Albee: Wer hat Angst vor Virginia Woolf?; Residenztheater München
Nach der Münchner Premiere am 18. September 2014 verbreitete vor allem die für die Nachrichtenagentur dpa im Residenztheater sitzende Kritikerin ein wenig eigenen Missmut, was dank der Agenturkritiken kaufenden Presse dann folgerichtig eine gewisse Verbreitung fand. Das Tröstliche dabei: die Premiere ist immer der Sonderfall, nie der Regelfall des Theatererlebens und Kritiker, die das wissen, gehen wider besseres Wissen dennoch immer wieder in die Premieren. Die Theater erwarten das, die Leser von Kritiken, eine verschwindende Minderheit, erwarten das auch und vier Jahre später ist die erstaunte Welt plötzlich und unerwartet mit dem Umstand konfrontiert, dass die bemäkelte Inszenierung sogar auswärts die Hütten füllt, also bei einem Gastspiel. War da irgendjemand jenseits der schreibenden Zunft, dem mehr Sozialkritik und/oder Gesellschaftskritik angenehmer gewesen wäre? Schien irgendjemandem außerhalb der schreibenden Zunft der Querbezug zu anderen Familiendramen in der Regie von Martin Kusej so wichtig, darüber eigene abgeschlossene Sätze zu bilden? Dabei wäre es für den sterblichen Theatergänger wichtiger, trennte die schreibende Zunft sauber zwischen amerikanischen Universitätsprofessoren und amerikanischen College-Professoren, da sind Welten dazwischen, die in Albees Stück präsent und wichtig sind.
Verstörtes Publikum in Dresden, wenn „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ gespielt wird, hat eine gewisse Tradition. Klaus Dieter Kirst inszenierte den Dreiakter im Herbst 1989 im Kleinen Haus (mit Regina Jeske als Martha, Hanns-Jörn Weber als George, Joachim Nimtz als Nick und Franziska Matthus als Honey) und der Kritiker der „Neuen Zeit“ hielt fest: „Verschreckte Gemüter nutzen die Pause zum vorzeitigen Abgang“. Die Münchner Inszenierung von Martin Kusej hat keine Pause, es wird zwei Stunden durchgespielt und erst zwanzig Minuten vor Schluss ergriff ein Paar in einer der vorderen Reihen die Flucht, was eine Frau aus den hinteren Reihen zum hörfreundlicheren Wechsel nach vorn animierte und eine nicht jedermann gefällige Störung verursachte. Erfahrene Dresdner Premierengänger diagnostizierten anderes Publikum als sonst, ich kann da nicht kompetent genug mitreden. Die Fluchtbewegung beim jüngsten Dostojewski jedenfalls soll bedeutend wuchtiger gewesen sein. Der Kritiker der 89er Inszenierung bediente sich bei Friedrich Luft 1963 und griff auch dessen Erinnerung an Erich Kästner dankbar auf, den Dresdner Erich Kästner wohlbemerkt. Schnee von vorgestern, wenn auch in einer Hinsicht nicht: „Das Schreckliche ist die schonungslose Höllenfahrt aller Illusionen, das Wunderbare der Stimulus zu großer Schauspielkunst.“ Das ist es.
Nun muss man freilich das Sensorium besitzen, große Schauspielkunst als solche genießen zu können, auch wenn einem womöglich das Stück ganz oder teilweise in der falschen Kehle kratzt. Edward Albees erstes abendfüllendes Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ erzwingt große Schauspielkunst geradezu, das Gegenteil wäre überraschend, nicht etwa das Bedienen schönster Hoffnungen ist es. Als 2014 die Premiere gelaufen war, vergaß kein Kritiker zu erwähnen, dass Martha-Darstellerin Bibiana Beglau eben zur Schauspielerin des Jahres gekürt worden war. Den Ruf bestätigt sie dreieinhalb Jahre später beim Gastspiel im Dresdner Staatsschauspiel ohne jeden Abstrich. Und jetzt wird im Großen Haus gespielt, nicht wie 1989. Jetzt werden die drei Akte mit ihren Titeln in großer Schrift eingeblendet: Fun and Games, Walpurgisnacht, The Exorcism. Jetzt wird jeder Akt mit abrupten Lichtwechseln in Szene gehackt, dunkle Bühne ist mit dem Blenden des Publikums verbunden, danach ist es so hell, dass Kritiker-Notizen noch in Reihe 10 mühelos gelingen. Die Licht-Schnitte stießen bei der Premiere auf wenig Beifall, sie störten den Spielfluss, las man. Als ob neuerdings ungestörte Spielflüsse das Alpha und Omega eines gelungenen Abends im Theater ausmachten! Im Dunkeln konnte vor allem neues Verschleißmaterial beigeholt werden.
