Shakespeare: Macbeth; Landestheater Coburg
Seinen berühmten Essay „Über das Ans-Tor-Pochen in Macbeth“ hätte Thomas de Quincey wohl nicht geschrieben, hätte er die Tragödie allein im Landestheater Coburg gesehen. Dort nämlich geht das Pochen in der durchlaufenden Tonkulisse mit ihrem ausdrücklich anzuerkennenden hohen Eigenwert buchstäblich unter oder, wenn man so mag, ist es derart eingebettet, dass es nicht auffällt. Es strukturiert noch eben so den berühmten Pförtner-Monolog, den Stephan Mertl mit Zottelhaar und wankend-schwankend vorträgt, den erhellenden Blitz aber, den de Quincey (1785 - 1859) dem ablauschte, den setzt es nicht. An ihn zu erinnern, ist weniger willkürlich, als es scheinen will und das hat keineswegs nur damit zu tun, dass sein bekanntestes Werk „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ bis heute gelesen wird, selbst sein sehr eigenes Büchlein „Die letzten Tage des Immanuel Kant“ fand ein namhafter Verlag einer Neuauflage wert. Über die gesamte halbstündige Pause der Coburger Spielfassung von Regisseur Matthias Straub ist auf dem Vorhang eine Aussage des Philosophen David Hume (1711 - 1776) zu lesen, die Leichtigkeit betreffend, mit der die Vielen sich der Macht der Wenigen ergeben. Das stimmt immer noch, versicherten sich zwei Frauen neben mir mit ernster Miene. Vielleicht war das schon die ganze Moral des Abends? Und wenn, was dann?
In Coburg verzichtet man auf die Meininger Vordergründigkeit, die seinerzeit den dortigen „Macbeth“ mit Donald Trump und Putin, mit Assad und Erdogan, gar mit Kim Jong Un glaubte in Verbindung bringen zu müssen. Als Anregung nahm man allenfalls von dort die Weise mit, die drei Hexen synchron und hallverzerrt sprechen zu lassen. Warum nicht? Sie sprechen Shakespeare-Englisch in Coburg, die Übertragung ist über Kopf mitzulesen, die deutsche Fassung stammt von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens. Für die drei Hexen hält das Programmheft vier Namen fest, wer am Mittwoch auf der Ersatzbank saß, vermag ich nicht zu sagen. Die Idee aber, diese Hexen aus dem Ballett-Ensemble des Hauses zu besetzen, ist schon allein deshalb eine wirkliche Idee, weil sie einen Ausgleich schafft zu den vielen eher statischen Szenen des Spiels. Die Premierenkritik hat der Inszenierung das Statuarische nicht ganz abnehmen wollen, gerade der Kontrast aber zur nahezu opulenten Hexen-Präsenz macht für mich eben das Einheitliche, nicht das Auseinanderfallende des Abend-Eindrucks. Die trommelnden Hexen nach der Pause gehören zu den stärksten Akzenten dieses „Macbeth“. Und, ehe ich es vergesse, das Schlussbild mit dem knienden Macduff, den toten Sohn in den Armen: Das ist eine ganz klassische Pietá. Das prägt sich ein. Das nimmt man mit.
Lange ist es her, dass ein sehr namhafter Kritiker eine sehr namhafte Bühne dafür lobte, nicht die Drehbühne eingesetzt zu haben für ihren „Macbeth“. Das würde zwar die 25 geforderten Szenerie-Wechsel erleichtern, ihnen aber zugleich Gewicht und Bedeutung nehmen. Heute will es scheinen, als würde allenfalls nach einem Bühnenbild gesucht, dem man alle geforderten Szenerien zwanglos zuordnen kann. Vorhänge während des Spiels, Zwischenvorhänge, hinter denen umgebaut, während vorn gespielt wird, das ist vermutlich für immer in der Requisitenkammer der Bühnengeschichte verschwunden und es ist nicht so sicher, wie es scheint, dass man das bedauern muss. Die Bühne von Gabriele Wasmuth, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, ließ kaum Wünsche offen und das wiederum verdankt sich sehr wesentlich der Lichtregie von Patricia Dechantsreiter. Was für unterschiedliche Stimmungen ihr Licht erzeugt, welche Wirkungen sie den Aufbauten gibt, die für sich ja fast wie die Kunstruinen aussehen, die man aus englischen Gärten der Romantik kennt! Auch Meiningen verfügt über solche, die bis heute gar nicht so selten für echte Ruinen gehalten werden. In Coburg kann man sie von beiden Seiten besteigen, Steigeisen sind deshalb eingelassen, wieder zwangloser Kontrast zum scheinbar Statuarischen der Monologe und Dialoge.
