Sartre: Die Troerinnen des Euripides; Staatstheater Meiningen
Hermann Hesse, der nicht in Verdacht steht, eine erste Instanz in Sachen Theater zu sein, hat anlässlich eines Romans, den er über alles schätzte, geschrieben: „Eine Romanfigur, die nach dreißig Jahren altmodisch erscheint, ist nur eine Interessantheit, nicht ein Sinnbild gewesen. Figuren, deren Wesentliches zeitlich ist, vergehen. Sinnbilder, deren Zeitliches nur ein Kleid des Ewigen ist, bleiben.“ Euripides, griechischer Klassiker, der dritte im Dreigestirn der großen Tragödiendichter der Antike, hat zweifelsfrei Sinnbilder fürs Theater geschaffen, deren Zeitliches, wenn schon nicht Kleid des Ewigen, so doch Kleid des beinahe Ewigen ist. Das muss ihm selbst nicht bewusst gewesen sein, mehr als zweitausend Jahre Rezeptionsgeschichte aber haben den Beweis geliefert. In Meiningen hat Regisseur Peter Bernhardt nicht das Original von „Die Troerinnen“ auf die Spielfläche der Kammerspiele gestellt, sondern jene Fassung, die Jean-Paul Sartre in den sechziger Jahren erstellte, nachdem ihn eine wortgetreue Übertragung auf einer französischen Bühne der Zeit des Algerienkrieges von der Wirkmacht der Vorlage überzeugt hatte.
Sartre selbst hat erklärt, was er warum geändert hat, es ist viel weniger, als man glauben mag. Seine Modernisierung ist eine behutsame, die vor allem auf das eben nicht als allgemeines Bildungsgut vorauszusetzende Mythos-Wissen seines Publikums Rücksicht nimmt. Franz Werfel, dessen Fassung von „Die Troerinnen“ 1914 hohe Aktualität auch dann besessen hätte, wenn sie nicht beabsichtigt gewesen wäre, hat das Verfahren vorexerziert. Ob Sartre das Stück kannte oder nicht, ist ohne Bedeutung, eher schon der Umstand, dass kein geringerer als Hans Mayer die maßgebende Übertragung ins Deutsche besorgte, die in Ost und West gedruckt und nachgedruckt wurde. Auch in Meiningen spielt man den Mayer-Sartre. Und ich will gern gleich eingangs festhalten, dass Peter Bernhardt, was immer er sagen zu müssen glaubte zu seiner Inszenierung, selbst wenn er alles wirklich so meinte, wie er es sagte, vor allem eines geleistet hat: er hat nachvollziehbar gemacht, warum sich Sartre von eben jener Wirkmacht des Originals so bewegen ließ. Er hat seine Darstellerinnen (und Darsteller) zu einer sehr eindrücklichen Leistung geführt.
Ich will nicht weiter darauf eingehen, ob man einen Krieg, den ein Diktator gegen sein eigenes Volk führt, falls das den in Meiningen vordergründig gemeint sein sollenden Krieg denn wirklich charakterisiert, mit den kolonialen Unternehmungen, die Euripides (Sizilien) oder Werfel (I. Weltkrieg) oder Sartre (Algerien) im Blickfeld hatten, guten Gewissens vergleichen kann. In einer Hinsicht trifft der Vergleich: in dem, was der Krieg mit Frauen macht. Sartre hat, ohne Not, „Die Troerinnen“ mit „Antigone“ verglichen, danach von einem Oratorium gesprochen, weniger von einer Tragödie. Aber auch das ist aus Sicht des Publikums letztlich egal. Als Anja Lenßen ihre verzweifelte Andromache ausgespielt hatte, rieb sich links von mir ein Graubart die Träne aus dem Augenwinkel, ich ließ es aus meinem Augenwinkel auf den Kragen tropfen und rechts neben mir schniefte es weiblich. Mehr kann Tragödie nicht und dass soll sie auch, wie schon Aristoteles wusste. Sartre hat die Struktur der Vorlage beibehalten, sie nur durch Nummerierung von Szenen transparenter gemacht. Auch bei ihm ist Hekuba das Verbindende, in Meiningen Ulrike Walther.
