Oskar Kanehl (1888 - 1929)

Nein, ganz vergessen ist Oskar Kanehl nicht. Expressionismus-Anthologien konnten nicht an ihm vorbei, Sammlungen früher proletarischer Dichtungen ebenfalls nicht. Wo ausführlicher von ihm die Rede ist, ist das Urteil eindeutig: bis 1923 hat er ein paar Gedichte geschrieben, die bleiben werden, dann aber ging es bergab. Mangelnde Fähigkeit zum politischen Lernen, in ihrem Gefolge auch ästhetisch-literarisch der Abstieg, am Ende der Selbstmord: Sturz aus dem vierten Stock auf die Straße, Schock für die Passanten, ein tragisches Geschick vielleicht und der Übergang zur historischen Tagesordnung.

Erich Mühsams Nachruf auf Oskar Kanehl fehlt in der dreibändigen Mühsam-Ausgabe, lieblos hat die zweibändige Reclam-Anthologie „Wir sind die Rote Garde“ ein einziges Gedicht aus dem schon 1922 in zweiter Auflage erschienenen Band „Steh auf, Prolet“! dem Zeitraum von 1924 – 1928 zugeordnet, ganz zu schweigen davon, daß in dieser Ausgabe sämtliche Seitenangaben des Registers falsch sind. Des 100. Geburtstages von Oskar Kanehl am 5. Oktober zu gedenken ist, meine ich, auch ein wenig das Abtragen einer Ehrenschuld.

„Fragen Sie mich also, was meine Gedichte wollen, so habe ich Ihnen darauf zu antworten: Sie wollen politisch sein. Sie wollen helfen, die Selbstbewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse vorwärts zu treiben zu dem Ziele der Befreiung der Arbeiterklasse...“ - so charakterisierte Kanehl seine Mission als proletarischer Dichter vor dem Gericht, das ihn der Aufreizung zum Klassenhaß anklagte. Kanehl erhob keinen Anspruch darauf, seine Gedichte am alten bürgerlichen Kunstbegriff zu messen. „Ob meine Gedichte Kunstwerke sind? Das ist keine Frage, die mir Äußerungen eines Klassenkämpfers gegenüber am Platze scheint.“

Unübertroffen bis heute hat sich Kurt Tucholsky gerade zu diesem Aspekt des Kanehlschen Werkes geäußert: „Ich glaube nur, daß Kanehl und seine Zuhörer mit vollem Recht darauf pfeifen, ob diese Verse ästhetischen Ansprüchen genügen oder nicht. Eine literarische Prüfung solcher Gedichte liefe darauf hinaus, zu sagen: Der Mann, der dort auf dem Marterbett angeschnallt ist, schreit eine Oktave zu hoch! - Man soll ihn losschnallen und seine Peiniger unschädlich machen – darauf kommt es an.“ Die Ästhetik dessen, was Tucholsky hier „Gebrauchslyrik“ nannte, ist natürlich eine andere als die Ästehtik esoterischer Gefühlslyrik.

Oskar Kanehl verwarf mit äußerster Radikalität alles, was „der bürgerlcihe Dichter, der schamlose Reklametrommler seiner persönlichen kleinen und kleinsten, sehr eitlen und sehr überflüssigen Gefühle“ hervorbrachte. Kanehls linker Radikalismus war zeitbegründet unvermeidlich, seine Empörung über die deutsche Entwicklung nach der Novemberrevolution, wie er sie eindringlich im Vorwort seines Gedichtbandes „Die Schande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten aus der Mordsaison 1914 – 18“ formulierte, spricht eine deutliche Sprache.

Geboren am 5. Oktober 1888 in Berlin, siedelte Kanehl nach seinem Studium der Literaturwissenschaft und der Philosophie in das Fischerdorf Wieck über, wo er die nach zehn erschienenen Heften verbotene Zeitschrift „Der Wiecker Bote“ herausgabe. Eine enge freundschaftliche Beziehung verband ihn mit Franz Pfemfert, Kanehl blieb bis zu seinem Freitod Mitarbeiter der „Aktion“. Früher und konsequenter als andere stellte er sich an die Seite der kämpfenden Arbeiterklasse und seine Dichtungen fanden Gehör und zwar keineswegs nur bis 1923. Der Schauspieler Rolf Gärtner wurde 1925 zu 15 Monaten Haft verurteilt, weil er revolutionäre Gedichte, auch von Kanehl, rezitiert hatte und auch Kurt Tucholsky wußte von der Wirkung Kanehls vor allem auf junge Arbeiter.