Matthias Straub hat den Üblichkeiten folgend die Statisterie komplett, das Nebenrollenpersonal kräftig gestrichen. Duncans Sohn Malcolm hat keinen Bruder, von sechs schottischen Edlen sind zwei verblieben, Siward Vater und Sohn fehlen ebenso wie Lady Macduff und ihre Kammerfrau. Neben Kerstin Hänel als Lady Macbeth verblieb nur Banquos Sohn Fleance als Hosenrolle für Solvejg Schomers, der Rest Männer. Von denen Frederik Leberle als Banquo mir zunächst einen sehr merkwürdigen Eindruck machte. Kommt der wirklich aus einer eben blutig gewonnenen Schlacht? Wenn er und Macbeth (Niklaus Scheibli) tatsächlich auch ganz persönlich mit ihren Schwertern wüteten, einen vom Nabel bis zum Kinn aufschlitzten, warum sieht man das beiden nicht wenigstens spurweise an? Warum ist dieser Banquo, der Stammvater eines Geschlechts von Königen werden soll und vorher Opfer gedungener Mörder, so wundersam fröhlich, so sichtbar bester Laune, dass er den Hexenspuk irgendwie nur belustigend finden kann? Ihn interessiert doch, als er die Trefferquote der Hexenprophezeiungen für Macbeth registriert, wie es um die ihn selbst betreffenden steht. Hier hat Niklaus Scheibli schon früh starke Momente. Er fixiert, er taxiert Banquo, seine Seitenblicke sind sprechend, seine Kopfdrehungen vielsagend. Und vorausdeutend.
Für den Monolog der Lady Macbeth findet die Coburger Inszenierung ein Videoeinspiel: Kerstin Hänel spricht den Text, dessen Entstehung auf dem Papier der Zuschauer als Projektion sieht. Das gab es so oder ähnlich schon, es entlastet die Darstellerin eher als sie zu fordern. Für Kerstin Hänel kommt der stärkste Rollenauftritt später, als ein blutiges breites Tuch aus dem Schnürboden nach unten sinkt und sie dem Wahn verfällt, in dessen Folge sie stirbt. Hier ist sie am lebendigsten, hier formt sie mit Ton und Stimme. Im Zusammenspiel mit Niklaus Scheibli als dem Gatten dagegen wirkt sie weit eher als die eine Hälfte eines alten Paares, bei dem nichts mehr wirklich knistert oder prickelt, jene Komponente, auf die zuerst manche Inszenatoren schon mehr oder weniger erfolgreich setzten, den Macbeth in seiner Manipulierbarkeit als den sexuell Hörigen zu deuten, spielt hier ersichtlich keine Rolle. Und das ist genau so die wahrscheinlichere Variante. Dieser Macbeth ist ja kein jugendlicher Heißsporn, den zwischenzeitlich Skrupel plagen, die nur ausgeräumt werden müssen, er kommt als sichtlich gestandener Mann daher, dem ohne die Hexen ein ehrenvolles Leben als Than of Glamis und kein bisschen mehr beschieden wäre: in aller Gunst der Königs Duncan. Dann aber, aus neblig-heiterem Himmel, ungeahnte Perspektiven, die ihren blutigen Preis haben.
