ist, dass Vater Prospero Tochter Miranda (Carla Witte) die gemeinsame Vorgeschichte in Mailand erst am Tag der Handlung erzählt, die in für Shakespeare seltener Einheitlichkeit innerhalb weniger Stunden an nur einem Ort abläuft. Aristoteles dürfte sich auf alle Fälle in seinem griechischen Grab gefreut haben.

Einen Teil seiner Freizeit hat Prospero sicherlich mit dem Beobachten der offenen See verbracht, sonst wäre ihm jenes Schiff kaum aufgefallen, das er mittels arielbasiertem Sturm an seine Insel-Ufer zwang. Der dramaturgisch herrliche Zufall wollte dabei, dass auf diesem Schiff alle unterwegs waren und zwar auf dem Rückweg von einer Hochzeit in Tunis, an denen Prospero ein Rachegelüst zu kühlen gehabt hätte, wäre er ihrer habhaft geworden: jetzt hat er sie. Doch fährt er nicht wie der Sturm in Person über sie hin, erst verkuppelt er den Prinzen Ferdinand (Yannick Fischer), der der Sohn des Alonso, König von Neapel, ist (Renatus Scheibe). Regisseur Morell führt den Prinzen scharf an der Tuntigkeit ein, man sollte nicht glauben, dass diesem ein Mädchenherz zufliegen könnte, wie es dann tatsächlich fliegt. Nur hat Miranda noch nie einen Mann gesehen außer dem eigenen Vater und diesem Caliban, der zudem in Meiningen nicht nur von einer Frau gespielt wird (Meret Engelhardt), sondern auch mit deutlich weiblichen Attributen ausgestattet ist, sekundären Geschlechtsmerkmalen, hätte man einst gesagt. Hormonell ist seitens Miranda alles erklärlich, dramaturgisch ist Liebe auf den ersten Blick ohnehin immer aller Zweckrationalität überlegen.

Die Schiffbrüchigen Meiningens krachen aus übergroßen Wandschränken auf die Bühne, sie werden, wir wissen es, vom Magier zerstreut, er kennt die Römer-Regel Divide et impera, deren Vollzug die Beherrschung der zu beherrschenden Gesamtheit entschieden erleichtert. Im vorliegenden Fall nehmen die Teilgruppen jeweils von sich und den anderen an: sie seien die einzig Überlebenden, die anderen unter den Opfern. Also der König trauert um seinen toten Sohn, während dieser bereits auf Miranda fixiert ist. Die Herren Sebastian (Matthias Herold) und Antonio (Reinhard Bock) erwägen zwischenzeitlich eine neuerliche Macht-Umverteilung mittels Königsmord, es mangelt ihnen aber an letzter Entschlusskraft, die überhaupt in diesem Spiel als dominante Mangelware erscheint. Denn auch die Rüpelszenen-Partner Stephano (Reinhard Bock) und Trinculo (Matthias Herold) sind zögerlich wie genuine Sozialdemokraten, ihr Neupartner Caliban ist eher ein Maulheld als eine Mordbübin. Als Antonio hat Reinhard Bock den Utopie-Monolog des gestrichenen Gonzalo mitzusprechen, mir erschloss sich nicht, warum auf die Rolle, nicht aber auf ihren Text verzichtet wurde. Die danach entstehende Irritation ist wenig hilfreich.

Für den Erzkomödianten Renatus Scheibe war die Königsrolle wohl eher Herausforderung als Erfüllung. Wo er wenigstens ansatzweise komisch sein durfte, war er sofort stärker als sonst. Für Vivian Frey aber, den Luftgeist, der rauchend und trinkend eingeführt wird in einer Hängematte, ist das der Abend der Abende. Wackere Interpreten haben gemeint, „Der Sturm“ hieße treffender „Prospero“, in Meiningen heißt das Spiel „Ariel“. Frey hat Szenen über Szenen, in denen er spielt, wie ich ihn nie sah. Wo er als Unsichtbarer neben den Agierenden steht, sie umkreist, belauscht, beäugt, da erzeugt er mehr Komik als die beiden dann doch eher blässlichen Rüpel, die eigentlich bei Shakespeare das Abonnement auf die Lacher haben. Herold und Bock ließen mein Zwerchfell vollkommen unerschüttert. Frey reizte es heftig. Nächst ihm dominiert in Präsenz und Strahlkraft Meret Engelhardt, die ich zuvor schon in sieben verschiedenen Rollen sah in Meiningen, zuerst vor knapp drei Jahren als Hero in „Viel Lärm um nichts“. Ihr Caliban funktioniert, sie zeigt die Facetten der Rolle als Facetten. Fluchen, wir wissen es, war Lernstoff für das Hexenkind, und Meret Engelhardt flucht lispelnd. In einem aus tiefster Tiefe kommenden Ausbruch killt sie einen Teddy.

Dass Musik im „Sturm“ eine besondere Rolle spiele, wollte Shakespeare selbst. Auch wenn er wohl eher an Sphärenklänge des frühen siebzehnten Jahrhunderts dachte. Die Fox-Sitcom „Eine schrecklich nette Familie“ mit ihren letztlich 259 Episoden in elf Staffeln sah er beim besten Willen nicht voraus. Den Erkennungssong „Love and Marriage“ fügte die für Sound und Musik zuständige Caroline Siegers ein, dazu bewegt sich ein Männerballett mit sichtlichem Spaß auf der Treppe, die einer Show-Treppe so gar nicht gleicht. Ein Publikum, dem Al, Peggy, Kelly und Bud Bundy vertraut sind, kann hier ein Zusatzvergnügen genießen, es ist ein Kabinettstück geworden. Gesungen wird, Leitkultur her oder hin, auch ein deutsches Lied: „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, aus der Feder von Ralph Arthur Roberts und inzwischen mehr als 100 Jahre alt. Und Ariel bekommt auch in Meiningen seine immer wieder erwünschte Freiheit. Prospero fordert den Beifall im Epilog heraus, der die Rolle schon verlässt, das Publikum hätte ihn auch ohne diese verbale Animation gespendet. Finale Fußnote: das Programmheft zitiert Rolf Vollmanns Figuren-Charakteristiken, die ich sehr mag, auch weil Vollmann unbeirrt, wo immer möglich, Wieland-Übertragungen zitiert. Das Meininger Staatstheater spielt den Text von Rainer Iwersen, den man nicht zwingend kennen muss.
www.meininger-staatstheater.de


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