Denis Diderot (1713 - 1784)

Als Lenin sich anschickte, die erfolgreiche Verwirrung zu analysieren, die zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Neubelebung des subjektiven Idealismus geführt hatte, die auch auf einige Theoretiker der Arbeiterbewegung übergriff, beschäftigte er sich sehr intensiv mit der Geschichte der Philosophie. Er wies nicht nur nach, daß die sogenannten Empiriokritizisten keineswegs originelle Ideen verfochten, er zog auch zur Verteidigung des materialistischen Standpunkts große Materialisten der Vergangenheit heran. Einen ließ er besonders ausführlich selbst zu Wort kommen: Denis Diderot, den französischen Aufklärer. Lenin fand auch an einer Stelle, daß Friedrich Engels den Standpunkt Diderots eingenommen habe. Lohnt es sich, jetzt des 275. Geburtstages von Denis Diderot zu gedenken?

„Wer Diderot nur aus seinen Schriften kennt, kennt ihn überhaupt nicht“,  schrieb Jean-Francois Marmontel in seinen Erinnerungen und hatte damit ebenso unrecht wie recht. Recht hatte er, als er auf den Gesprächspartner Diderot verwies, der auf alle, die ihn kennenlernten, eine große Anziehungskraft ausübte, die in seinen Schriften so nicht zu finden war. Unrecht hatte er insofern, als manche Schrift Diderots selbst seinen nahen Bekannten nicht bekannt wurde, erst die Nachwelt sich ein Bild von einiger Vollständigkeit machen konnte. Auch heute noch darf mit Neuentdeckungen verstreuter Manuskripte gerechnet werden. Dennoch lassen sich die Verdienste Diderots natürlich benennen. An der Spitze steht sicher sein Beitrag zur Entwicklung der materialistischen Philosophie. Diderot war einer der wenigen französischen Materialisten, die partiell die Grenzen des alten mechanisch-metaphysischen Materialismus übertraten und Schritte in Richtung auf die Verbindung von Dialektik und Materialismus leisteten.

Bahnbrechend war Diderot als Theoretiker des bürgerlichen Dramas, Lessing schätzte ihn deshalb sehr hoch ein, als Theoretiker und Autor des neuen bürgerlichen Romans, als Ästhetiker auch der Malerei. Zahlreiche wichtige Schriften Diderots waren in Deutschland eher bekannt als in seiner Heimat Frankreich, Goethe überstezte „Rameus Neffe“, und die erste französische Ausgabe dieses vielleicht tiefsten Werkes Diderots war eine Rückübersetzung aus dem Deutschen. Innerhalb der breiten Bewegung der französischen Aufklärung war Diderot über lange Jahre eine der Schlüsselfiguren. Mehr als zwanzig Jahre seines Lebens widmete er  der Arbeit an der Enzyklopädie, und hielt rund 160 Mitarbeiter bei der Stange.
  Zuerst veröfffentlicht in: NEUE HOCHSCHULE, 31. Jahrgang, Nr. 16, S. 6,
  am 6. Oktober 1988 unter dem Titel: Alter und doch höchste moderner Denis Diderot

Nicht häufig kommt es vor in der Geschichte, daß ein bedeutender Philosoph zugleich auch ein bedeutender Romanautor ist und seinen lang anhaltenden Nachruhm beidem verdankt. Denis Diderot, dessen 275. Geburtstag wir am 5. Oktober begehen, war ein universeller Geist, rastlos schöpferisch tätig und stand im Zentrum einer der folgenreichsten ideologischen Strömungen der neueren Geschichte, der französischen Aufklärung. Wäre er nur der Mann gewesen, der zuerst gemeinsam mit d'Alembert und dann allein das gewaltige Unternehmen der Enzyklopädie geleitet und zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht hätte, das Unternehmen hatte immerhin rund 160 Mitarbeiter und füllte am Ende 17 Text- und 11 Bildbände, Diderots Name wäre auf immer geblieben.

Doch neben dieser aufreibenden Arbeit, die zeitweise illegal erfolgen mußte, schrieb Denis Diderot auch eigene Werke in dichter Folge, viele von ihnen erschienen erst nach seinem Tode und nicht wenige in seinem Heimatland Frankreich später als etwa in Deutschland. „Rameaus Neffe“ mußte gar in einer Rückübersetzung aus dem Deutschen, die deutsche Ausgabe hatte Goethe besorgt, in Frankreich erscheinen. „Jacques der Fatalist“ und „Die Nonne“ haben seit ihrem ersten Erscheinen unzählige Auflagen erlebt im In- und Ausland, Diderots Novellen und Dialoge gibt es in ebenso vielen Ausgaben zu lesen wie Auszüge aus seinem umfangreichen Briefwechsel. Hugo von Hofmannsthal, den weltanschaulichen Positionen Diderots wohl eher  fremd gegenüber stehend, war, als er die erste deutschsprachige Ausgabe von Briefen Diderots an Sophie Volland gelesen hatte (eine neue Ausgabe erschien 1986 als Reclam-Buch), derart begeistert, daß er die Lektüre mit einem Rauschmittel verglich.