Im Bühnenvordergrund liegen über den ganzen Abend Felle und dürre Zweige. Die Felle, vermute ich, sollen wie die Schottenröcke der Schotten, um die es sich ja ausdrücklich und ausschließlich handelt in „Macbeth“, den geographischen Schauplatz verdeutlichen. Man hat zeitig in Deutungen der Tragödie darauf hingewiesen, dass Schotten bei Shakespeare bis dahin nie so positiv erschienen und dass das mit Jakob zu tun habe, dem Nachfolger von Königin Elisabeth auf den Thron. Die Felle bewirken für das Spiel vor allem, dass die Darsteller darauf achten müssen, sich nicht in ihnen zu verheddern, die Schottenröcke haben außerhalb Schottlands immer auch eine Nuance Komisches. Die dürren Zweige deuten auf den Wald von Birnam, der in Coburg natürlich auch marschiert, wenn auch nur in einem mehr als spärlichen Botenbericht. Immerhin: wer sich wundert, dass Macbeth sich final fast verzweifelt an die Voraussagen der Hexen klammert, sollte sich erinnern, wie präzise deren Sprüche nach der siegreichen Schlacht auf ihn wirkten, seinem Leben bis ins Detail eine neue Richtung gaben. Dass ihn der per Kaiserschnitt zur Welt gekommene Macduff schließlich mit einem Armbrustschuss aus der Distanz erlegt wie ein Stück Wild, ist als Regiewunsch hinzunehmen. Valentin Kleinschmidt wirkt da als Vater etlicher Kinder eher zu jung.
Den Geist der ermordeten Banquo spielt Frederik Leberle als blutige Erscheinung, die durch das Tischtuch des Banketts stößt und dort auch wieder verschwindet. Macbeth sieht ihn, niemand sonst und Lady Macbeth erklärt den Gästen, was ihnen nicht erklärt werden kann, ohne die schlimme Wahrheit preiszugeben. Hier ist, vor allem durch das stumme Agieren der angeblich mit dem neuen König Feiernden, ein unaufgelöster Schwebezustand auf die Bühne gestellt. Hier weiß der Zuschauer nur mit genauer Text-Kenntnis, was er sieht, genau die aber sollte keine Regie je einfach voraussetzen. Auch deshalb wäre ein Programmheft nützlicher, das auf einfache Tatsachen hinweist wie bestimmte zeitgenössische Spielvoraussetzungen bei Shakespeare, als Zitate zu versammeln aus eben modischen Büchern, die eine Saison später schon niemand mehr in der Erinnerung hat. Hexen wie Geistererscheinungen waren zu Shakespeares Zeiten im Alltagsbewusstsein wie Theaterspiel unter freiem Himmel und ohne jedes Bühnenbild. Blutige Sieger-Rituale wie das Aufspießen abgeschlagener Köpfe waren Alltagserfahrungen wie die begeisterte Teilnahme an öffentlichen sadistischen Hinrichtungen. In Coburg geht die Andeutung des neuen Königs Malcolm (Benjamin Hübner), es werde Rache geübt werden, fast unter. Die Pietá ist eine wunderbare Alternative dazu.
Ach ja, was war da eigentlich mit Thomas de Quincey und dem Klopfen am Ende der ersten Szene des zweiten Aktes, als Lady Macbeth eben gegangen ist? Zweimal am Ende dieser Szene, einmal am Anfang der zweiten steht: „Es wird geklopft.“ Zuvor einmal „Man hört klopfen.“ Der Mord ist geschehen. „... wir hören das Ans-Tor-Pochen, und es ist das vernehmbare Zeichen, dass die Gegenwirkung eingesetzt hat: die Rückkehr des Menschlichen gegenüber dem Teuflischen hat begonnen; die Pulse des Lebens heben wieder an zu schlagen ...“. Wir sind 2018 womöglich hellhöriger als Frühere, denen auffiel, dass die Abreden zwischen Macduff und Malcolm einen Tyrannen meinen, den wir als Tyrannen auf der Bühne gar nicht erlebt haben. Wir sind 2018 vielleicht neugierig, warum ausgerechnet Engländer ein Bündnis mit den beiden Verschwörern aus Schottland eingehen, die den Usurpator durch einen rechtmäßigen Erbfolge-König ersetzen wollen. Wir hätten in zeitgenössische Geschichte einzusteigen, müssten über Shakespeares uns unbekannte politische Prioritäten zu orakeln. Vor einem kompakten Theaterabend wie diesem in Coburg sind wir aber nicht interessiert. Eher schon daran, warum eigentlich der wunderbare Pförtner Stephan Mertl nicht unter denen war, die sich für den sich steigernden rhythmischen Beifall bedankten?