Goethe: Faust I; Anhalt. Theater Dessau

Man kann darüber nachdenken, ob das Nachdenken über einen großen Gegenstand zu größeren Gedanken führt als das Nachdenken über einen kleineren Gegenstand. Ein Uralt-Witz scheint das Thema ziemlich erschöpfend zu behandeln: Wer Großes beabsichtigt, möge einfach einen Elefanten waschen. Die Frage wäre: ist Goethes „Faust“ so ein waschbarer Elefant? Eugen Ruge kam unlängst im Staatsschauspiel Dresden auf die nur scheinbar rein rhetorische Frage, ob in weiteren 200 Jahren unser aller Oberklassiker als Vertreter einer ausgestorbenen Sprache mit seinen Werken allein in klimatisierten Archivkellern ein Resterampen-Dasein fristen könnte. Aus dieser Perspektive wäre jede neue „Faust“-Inszenierung eine Art von Rückzugsgefecht voller Don-Quijote-Heroismus. Aus dieser Perspektive wäre gar die figürliche Vervierfachung der Faust-Figur auf einer Bühne etwas wie Beschwörungsmagie. Als Dresden vor dreieinhalb Jahren den entsprechenden Versuch wagte, hatten nicht wenige Kritiker den unverschämt auf jeder Hand liegenden Sofort-Vergleich parat: Vier Fäuste und (k)ein Hallelujah. Das Anhaltische Theater Dessau hat seit der Premiere am 12. Mai 2017 auch vier Fäuste auf seiner großen Bühne, einen davon allerdings nicht aus Fleisch und Blut.

Denn der vierte Faust hängt an Strippen, ist eine Marionette, im Programm als Fausts Seele ausgewiesen und geführt von Uta Krieg. Den Zugewinn aus dieser Idee für die Inszenierung kann ich mir allenfalls als Verweis auf jenes historische Faust-Puppenspiel erklären, das zu den frühen Stoff-Erfahrungen Goethes gehörte, lange ehe seine eigene, dann sechzig Jahre mit mehr oder minder großen Pausen anhaltende Beschäftigung mit dem Faust begann. Und natürlich aus der sich erstaunlich tragfähig erweisenden Regie-Idee, einen spartenübergreifenden „Faust“ zu präsentieren, der nicht einfach die beiden vorangegangenen Inszenierungen heutig paraphrasiert. Regisseur K. D. Schmidt, erstmals als Gast vom Staatstheater Mainz in Dessau aktiv, die Vornamenskürzel gelten als Markenzeichen und kennzeichnen kein Recherche-Manko des Kritikers, gibt mit seinem, dem dritten „Faust“ in der Inszenierungsgeschichte des Hauses nach 1990, natürlich keine Talentprobe ab. Für einen vom Jahrgang 1955 käme das wohl etwas spät. Sein „Faust I“ lockt in der für die aktuelle Spielzeit letzten Aufführung am Ostersonntag knapp ein Jahr nach der Premiere noch immer eine ansehnliche Zahl Zuschauer an. Wie lange der Erfolg anhält, muss sich zeigen.

In ihrer Stückeinführung erinnerte Raphaela Groh an die beiden Vorläufer der aktuellen Dessauer Inszenierung: 1994 brachten Helmut Straßburger und Hansgeorg Hering einen „Faust“ auf die Bühne, der sich sage und schreibe 13 Jahre lang im Spielplan hielt. 2008 ließ Carl-Hermann Risse seinen „Faust“ folgen, der sich bis zur dritten, der jetzigen Fassung 2017 hielt. Dessau und „Faust“, scheint es, haben ein beinahe symbiotisches Verhältnis. Es gab eine Vorwarnung, gelegentlich sehe man mehrere Fauste zugleich auf der Bühne, das geschah dann auch ziemlich oft. Wobei sich die Marionette an ihren Fäden bewegte, während Christel Ortmann (Faust 1, Greis), Dirk S. Greis (Faust 2, mittleres Alter) und Andreas Hammer (Faust 3, der verjüngte Faust) ihren jeweiligen Text sogar abwechselnd oder synchron oder kanonartig sprachen. Christel Ortmann saß im Rollstuhl, Dirk S. Greis durfte mit Büchern werfen, die auf der anfangs leeren Bühne in der Mitte gestapelt lagen: Wir wissen es: „Habe nun ach ...“. K. D. Schmidt setzt, das erlebt der Zuschauer rasch, auf Opulenz. Opernchor und Ballettensemble füllen die Bühne in mehreren Szenen, dass der Opernchor an Oper erinnert, muss man in Kauf nehmen. Oper hat in Dessau auffällige Spielplan-Dominanz.