Kanehls letzter Band „Straße frei“ von 1928 wurde konfisziert. Wenn in seiner geistigen Entwicklung tatsächlich eine zunehmende Frontstellung gegen die KPD, ein Beharren auf taktischen und strategischen Positionen aus der Zeit der revolutionären Nachkriegskrise auszumachen ist, dann gilt es natürlich heute, Ursachen dafür zu ergründen. Kurt Tucholsky hat in seinem herrlichen Essay „Gebrauchslyrik“ Argumente genannt, die es zu bedenken gilt. Eine differenzierte Wertung der Bündnispolitik der KPD mit den linksorientierten Intellektuellen der Weimarer Republik ist die unerläßliche Voraussetzung auch für ein tieferes Verständnis der Tragik des Dichters Oskar Kanehl, der am 28. Mai 1929, kurz nach dem Blutmai, aus dem Leben schied.
  Zuerst veröffentlicht in: SONNTAG, Nr. 41, 1988, S. 5 nach dem Typoskript,
  unter der Überschrift „Oskar Kanehl 100“

Weiße Flecken in der Geschichte haben wir nicht, wo kämen wir sonst auch hin, und demzufolge haben wir auch keine weißen Flecken in der Literaturgeschichte, allenfalls ein sehr blasses Hellgrau kommt bisweilen vor oder die berühmte Eierschalenfarbe. Und da soll sich keiner beschweren. Denn irgendwann kommt der Mann mit dem Farbtopf. Der weist dann ganz bescheiden auf einen fast vergessenen Herrn hin, auf einen fast übersehenen Zusammenhang, und alles ist wieder in Ordnung. Am 5. Oktober nun des Jahres 1888 wurde zu Berlin ein Mann namens Oskar Kanehl geboren. Der sich am 28. Mai 1929 das Leben nahm. Dieser Mann war dem Vernehmen nach schon frühzeitig sehr aktivistisch veranlagt, er gab eine expressionistische Zeitschrift mit dem Namen „Der Wiecker Bote“ heraus, die nach zehn Heften verboten wurde, er wurde in der Novemberrevolution Mitglied des „Vollzugsrates der Arbeiter und Soldaten“. Veröffentlichte „Die Schande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten in der Mordsaison 1914 – 18“, grauenhafte Bilder des Weltkrieges, mit einem Vorwort, das die ganze Enttäuschung herausschrie, die Kanehl empfand über die geringe Lernfähigkeit der Exponenten der Weimarer Republik.

Kanehl wurde Mitglied der KPD, verließ sie nach dem Heidelberger Parteitag wieder und hoffte auf die siegreiche proletarische Revolution. Linksradikalen Anschauungen verstärkten sich bei ihm, das Ende der revolutionären Nachkriegskrise traf ihn ganz persönlich. Als nach dem Blutmai 1929 wiederum kein spontaner Aufstand ausbrach, stürzte sich Kanehl aus dem Fenster. Weil er einer der ersten war, die radikal mit ihrer bürgerlichen Herkunft brachen und sich an die Seite des kämpfenden Proletariats stellten, weil die frühe proletarisch-revolutionäre Literatur in Deutschland nicht ohne ihn vorstellbar ist, soll er nicht vergessen bleiben. Und es kann als sicher gelten, daß wir auch seinen letzten Gedichtband „Straße frei“ so lesen lernen, wie ihn Kurt Tucholsky gelesen hat 1928, verständnisvoll nämlich.
  Zuerst veröffentlicht in: NEUE HOCHSCHULE, 31. Jahrgang Nr. 16, S. 5,
  am 6. Oktober 1988 unter der Überschrift: „Vergessen: Oskar Kanehl“


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