Büchner: Dantons Tod; Meininger Staatstheater

Es ist wunderbar, dass Anja Lenßen wieder auf der Bühne steht. Es ist nicht ganz so wunderbar, dass sie es als Danton tun muss, als Georg Büchners Danton. Der ist nicht einfach nur so ein Mann, Maskulinum, der ist in der Theatertradition, die bei „Dantons Tod“ bekanntlich wesentlich kürzer ist als das Stück alt, mit einem ganz bestimmten Typ Mann verbunden. Stellvertretend dafür sollen stehen die Darsteller-Namen Gustav Knuth (Regie Gustav Gründgens), Götz George (Regie Rudolf Noelte) und Thomas Thieme (Regie Thomas Thieme). Anja Lenßen ist eine sehr schlanke, sehr schöne und sehr ausdrucksstarke Frau, die nach ihrer Baby-Pause anders als Fußballer nach vielen Monaten ohne Spielpraxis eben nicht geschont und behutsam neu aufgebaut wird, sondern gleich im theatralischen Champions-League-Finale den klaren Sieg einfahren soll. Denn „Dantons Tod“, das jedenfalls wusste früher die informierte Kritik, „spielt man nicht nebenbei oder zwischendurch oder mangels Besserem“ (Urs Jenny), „als Drama der menschlichen Existenz unterm Zwang der Geschichte, als Tragödie der Daseinsnot, erfordert (es) einen überragenden Danton“ (Georg Hensel). Andererseits haben auch schwächere Inszenierungen der Vergangenheit mit teilweise eklatanten Mängeln gezeigt, das Drama „... ist so stark, dass sie ihm nichts anhaben können. Das Stück überspielt gewissermaßen die Mängel der Aufführung.“ (Friedrich Torberg). Über Tobias Rotts „Dantons Tod“ in Meiningen ist damit freilich noch fast nichts gesagt. Schwach ist der nicht.

Es beginnt mit dem Auftauchen des kompletten Ensembles aus der Tiefe, mit chorisch ausgestoßenen Verwunderungslauten und der folgenden Feststellung „Volk!“ Wir im Parkett sind das glotzende Volk, bis dann das Ensemble den bekannten Slogan immer lauter werdend ruft „Wir sind das Volk!“ Das ist weniger an den Haaren herbeigezogen als es in theaterlandschaftsweiten Zusammenhängen mit ihren Aktualisierungs-Penetranzen zu vermuten wäre. Der Slogan wird seit Jahren emblematisch mit der seltsamen Sprachfindung „friedliche Revolution“ verbunden, die nach Übereinkunft aller mit Deutungshoheit Gerüsteten 1989 in der DDR stattfand. Wir Deutschen lieben Revolutionen, wenn sie woanders stattfinden, mit Farben, Blumen oder Platz-Namen in Verbindung gebracht werden können und eben, wenn sie unblutig verlaufen. Was Revolutionen im allgemeinen leider nicht tun. Von postrevolutionärem Chaos, von postrevolutionärer Dauerdestabilisierung ganzer Regionen nehmen wir schon nur noch mit Distanz und sinkendem Interesse Notiz. Hier aber, bei dem in keine Literaturgeschichts-Schublade passenden Georg Büchner, haben wir konfrontativ Anschauungsunterricht in Sachen Revolution, wie er kaum erschreckender gestaltet werden kann. Der Schweizer Urs Jenny: „Es ist ein politisches Stück, also ein garstiges; das politischste der deutschen Literatur.“ Gut möglich, wenn man denn Literatur einem Polit-Ranking unterwerfen mag.

Anja Lenßen sieht auf der Bühne nicht mehr so aus, wie sie noch im Programmheft aussah: dort mit Haaren, als hätte sie einen feuchten Zeigefinger in eine Niederspannungs-Steckdose gehalten und in dem Unterwäsche-Oufit (Kostüme Kerstin Jacobssen), das alle anderen auch tragen, jetzt mit ihren langen Naturhaaren, in denen später die Grisette Marion (Evelyn Fuchs) vorsichtig krault, während sie splitternackt den langen, langen Monolog der Marion spricht, und mit einer dreiviertellangen Lederhose angetan. Hellmuth Karasek fand vor vielen Jahren beim Blick auf eine Inszenierung der Salzburger Festspiele die bestechende Formulierung von „Dantons breitbeinigem Fatalismus“ und ließ dann noch einmal diesen Satz fallen: „Und mit seinem breitbeinigen Gang versuchte er klarzumachen, dass er auch dort ganz gestandenes Mannsbild ist, wo es bei seinem Gegenspieler moralisch verklemmt zu geht.“ Breitbeinigkeit ist die Crux der Meininger Inszenierung. Wer eine Frau den Danton spielen lässt, Büchners Danton, immer dazu gesagt, weil der keineswegs der wirkliche Danton aus der Geschichte war und ist, und nicht eine Danton-Parodie a la Carolin Kebekus - die sich gern an den heute auch genannt werden dürfenden Eiern krault, die sie gar nicht hat, wenn sie „Mann“ mimt - der muss eine Entscheidung treffen. Er muss seiner Darstellerin die demonstrativ fläzige Breitbeinigkeit über längere Phasen behutsam, aber konsequent ausreden.