Denn Martin Kusej hat als optische Konstante ein Trink-Kontinuum auf die schmale Spielfläche gestellt. Fast ununterbrochen halten alle vier Darsteller/innen ein Glas in den Händen, trinken aus dem Glas, werfen ihr Glas, wahlweise die Flasche, aus der sie sich nachgossen oder auch erst eingossen, auf den Boden. Es gibt viele frische Scherben, viele alte Scherben liegen schon um halb geleerte Flaschen herum. Während der Premiere hat sich Bibiana Beglau dem Vernehmen nach sogar an den Scherben verletzt. In Dresden floss kein Blut. Dafür gab es sprachliche Drastik, deren Fehlen in den frühen Erfolgsjahren des Dramas sogar noch ausdrücklich belobigt worden war. Man hielt halt im Westen bis weit in die 60er Jahre noch eifrig Jungfrauenohren zu, geholfen hat es nicht. Was jetzt hilft, ist der weiße Hintergrund. Der erlaubt nicht nur volle Konzentration aufs Spielen, er zwingt dazu. Und hier bin ich, wo ich gern bin: beim Beobachten des stummen Spieles im grellen Licht. Nora Buzalka zelebriert es geradezu. Jede Zurückhaltung würde ihrer Rollenauffassung nicht gut tun, jeder Übereifer Stirnrunzeln erzeugen. So aber, fast immer mit dem Rücken zur Wand und selbst das gehört zum Spiel, hat sie eine fesselnde Jung-Gattin Honey gegeben, nicht selten ertappte ich mich bei einer Art von Tunnelblick nur auf ihr Agieren und entschuldigte mich bei mir selbst.
Es ist für die Zwei-Stunden-Spieldauer natürlich Text auf der Strecke geblieben, die Übersetzung von Pinkas Braun da und dort aktualisiert. „Albee geht mit der Handlung und im Sprachlichen bis an die äußersten Grenzen des Erträglichen, ja er überschreitet sie gelegentlich sogar“, meinte Braun einst selbst im Programmheft des Wiener Burgtheaters für die Spielzeit 1964/65. Der „Müncher Abendzeitung“ gegenüber nannte sich Albee 1972 einen Sozialisten und behauptete fast im gleichen Atemzug: „Russland wird nie kapitalistisch werden. Es wäre töricht, das anzunehmen.“ Längst ist Russland kapitalistisch, Albees politische Weitsicht scheint, von heute aus gesehen, eher bescheiden, töricht sollte man ihn deshalb aber auf keinen Fall nennen. Einer, der sich nie selbst gedeutet hat, der nie Theorien verbreitet oder gar entwickelt hat, der nicht einmal sonderlich gern Interviews gab, sagt schon mal Sätze, die keiner Goldwaage bedürfen, um für zu leicht befunden zu werden. Mit George und Martha, mit Nick und Honey hat er zwei Paare auf seine Bühne gestellt, die für sich sprechen, nur vor einem bestimmten Publikum freilich, er nennt es im erwähnten Interview „ein intelligentes, aktives Publikum, das sich nicht schon für alle Zukunft festgelegt hat.“ Und die heute Interpretationen erlauben, auf die seinerzeit niemand im Traum gekommen wäre.