Fünf der zehn Premieren der laufenden Spielzeit 2017/2018 im Großen Haus sind Opern, hinzu kommen ein Musical, ein Ballett, die einzige „echte“ Schauspielpremiere trägt zudem das Wort Oper im Titel: „Die Dreigroschenoper“ von Brecht. Das alles ist natürlich zuvorderst verkörperte Kompetenz. Das Spartenübergreifende der Inszenierung muss also nicht als willkommener Nebenjob für die womöglich unausgelasteten Sparten des Hauses missdeutet werden. Diesem „Faust“ bekommt es. Es bekommt ihm sogar nach dem knappen Jahr Laufzeit so gut, dass fast zwanzig Minuten der angekündigten drei Stunden inklusive Pause eingespart werden. Vielleicht haben sich alle Beteiligten ja nur besonders beeilt, um noch einen Rest vom Feiertag im Kreise der jeweils Lieben zu ergattern. Das Publikum seinerseits sparte mit dem Applaus nicht und hatte dafür gute Gründe. Opulenz also im Prolog im Himmel, Mephistopheles (Sven Brormann) erscheint zunächst mit schwarzen Flügeln, die er dann ablegt, die Stimme Gottes aus dem Off ist weiblich. Vor dem Tor herrscht wild-buntes Treiben: wo Faust Mensch ist und es sein darf, steht eine Rutsche und es erklingt der unausrottbare Mitklatsch-Schlager „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“.

Nach einer Dreiviertelstunde Spiel wird die Wette geschlossen, die zu verlieren, Faust-Kenner wissen das, Faust nie auch nur ansatzweise in Gefahr gerät. Er muss freilich in seiner Studierstube wirklich geradezu gnadenlos vom Leben isoliert gewesen sein, sonst könnte man ihm mit solchen albernden Gaukeleien wie in Auerbachs Keller keinen Reiz verschaffen. Dass er dann ansatzlos gewissermaßen dem ersten besten Mädchen, das ihm über den Weg läuft, Gretchen, Arm und Geleit anträgt, dieses Mädchen ihn abweist, deutet ebenso auf radikalen Mangel. Faust ist, anders geht das alles nicht auf, sexuell dehydriert, er nötigt seinen dienstbaren Geist, schnellste Abhilfe zu schaffen. Und dennoch braucht es am Ende eine Überdosis Schlafmittel für die misstrauische Mutter, die entsprechende Phiole mit dem Trank hatte zweifellos noch keine Packungsbeilage vom Apotheker. Schöne Details hier: das Bohren nach Wein mit dem spitzen Finger, die mehrfach wiederholte Anmache Fausts wie in einer Endlosschleife. Die tobende Keller-Besatzung, der K. D. Schmidt einen Rechtsdrall verordnet hat: die einzige nicht ganz zum Ganzen passende Vordergründigkeit, die sich die Inszenierung leistet, wirkt allzu zeitgeistig korrekt. Die Musik klingt nach Rammstein.

Gretchen (Mirjana Mirosavljević) ist, Gretchen-Kenner wissen das, natürlich nicht erfolgreich mit der Abweisung des Anbandlers, sie fragt sich, was der wohl an ihr finden könnte und es raubt ihr den Schlaf. Die Zuschauer sehen, wie sich diese Schlaflosigkeit augenfällig äußert: immer neue Schlafstellungen werden probiert, die auch sonst nützliche Decke ist stets einbezogen in die Aktion. Und dann vollzieht sich in ungebrochener Folgerichtigkeit, was sich vollziehen muss. Paare mit unerfülltem Kinderwunsch sehen die Gretchen-Tragödie sicher mit völlig anderen Augen: für sie wäre Schwangerschaft nach dem ersten Versuch Glück in Reinkultur. Seinerzeit aber, der Zeit der Handlung, der späteren Zeit der Niederschriften Goethes noch immer, war ein unehelich schwanger werdendes Mädchen in fast allen Fällen das unglücklichste Geschöpf auf Erden, dem nicht selten die eigene Familie, und nicht einmal immer der Vater zuerst, Liebe und Obdach entzog. Der junge Goethe war mit seinem „Urfaust“ noch nicht beim christlichen Finale des „Ist gerettet“ gelandet. Der amtliche Goethe, der Neuwert dieser Nachricht ist verschlissen, segnete selbst ein Todesurteil gegen eine solche Kindsmörderin ab. Dennoch bleibt Gretchen im Ganzen des „Faust“ nur Episode.