Nicht die Besetzung ist das Problem, sondern die Grundentscheidung, was aus dieser Besetzung zu machen ist. Es beginnt schon mit dem für Frauen immer schwierigen Versuch, Männerstimme zu imitieren, der angestrebte tiefere Ton zwingt fast automatisch das Kinn nach unten. Frauen bewegen sich anders, meist eleganter. Frauen sind (in der Regel) nicht für das Kommando auf dem Kasernen-Hof geeignet, eine Beth Hart am Mikrophon ist kein Beispiel dagegen. Also: wenn mich nicht alles täuscht, kann man den Danton als Frau am ehesten spielen, indem man von den rein attributiven Äußerlichkeiten einfach absieht. Es bleibt bei solcher Quer-Besetzung die Frage, wie man mit dem Rest der Rollen umgeht: der so besetzte Mann, dessen Frauen und Geliebte nicht gestrichen, nicht von Männern gespielt werden, bringt unfreiwillig eine homoerotische Komponente ins Spiel, die wahrscheinlich immer in die Irre führt. Danton aber ist, anders als ein fiktiver Großinquisitor, eine historische Figur wie fast all die rund dreißig Rollen, die Büchner vorsah. Auch wenn wir längst wissen, dass in der tatsächlichen Französischen Revolution Frauen sehr wohl eine Rolle spielten: alle uns bekannten Hauptrollen füllten Männer aus: im Stück schön dahingehend formuliert, dass die Revolution die Revolutionäre macht, nicht umgekehrt. Wo Anja Lenßen tat, was nicht „Mann spielen“ war, verlor sich das Problematische. Sie warf, auch optisch, einen großen Schatten.

Jede „Danton“-Inszenierung muss damit umgehen, dass Büchner nicht nur sehr viele, oft kleine Rollen vorgesehen hat, sondern zum Teil auch rasant schnelle Schauplatzwechsel. Noch ist es nicht sehr lange her, dass Bühnen ihre Zuschauer mit Umbaupausen en masse nervten, mit allweil geschlossenen Vorhängen. Selbst gestandene Regisseure wie Sellner hatten mit der nicht ausreichenden Größe ihrer Ensemble ein quantitatives Besetzungsproblem, das damals wie heute mit brachialer Streichung und Mehrfachbesetzungen gelöst wurde und wird. Was wiederum das Problem aufwirft für alle, die nicht mit Textbuch auf den Knien im Parkett sitzen: wer ist da jetzt gerade wer auf der Bühne, in Meiningen: der doppelte Renatus Scheibe, der doppelte Hans-Joachim Rodewald. In Coburg ließ man 2016 die Darsteller an der Rampe sagen, wer sie gerade eben sind. Eine Notlösung, die durchaus funktionierte, aber dennoch eine Notlösung. Das Schauplätze-Problem löste Susanne Füller mit einem Bühnenaufbau, der sich drehte und irgendwie an nachrevolutionären Konstruktivismus im Russland der zwanziger Jahre erinnerte, mir jedenfalls will zur Beschreibung nichts besseres einfallen, aber das muss auch nicht sein: der Eigenwert von Bühnenbildern wird fast so stark überschätzt wie die Rolle von Revolutionen in der Geschichte. Statistisch gesehen kommen wirkliche Revolutionen zu selten vor für ganze Revolutionstheorien.

Wie auch immer: „Dantons Tod“ in Meiningen verzichtet nicht auf die vielleicht grausamste Szene: als der Mob, der eben noch „Wir sind das Volk!“ gegrölt hatte, einen Mann an den nächsten Mast knüpfen will, weil der ein Schnupftuch benutzt, was ihn als Aristokraten, sprich Todeskandidaten kenntlich macht. Kulak, also Todeskandidat, war später in Lenins Russland vielerorts der Bauer, der ein Pferd hatte. Bis Kambodscha müssen wir nicht gehen in der Erinnerung: immer galt eine Frage: wer legt wann mit welcher Berechtigung fest, wer umgebracht werden darf, weil er ein Kriterium nicht erfüllt. Rasse, Hautfarbe, politische Überzeugung. Um weniger geht es nicht in diesem Büchner-Stück. Auch in Meiningen hört man dieses Volk fast in einem Atemzug das Hoch erst auf Danton und dann Robespierre brüllen. Und wie leicht hat es eine einzige Stimme, diesenfalls Ulrike Walther als Weib Simons, die Lynch-Hitze anzufachen. Die freundliche Nachbarin, wir erinnern uns an Ruanda, die eben noch neben mir Mais stampfte, haut nun mit ihrer Machete mein Kind tot, weil ich ein Hutu und kein Tutsi bin oder umgekehrt. Georg Büchner ermöglichte sich zuerst und dann allen, die sein Stück lesen und sehen, den Blick in Abgründe, in Höllenschlünde, wie manche das nennen. Kein Wunder, dass die DDR, die Revolutionen in Theorie und Praxis liebte, weil sie selbst als Ergebnis einer solchen galt, mit Büchner fremdelte, insbesondere aber mit „Dantons Tod“.

