Hauptmann: Einsame Menschen; Theater Chemnitz
Die Überraschung ist keine: mein natürlich nicht vollständiges Archiv der vergangenen zehn Jahre dokumentiert eine klare weibliche Dominanz in der Regie, die sich Gerhart Hauptmanns drittem Stück „Einsame Menschen“ annimmt. Hanna Rudolph 2010 in Frankfurt/M., Amina Gusner 2010 in Gera, Julia Hölscher 2011 in Dresden, Friederike Heller 2011 in Berlin an der Schaubühne, Nora Schlocker 2011 in Düsseldorf, Alice Buddeberg 2019 in Braunschweig, Nina Mattenklotz 2019 in Chemnitz. Dazwischen fast unauffällig Stephan Rottkamp 2012 in Stuttgart, Michael Götz 2013 in Coburg und Roger Vontobel 2014 in Bochum, die Behauptung, „Einsame Menschen“ werde selten gespielt, lässt sich reinen Herzens nicht aufrechterhalten. Die Behauptung, viel mehr als sechs Rollen gönne die Regie den jeweiligen Inszenierungen nicht, dagegen wohl. Und da schon Alfred Kerr vor mehr als hundert Jahren wusste, dass sich gerade „das Geistige“ in diesem Hauptmann-Drama am schnellsten verlor, darf der gestrichene Pastor Kollin in der Verlustbilanz als Kleinposten gelten. In Chemnitz fehlen neben ihm auch Frau Lehmann, Amme, Hausmädchen, Hökerfrau und Wagenschieber von der Bahn. Man spielt die Fassung, die Michael Thalheimer dem Fünfakter vor Jahren gab, unterstützt von Oliver Reese, der seit 2017 die Geschicke des Berliner Ensembles leitet.
Die zweite Überraschung ist eine, wenn auch womöglich nur für mich: Chemnitz ist eine Theater-Reise wert. Man sieht einen 130 Jahre alten Gerhart Hauptmann, dessen Hauptfigur Johannes Vockerat ganz ursprünglich wohl tragisch gemeint und gesehen war, der man das aber heute und nicht erst heute einfach nicht abnehmen kann. Ein junger Mann, der sich an einer vermutlich in jeder Hinsicht überflüssigen philosophischen Abhandlung abmüht, sein Ungenügen an sich auf nervtötende Weise in ein Ungenügen an der Welt umdeutet und sich an allen und allem zu rächen gedenkt, was sich nicht oder nur schwach wehren kann, ohne an dem Versagen des Mannes auch nur Teilschuld zu tragen. Es ist übrigens eine autotherapeutisch vorbildliche Vorgehensweise, die an sich selbst gestellten Maßstäbe mindestens nach außen hin so hoch zu schrauben, dass Scheitern zum erwartbaren Normalfall wird. Es geht dem jungen Johannes Vockerat wirtschaftlich auf alle Fälle so gut, dass er seinem gehobenen Hobby folgen kann, ohne dafür irgendeiner auf Einkommen gerichteten Tätigkeit nachgehen zu müssen. Der klassische Fall von Luxusproblem also, von jenem Jammern auf hohem Niveau, das noch heute gern als besonders deutsch angesehen wird neben den wirklichen Problemlagen dieser Welt. Bei Hauptmann wuchs das Pseudodrama aus Familienboden.
Wobei es für den Theaterbesucher, immer wieder muss es betont werden, vollkommen gleichgültig ist, ob dieser Vockerat-Konflikt aus dem Leben des Bruders Carl Hauptmann genommen ist, ob diese leidende Käthe ein Spiegelbild von dessen Frau Martha oder doch mehr ein Spiegelbild ihrer Schwester Marie (Mary) sein soll, die wiederum die Gattin von Gerhart war, denn die drei Hauptmann-Brüder hatten, selten genug, drei der fünf Thienemann-Schwestern geheiratet, in deren Haus die jungen Herren und Söhne des Hotelbesitzer Hauptmann dereinst verkehrten. Im wirklichen Hauptmann-Leben gab es keinen Selbstmord, im wirklichen Hauptmann-Leben entschwand das Urbild der Anna Mahr an der Seite eines Arztes gen Amerika und vollständig aus dem Blickfeld des Dramatikers. Der mit seinem Stück allgemeiner Überzeugung nach vor allem an Henrik Ibsens „Rosmersholm“ anknüpfte und eine Vorlage für Anton Tschechow lieferte, bei dem einer wie der Maler Braun als zynischer Kommentator und Hausfreund immer wieder unter neuem Namen auftritt und meist Arzt ist (wie Tschechow selbst einer war). Von dieser seiner Nach-Wirkung war Gerhart Hauptmann, wie überliefert ist, durchaus angetan. In Chemnitz lässt Regisseurin Nina Mattenklotz vor allem die drei Frauen glänzen: Magda Decker, Seraina Leuenberger und Susanne Stein.