Diderots Werke entziehen sich nicht selten einer eindeutigen Zuordnung, es gibt bei ihm weder „rein“ belletristische Werke – selbst „Die geschwätzigen Kleinode“, die er in nur 14 Tagen niederschrieb und die lange als schlüpfrig galten, enthalten theoretische Überlegungen – noch „rein“ wissenschaftliche in dem engen Sinne, den die deutsche Tradition ihnen gegeben hat. Mindestens der Stil ist bei ihm immer so lesbar, so überraschend geistvoll, daß auch schwierige Gedankengänge verfolgbar werden. Besonderer Bevorzugung erfreute sich bei Diderot der Dialog, den er immer wieder nutzte und der ihn, als souverän gehandhabte Form, geradezu auch zu neuen Inhalten drängte.

Diderot wird heute ein wichtiger Platz auf dem Weg zur Entwicklung des dialektischen Materialimus zugesprochen, hat er doch mit seinen alle Systematik verachtenden dialogischen Erörterungen nicht wenige Fragen aufgeworfen, die über den herrschenden metaphysischen, mechanischen Materialismus hinaus, teilweise weit hinaus führten. Das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit, von Notwendigkeit und Zufall, von Theorie und Praxis und nicht zuletzt von Materie und Bewegung wurde von Denis Diderot so behandelt, daß dialektische Folgerungen unabweisbar wurden.

Diderot erlebte die französische Revolution nicht mehr, doch als er am 31. Juli 1784 starb, war er zu einer revolutionären politischen Theorie gelangt, die allerdings erst lange nach seinem Tode bekannt wurde. Der Dramatiker und Romancier, der Ästhetiker und Philosoph, der erstaunlich hellsichtig die Entwicklung der Produktivkräfte seiner Zeit beobachtet hatte und den Naturwissenschaften sehr eng verbunden war, hält immer noch Überraschungen bereit für seine Leser, man muß sich ihm nur zuwenden.
  Zuerst veröffentlicht in: FREIES WORT, Beilage 39, S. 2, 30.9./1.10. 1988
  unter der Überschrift: Philosoph und Romancier, nach dem Typoskript

„Der Philosoph hängt nicht so sehr an einem System, daß er nicht die volle Stärke der Einwände empfindet. Die anderen Menschen spinnen sich derart in ihre Anschauungen ein, daß sie sich nicht einmal die Mühe nehmen, die Anschauungen der anderen zu erforschen. Der Philosoph aber versteht die Meinung, die er verwirft, ebenso tief und klar wie die Meinung, der er sich anschließt.“ Denis Diderot hat diese Sätze über den Philosophen für den zwölften Band der Enzyklopädie, das zentrale Kompendium der französischen Aufklärung, geschrieben, deren Zustandekommen über einen langen Zeitraum und gegen zahlreiche massive Widerstände, die manchen seiner Mitstreiter zum vorzeitigen Aufgaben veranlaßten, wesentlich ihm zu verdanken ist. Er hat in diesen Sätzen auch gewichtige Züge seines eigenen Wesens wie seiner Arbeitsweise beschrieben.

Die außerordentliche Lebendigkeit, die bisweilen frappierende Modernität nicht weniger seiner Gedanken rührt daher, daß er die Grenzen des materialistischen Flügels der französischen Aufklärung mit Fragestellungen aufbrach, die in die Richtung der organischen Verbíndung von Materialismus und Dialektik wiesen. Diderot war, darauf ist von Kennern seines umfangreichen, großenteils erst posthum erschienenen Werkes hingewiesen worden, ein verschwenderischer Geist, der seine Gaben ausstreute, ohne kleinlich auf Urheberschaften zu bestehen. Er war auch ein besessener Arbeiter und ein Mann des Salons. Berühmt schon zu Lebzeiten, besucht und besichtigt wie ein exotisches Wesen von deutschen und anderen Fürstlichkeiten, machte es Diderot seinem Publikum leicht und schwer zugleich.