Die Regie hat, wäre sie sonst dem Selbstverständnis nach eine, natürlich auch eingegriffen. Von den Göttern des Prologes strich sie die Pallas Athene. Die hat bei Sartre zwar nur einen Auftritt, weist in ihm aber auf die dem Sieg gegen Troja folgenden langen Jahre voraus, die allein mit den Visionen Kassandras eben doch nicht ganz sichtbar werden. Nur ihre Abrede mit Poseidon, den in Meiningen Hans-Joachim Rodewald spielt, als käme er eben vom Neptunfest des Meininger Freibades, mit Wallebart und Dreizack, erklärt das, was seit zweieinhalb Jahrtausenden als „Die Heimkehr des Odysseus“ bekannt ist. Gestrichen ist der Schild Hektors, in dem der von den Zinnen der Burg Troja geworfene Sohn Hektors und Andromaches, Astyanax, zu Grabe gebettet wird. Astyanax dagegen ist in Meiningen eine Rolle ohne Text für Tim Wagner, während er bei Euripides wie bei Sartre ein Säugling ist. Tim Wagner zieht, ehe das Spiel beginnt, ein kleines trojanisches Holzpferd auf die Bühne, aus dessen Innerem er Kriegsspielzeug nimmt, Gegenwart assoziierend: Hubschrauber, Panzer. Dass dann gleich Sirenen zu hören sind und Flugzeuglärm, ist passgerecht: Luftkrieg.
Die Sache selbst ist die: nach dem mit List errungenen Sieg der Griechen über die Trojaner, der in ein schreckliches Gemetzel auslief, bleiben die Frauen als Kriegsbeute. Und zwar ohne allen Unterschied, ob alt, ob jung, ob Priesterin oder Ehefrau der Willkür der Sieger ausgeliefert. Bei Euripides wie bei Sartre sind diese Sieger durch zwei Figuren vertreten: den König Menelaos (ebenfalls Hans-Joachim Rodewald), dem einst Paris die Gattin Helena (Evelyn Fuchs) entführte, und den Herold Talthybios (Yannick Fischer), der freilich nicht, wie bisweilen von Interpreten behauptet, den einfachen griechischen Soldaten verkörpert mit all seinen Skrupeln und humanen Anwandlungen: er hat reale Befehlsgewalt, die man im Stück auch erfährt. Dass die vier Damen Walther, Lenßen, Fuchs und Carla Witte (als scheinbar verrückte Kassandra) den Herold nicht an die Wand spielten, darf Fischer, darf Peter Bernhard, dürfen beide sich sehr hoch anrechnen. Die Stationen-Dramaturgie zwingt zu Einzelleistungen und die halten in Meiningen alle eine Höhe. Nur Chorführerin Nora Hickler ist vom Text her etwas ausgeklammert, den Chor bilden alle Damen.
Für Bühne und Kostüme zeichnet Monika Maria Cleres verantwortlich. Die Bühne zeigt links etwas wie Burg mit Zugbrücke, recht liegen haufenweise Müllsäcke vor Drahtcontainern. Die Burg verwandelt sich, und wenn ich mich irre, irre ich mich gerne, während der Grablegung des getöteten Kindes in ein Grabmal, das an Antonio Canova erinnert. Kassandra tritt ganz in Weiß auf, Helena in Feuerrot, Andromache in Schwarz, die Kombination dieser drei Farben soll sicher keinerlei in falsche Richtungen gehende Assoziationen wecken. Dafür hat Sartre schon erklärt, dass seine Hinzufügung Europa heißt. Er glaubte, sein Anliegen mit dem Gegensatz von Europa, Asien und Afrika deutlicher machen zu können. Ich glaube, eine klare Akzentuierung des Gegensatzes Griechen und Barbaren, den der Text ja dann doch auch beibehält, hätte ausgereicht. Die große Anklage richtet sich auch bei Sartre gegen barbarische Griechen, nur sein Publikum sollte an die barbarischen Franzosen denken, die alles erfanden an Folter und Brutalität in Vietnam und Algerien, was heute seltsamerweise kaum noch mit ihnen in Verbindung gebracht wird, sogar ein Lehrbuch.
Zu den erstaunlichen Phänomenen des Textes, die Sartre vom Original fast unverändert übernahm, gehört die Übereinstimmung der Anklagen von Helena und Andromache gegen Königin Hekuba: sie habe schließlich am Beginn der ganzen Geschichte gestanden, indem sie Paris gebar und nicht einer Weissagung gemäß aussetzte oder tötete. Evelyn Fuchs und Anja Lenßen tragen sie beide imponierend vor, sie vermeiden es, einfachen Urteilen zuzuliefern. Und auch Ulrike Walther wirkt so: man kann alle verstehen und auch wieder nicht verstehen. Man kann überall Sätze finden, denen man zustimmt und Sätze, die empören. Man kann, Euripides war im Gegensatz zu Sartre kein Philosoph im heutigen Sinne, anhand der Troerinnen und ihres Leides die Götterfrage stellen, die Schicksalsfrage, die Glücksfrage, natürlich auch alle Fragen nach dem Verhältnis von Männern und Frauen. Der Grund? Siehe oben: die Zeitlichkeit als Kleid. Eine Szene hat Sartre seiner Vorlage hinzugefügt: den Schlussmonolog Poseidons. Den er selbst überdeutlich interpretierte: „Die Götter werden mit den Menschen verrecken, und dieser gemeinsame Tod ist die Lektion der Tragödie.“
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