Das großformatige Münchner Programmheft behauptet munter: „Albee spielt in seinem brillanten, dreiaktigen Dialogdrama mit den traditionellen Geschlechterrollen.“ Um dann Martha eine starke Frau zu nennen. Starke Frauen hatte schon Shakespeare, hatte schon Kleist, hatte Ibsen, hatte Hauptmann und keiner spielte mit Geschlechterrollen, das ist einfach nur Gender-Neusprech wie das ewige Gerede von Versuchsanordnungen auf Bühnen Neusprech ist, ich weiß nicht, ob der Erstnutzer dieser längst ausgelutschten Formulierung sich die Phrase hat patentieren lassen. Symbolisieren die Vornamen George und Martha mit ihrer gern behaupteten Anspielung auf das Ehepaar George und Martha Washington tatsächlich den amerikanischen Traum? Außer Helmut M. Braem hat meines Wissens nie jemand den Namen Philipp Wylie mit dem von Edward Albee in Verbindung gebracht, obwohl doch Wylie einen zweifellos hochinteressanten Begriff in die Debatte einführte, der auch dem Blick auf „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ hilfreich sein kann: Momism. Diese immer wieder und bei völlig unterschiedlichen US-Autoren auftauchenden Frauen, die Männer zur Karriere peitschen, die weniger erfolgreiche Männer brutal zu Versagern stempeln, Megären des Prestiges könnte man sie nennen, gibt es so krass wohl nur in George-Martha-Land.
Die Aggression gegen George, der nicht Traum-Schwiegersohn des College-Präsidenten wurde, was ihr selbst die Zuwendung des Vaters nahm, treibt Martha um. Die Vergangenheit des Geschichts-Professors geht dabei in der Münchner Inszenierung fast unter wie all seine aktuellen Ambitionen. Beide spielen miteinander, der nächtliche Besuch nach der Party darf nicht als Premiere gesehen werden, sonst blieben die Abreden der beiden wie das Brechen dieser Abreden nicht verständlich und motiviert. Das Spiel ist um den fiktiven Sohn arrangiert, hat nur Sinn, wenn es Zeugen des Spieles gibt, sonst wäre es infantil. Wie Norman Hacker und Bibiana Beglau ihr George-Martha-Spiel vorführen, ist grandios. Noch die kleinste Geste, eine Hand auf dem Kopf, ein Drehen des Kopfes im Liegen, dazu die Bandbreite, die Bandhöhe der Töne, wenn es das gäbe, das plötzlich Leise, das bohrend Eindringliche, das Exzessive, alles eingespielt und dennoch nicht eine Sekunde in Gefahr, routiniert zu wirken. Auch Johannes Zirner fällt kaum ab, obwohl Nick als Rolle ein Abfallen fast unausweichlich macht. Am Ende gesteht Martha, dass sie es selbst ist, die Angst vor Virginia Woolf hat. Ich bezweifle, was das Programmheft behauptet: „Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf war zur Entstehungszeit des Stückes nur interessierten Lesern als Autorin bekannt“.
Ich bezweifle es vor allem, wenn mit solchem Diktum in eine falsche Richtung geschaut wird: das Stück sollte ursprünglich den Titel tragen, den jetzt nur noch der dritte Akt trägt: The Exorcism. Der Titel, mit dem das Stück zum modernen Klassiker wurde, stammt, so die nie in Frage gestellte Überlieferung, vom Toilettenspiegel einer Kneipe, die Albee besuchte: Teufelsaustreibung ist der Kern, nicht ein dubioser Feminismus-Kontext. Virginia Woolf war mehr als zwanzig Jahre tot, als Edward Albee seinen endgültigen Titel fand und er holte sich, so ebenfalls die Überlieferung, sogar das Einverständnis des Ehemanns der Autorin, ihren Namen nutzen zu dürfen. Die Diskussionen, ob im Stück mehr Strindberg oder mehr O'Neill aufscheine, hat Albee selbst befeuert, indem er auf Tennessee Williams hinwies. Das alles aber, die Ehrlichkeit gebietet dies Eingeständnis, ist Schall und Rauch angesichts dieses Münchner Spieles. Nach einem Gastspiel des Deutschen Theaters und vor einem Gastspiel des Schauspielhauses Zürich war dies im Staatsschauspiel Dresden fast ein brachialer Beweis, was Gastspiele sein können. In Zeiten aus Geldmangel ausgedünnter eigener Spielplanangebote landauf, landab ist das Einladen bewährter Produktionen eine wunderbare Alternative und verschafft dem je einheimischen Publikum feine Kunstgenüsse ohne Reisekosten.
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