Leicht, indem er im Gegensatz zur deutschen Geistesentwicklung etwa zugunsten der Rezipierbarkeit seiner Werke die strengen Grenzen zwischen wissenschaftlicher und belletristischer Prosa spielend übersprang, schwer, weil er auf einen Lesertyp setzte, der urteilsfähig und in der Lage war, selbst weiterzudenken, fortzusetzen, dagegenzuhalten. Den Ehrgeiz zum System hatte Denis Diderot nicht, das verleitete nachkommende Denker dazu, ihn zu unterschätzen und brachte ihn selbst in die glückliche und folgenreiche Lage, den Zwängen eines jeglichen Systems nicht folgen zu müssen. Diderots kaum wirklich gewürdigter eigener Beitrag auf dem Wege vom metaphysischen, mechanischen Materialismus des 18. jahrhunderts hin zum dialektischen Materialismus erwuchs auf dem Boden seines dialogischen, die Paradoxie geradezu aufsuchenden Denkens und Schreibens. Es kennzeichnet seine gesamte Prosa, die formal gesehen durch ihre Erzählstrukturen, ihre Offenheit, ihre permanente Verschmelzung von traditionell heterogenen Elementen massiv in unser Jahrhundert deutet und weiterhin Langzeitwirkung beansprucht.

1713 in Langres als Sohn eines Messerschmiedes geboren, trat Diderot erst im Alter von 32 Jahren an die bewegte Öffentlichkeit Frankreichs, um dann eine noch heute beeindruckende geistige Entwicklung zu nehmen vom Theismus seines Debüts bis hin zu der erst in diesem Jahrhundert voll erkannten revolutionären politischen Theorie seiner letzten Lebensjahre. Verbunden ist sein Name auf immer mit dem Kampf um das bürgerliche Drama, der über Lessing auch nachhaltig nach Deutschland wirkte, kaum geringer ist seine Bedeutung für die Schaffung eines neuen Typus von Roman zu veranschlagen. „Jacques der Fatalist“ und „Die Nonne“ fehlen noch heute in keiner Bibliothek der Weltliteratur und seit Goethes Übertragung von „Rameaus Neffe“ reizt dieses abgründige Werk Generationen von Interpreten. In nur 14 Tagen schrieb der junge Diderot „Die geschwätzigen Kleinode“, um seine Freundin Madame de Puisieux zu verblüffen.

Überschaut man die dichte Folge seiner Arbeiten, die große Zahl von Briefen, die er schrieb, und bedenkt, daß mehr als zwanzig Jahre seines Lebens intensivste Arbeit an der Enzyklopädie waren, organisatorische nicht zuletzt, die nach d'Alemberts Rückzug allein auf seinen Schultern ruhte, dann will es wie ein Wunder wirken, daß dieser Mann keine Geselligkeit scheute, Gast aller führenden Salons war, an Ausflügen zum Fischessen teilnahm, liebevoll seine Tochter erzog. Jean-Francois Marmontel (1728 – 1799) beschrieb Diderot aus intimer Kenntnis fast überschwenglich so: „Alle Zweige des menschlichen Wissens waren ihm sowohl im ganzen als auch in ihren Einzelheiten so vertraut und gegenwärtig, daß er immer auf das vorbereitet zu sein schien, was man ihm zu sagen hatte, und seine Stegreifbemerkungen wirkten wie die Ergebnisse aus einem erst kürzlich beendeten Studium oder langem Nachdenken. Diderot war nicht nur einer der aufgeklärtesten, sondern auch einer der liebenswürdigsten Männer des Jahrhunderts...“.

Marx, Engels und Lenin haben Diderot ihre Anerkennung nicht versagt und in der DDR sind seine Werke in zahlreichen Ausgaben weit verbreitet. Victor Klemperer und Werner Krauss, Werner Bahner und Martin Fontius, Rolf Geißler und andere haben für eine umfängliche Kenntnis Diderots solide und lesbare Arbeiten geliefert. Die üppige Fülle, der staunenswerte Reichtum Diderots reichen dennoch aus für immer neue und überraschende Einsichten. Selbst viel gelesene und scheinbar längst ausgedeutete schriften wie die „Gedanken zur Interpretation der Natur“, die eine erste Zusammenfassung der materialistischen Positionen Diderots bedeuteten, geben sich auf eine neue Weise heutig, nebenhin Gesagtes bekommt erst volle Bedeutung: „... so bedeutet es ein Vergehen gegen die Menschheit, wenn man wahllos alles beobachtet.“ Wir begehen den 275. Geburtstag Diderots im lebendigen Umgang mit ihm.
  Geschrieben am 11. September 1988 für BERLINER ZEITUNG, unveröffentlicht


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