Ich werde den Satz vor Gericht vermutlich nicht verteidigen, stelle ihn aber erst einmal auf: Ich sah in nunmehr acht Inszenierungen in Meiningen noch keinen stärkeren Björn Boresch. Diesen Robespierre hat man nicht schon vergessen, wenn man die breite Straße vor dem Staatstheater überquert hat, zum Parkplatz zu eilen. Er und Michael Jeske als St. Just haben die reine Linie zu verkörpern, die während der Französischen Revolution noch nicht so hieß. Das Meininger Publikum aber kann aktuell vergleichen, wie es damit in der Geschichte weitergeht: in Sartres „Die schmutzigen Hände“ (mit Boresch in Doppelrolle als Leibwächter Georg und als Louis) sieht man den politischen Mord als Festigung der „Einheit und Reinheit der Partei“ (Lenin auf dem Parteitag 1910). Die reine Linie von gestern ist der Mordanlass von heute und umgekehrt. Davor kann man, und Georg Büchner stattet seine Danton so aus, von einem bestimmten Punkt an Ekel empfinden, abgrundtiefen Ekel, der sich zu Weltekel, Lebensmüdigkeit auswächst, was aus Sicht der reinen Linie, wenn nicht als Mordanlass, dann als Grund für eine Anlieferung in eine geschlossene Anstalt ausreichte in der wirklichen Geschichte. Neben den „guten“ Revolutionen sind auch die nationalen keineswegs von anderem Holz, man muss nicht unsinnig von Äpfeln und Birnen schwafeln bei der Gelegenheit. Michael Jeske trug die Basistheorie des politischen Massenmordes vor an der Rampe.

Nun müssen wir vom Lachen reden. Es wäre eine Aufgabe für Wirkungsforscher, an welchen Stellen in welchen Stücken, die von Haus aus alles andere als lustig sind, die eigentlich das Blut in den Adern stocken machen, das Publikum in welchem Maße wie lacht. Kein Theaterkritiker hat eine Hilfstruppe zur Verfügung wie die Fußballreporter, die uns erzählen, was wir ohnehin sehen und dann auf die Zahlen verweisen wie Passquoten, gelaufene Kilometer. Also entgeht ihm, in welcher Reihe von welcher Altersgruppe, welchem Geschlecht gelacht wird, wann das Lachen verlegen ist, wann irritiert, wann von Missverständnis zeugend, wann einfach nur pure Triebabfuhr. Als auf der Bühne philosophische Probleme erörtert worden, gab es Lacher. Was war da lustig? Was, als es um Gott ging? Büchner und Zeitgenossen haben das als tatsächliche Lebensfragen gesehen und auch empfunden und wir wissen nicht nur von den Bühnen her längst, dass nach großen historischen Katastrophen mit großen Mengen von Toten Gott auf den Prüfstand rutscht, am zermarterndsten für die, die glauben. Und früher glaubten fast alle, der wirkliche Atheist war selten und vorsichtig.Immerhin: als Michael Jeske final mit seiner knallenden Theaterpistole Lucile erschoss (Mira Elisa Goeres), lachte niemand, man war nur ehrlich erschrocken, andere Theater warnen vor solchen Effekten: Damit kein Zuschauer in den USA eine milliardenschwere Sammelklage einreiche.

Zu reden wäre von den Eingriffen in den Text, die mehr sind als Striche: „Fremde“ als Zielgruppe revolutionären Feindbildes kommen bei Büchner nicht vor, wenn ich mich recht erinnere, dafür sind bei ihm neugeborene Kinder „schmutzig und blutig“, nicht „hilflos und nackt“ wie in Meiningen. Drastik in der Sprache ist ein sehr charakteristisches Büchner-Kennzeichen, wer die mildert, aus welchen je konkreten Gründen auch immer, verfälscht. Ist uns 2018 an Sprache weniger zuzumuten als Lesern und Zuschauern vor 100 und mehr Jahren? Natürlich hat jede Regie das Recht zu sagen: wenn schon alle provozieren wollen, dann muss ich es nicht auch noch. Weichgespülte Sprache aber ist Gift. Gift für Theater, das etwas will. Doch gebietet es die Ehrlichkeit zu sagen, dass das den Büchner-Abend keineswegs kennzeichnet. Eher schon überzeugend choreographierte Gruppen-, sprich Massenszenen mit mehr als nur netten Einfällen: die Köpfe tragen plötzlich alle rote Gartenzwerg-Zipfelmützen. Die Szenen hinter Gittern: gedrängte Enge, leise Töne, als Gast sehr überzeugend Recardo Koppe in der Rolle des Thomas Payne. Ähnlich und doch ganz anders: Phillip Henry Brehl als Camille Desmoulins. Vivian Frey hatte es schwerer, sich im Trio der Opfer des kommenden Schauprozesses Kontur zu geben. Die Auswahl der Geschworenen erzeugte ebenfalls Lacher im Parkett. Am Ende aber war der Beifall herzlich, dem Ensemble sah man Erleichterung an.
www.meininger-staatstheater.de


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