Sehr provokant hat dies vor Jahren der sich später als bekennender Alt-Stalinist gefallende Peter Hacks formuliert: „Die Gretchenepisode, die ihm seine realistische Selbständigkeit und große Wirkung gibt, ist doch im Rahmen des Gesamtstücks ein Tumor: ein Organ, das sich weigert, ein Teil zu sein, und sich zur Hauptsache hinaufwuchert.“ Almut Fischer hat im Programmheft, das angenehm informativ und noch angenehmer unprätentiös ist, auf die nur scheinbar banale Tatsache hingewiesen, „dass die Titelgestalt der Tragödie selber eine durchaus untragische Gestalt ist. Faust fehlt die elementare Bedingung des Tragischen: das Leiden. Daher wendet sich ihm auch in keinem Moment das Mitleiden des Zuschauers oder Lesers zu. Über Faust hat noch nie ein Mensch eine Träne vergossen.“ Wie sollte das auch sein, wenn einem auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, ein gefallener Engel namens Mephistopheles seltsame Probestücke liefert, deren Zusammenhalt selbst Goethe nach sechzig Jahren Arbeit am „Faust“ nicht restlos zufrieden stellte? Die drei Faust-Darsteller in Dessau (Plural, keine Geschlechter-Diskriminierung) fürchten sich nicht vor den Sätzen, die vermeintlich jedes Publikum mitsprechen kann, das ist lobenswert.

Dennoch kann ich meinen Zweifel nicht unterdrücken, dass eine Figuren-Spaltung in mindestens den alten und den verjüngten, den jungen Faust, das Dilemma nicht löst, vor dem selbst die größten Faust-Darsteller bisweilen standen: sie waren oft schwach nach der Verjüngung, man nahm ihnen die Jugend nicht ab. Umgekehrt überzeugte Christel Ortmann als Uralt-Faust ohne Wandlungsdruck mich dann doch umstandslos. Illi Oehlmann, im Prolog im Himmel Stimme des Herrn, später die Nachbarin Marthe, die dem Mephistopheles für ihn bedrohlich nahe kommt, später das Lieschen und auch noch eine der Hexen, gelang das auch. Im Wechselspiel mit ihr hatte Sven Brormann, will mir scheinen, stärkere Momente als bisweilen mit Faust und dessen Seele. Die die alte Stadt vorstellenden Bauteile aus Schaumstoff (Bühne Jürgen Lier) symbolisierten auf überraschend simple und eben deshalb eindrückliche Weise den schwankenden Boden, auf den sich das Paar Faust und Margarete begaben, als sie ihrer Leidenschaft die Fesseln lösten. Und sie konnten am Ende zwanglos den Kerker vorstellen: wie ein Ring um das Gretchen, das eben nicht rettbar, sondern unrettbar von seinem Gewissen heimgesucht wird, nur schwach getarnt als Wahnsinn.

Dessaus Mephistopheles grinst am Ende, nach hinten abgehend, ganz kurz ins Publikum, als wisse er sich mit ihm im Einverständnis. Chor und Ballett sind regelrecht von der Bühne vertrieben worden. Und das „Heinrich! Heinrich!“ bleibt nicht der Schlusspunkt. Denn Faust spricht, sein weiteres Sein im Leben und auf der Bühne andeutend, aus dem ersten Akt des zweiten Teiles, „Anmutige Gegend“ überschrieben, die Verse: „Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, / Ätherische Dämmerung milde zu begrüßen; Du Erde, warst auch diese Nacht beständig / Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen“. Fausts Marionetten-Seele tobt an ihren Fäden. Peter Hacks sah in seinen „Faust-Notizen“ aus dem Jahr 1962 schon die Möglichkeiten, die er eröffnet, wenn verfahren wird wie in Dessau mit K. D. Schmidt: „... man kann, indem man die erste Szene des zweiten an den ersten Teil anhängt, den Vorfall in seine Episoden-Schranken zurückweisen; Faust überschläfts, und es wird weitergehn.“ Was käme, wäre nicht die Tagesordnung für ihn, wohl aber die größere, die große Welt. Das Wort Fausts im Kerker: „Lass das Vergangene vergangen sein!“ hat heute vielen einen Beigeschmack, Goethes letztes Wort zur Sache war es eben gerade nicht.
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