Denn dieser Johannes Vockerat (Jan Gerrit Brüggemann) ist so auf sich fixiert, so reflexionsfrei bösartig beleidigend seiner jungen Frau Käthe (Magda Decker) gegenüber, geschmacklos und instinktlos noch in kleinen Nebensätzen und Bemerkungen, dass neben ihm fast automatisch zum Opfer wird, wer mit ihm zu tun hat. Die gespielte Strichfassung lässt sehr früh die Studentin Anna Mahr (Seraina Leuenberger) ins Geschehen eingreifen. Sie will eigentlich nur den Maler Braun (Christian Ruth) wieder treffen, den sie in Paris kennengelernt hatte, dessen künstlerischem Maulheldentum sie, wie zu hören, zeitweise durchaus auf den Leim ging. Sie lässt sich, nicht lange widerstrebend, zum Bleiben überreden, was den privaten Konflikt mindestens teilweise in einen klassischen Dreieckskonflikt wandelt, in dessen Ablauf dem jungen Vockerat, wie der Kritiker Kerr es anno 1910 formulierte, eine Dauerlösung a la Graf von Gleichen durchaus vorstellbar wird. Es beginnt aber alles sehr ausgelassen unmittelbar nach der Taufe des kleinen Philipp, den Großvater Vockerat „Äffchen“ nennt, weil es ihn noch bewegt, dass dieser Darwin die Krone der Schöpfung in Abkömmlinge von Affen verwandelt hat. In Chemnitz ist, wie von Hauptmann gefordert, konstant nur ein Schauplatz gezeigt, allerdings kein saalartiges Zimmer, sondern ein altmodisches Hallenbad.
Das wartet (Bühne und Kostüme Johanna Pfau) rechts mit einem Sprungbrett, links hinten mit einer Metall-Leiter als Ein- und Ausstieg, unten mit echtem, wenngleich flachem Wasser auf. Außerhalb des Beckens links eine funktionierende Dusche, die Seiten nach vorn aufs Parkett zu geneigt, so dass die Spieler stets aufwärts oder abwärts unterwegs sind. Hauptmann will, dass sein Johannes Vockerat nahezu augenblicklich von Anna Mahr fasziniert ist, weil diese ihm zuhört, wenn er seine hochfliegenden Überlegungen vorträgt, oder aus seinem kapitelweise mühsam entstehenden Werk liest. Man unternimmt fast sofort eine gemeinsame Bootsfahrt, diese setzen sich später fort. Je mehr sich Vockerat Junior an Anna Mahr heftet, sie vor sich selbst und allen anderen Beteiligten und Betroffenen verklärt, um so aggressiver verletzt er verbal seine Frau. Wie es Käthe dabei ergeht, das zeigt Magda Decker mehr, als sie es ausspricht, auch wenn es später dann doch aus ihr herausbricht. Und genau dies Zeigen ist großartig. Parallel und später charakterisiert eben das auch Seraina Leuenberger, die sogar einmal buchstäblich alles zeigen darf, als es gilt, den gar nicht in dieser Welt lebenden Johannes in dieser Total-Versponnenheit in seine Parallelwelt vorzuführen. Und in kaum merklichen Schritten spinnt sich zwischen Decker und Leuenberger eine aufregende Beziehung.
Sehr zugespitzt könnte man sagen: diese beiden jungen Frauen sind zu schade für diese Männer, denen sie begegnen und/oder zum Teil sogar ausgeliefert sind. Die eine, geduckt und gedrückt und sich eben nach Verlauf ihres bisherigen Lebens auch selbst so sehend und fühlend, bewundert das selbstsichere, das selbstverständliche, verstehende, humorvolle Wesen dieser anderen. Aus der an den Augen von Magda Decker ablesbaren Bewunderung wächst ein Hingezogensein, ein scheuer Wunsch nach Nähe, mehr Nähe, alles gespielt, alles zu sehen und Seraina Leuerberger ist dazu die perfekte Partnerin. Das Wechselspiel dieser beiden jungen Frauen allein reicht, diese Chemnitzer Inszenierung von „Einsame Menschen“ zum Erlebnis zu machen. Zu dem, wie schon erwähnt, Susanne Stein, die auch schon einmal „Richard III.“ war, das ihre beiträgt. Sie ist vor allem Mutter ihres Sohnes, ist Gattin ihres Mannes, doch auch bei bei ihr führt die Regisseurin etwas wie einen Lernprozess vor: der Gatte Andreas Manz-Kozár muss gegen Ende sehr brüllen und mehrfach, um die doch sonst so folgsame Frau an seiner Seite an seine Seite zu bekommen. Christian Ruth als lustloser Maler, der eher mit dem Mund als mit Pinsel und Leinwand agiert, vermeidet bis auf wenige Momente die Gefahr, seine Figur in eine Karikatur zu verwandeln, dem Spiel tut das gut.
„Ist es nicht die größte Gefahr, dass wir an uns selber scheitern?“ fragt Anna bei Hauptmann. Wie unendlich weit entfernt von diesem Wissen ist Johannes Vockerat! Folgerichtig, wenn es das denn ist, zeigt Jan Gerrit Brüggemann auch nichts davon. Er ist in ruheloser Bewegung, wieselt herum, später verfällt er in veitstanzartige Zuckungen, einmal legt er seinen Kopf in den Schoß seiner Mutter, denn neben allem anderen hat die Figur eben auch einen infantilen Zug. Allerdings zeigt er ebenfalls, wie Anna auf ihn wirkt: sieht er sie, spricht er mit oder von ihr, hellen sich seine Züge auf, fast ein Lächeln bringt er ins Gesicht, womöglich steckt ganz tief in ihm, also in etwa der Tiefe eines charakterlichen Marianengrabens, sogar Humor. Am Ende liegt er bäuchlings im flachen Wasser. Bei Hauptmann, wir erinnern uns, rudert er auf den Müggelsee hinaus. In Chemnitz hängt Wäsche quer über die Bühne, erst eine, dann zwei, dann drei Leinen voll. In Chemnitz sind sich Anna und Käthe näher gekommen als in allen Inszenierungen, von denen ich weiß. Auch wenn der Hauptmann-Text das vielleicht nicht trägt, finde ich gerade darin eine Art von Aktualisierung, der jede der sonst landauf, landab üblichen Plumpheiten abgeht. Es schreitet sich nach Ende der nicht ganz zwei Stunden sehr angenehm durch den Park, Wiedersehensbedürfnisse sind geweckt.
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