Erster Dezember
Nein, ein besonderer Tag war der erste Dezember nicht immer für mich. Er war einfach so ein Tag, der vielleicht ganz kurz den Gedanken aufblitzen ließ, dass schon wieder der letzte Monat des laufenden Jahres begonnen hat, aber das war nichts für mehr als eine winzige Besinnung. Noch der Schmetterling, der an diesem Montag, einem 27. November, fürwitzig in halber Blockhöhe gen Unterpörlitzer Straße flatterte, hätte mehr Aufregung ausgelöst früher und der überraschende Nebel unter sonst strahlend blauem Himmel am letzten Novembertag, der natürlich auch.
Seit dem schönen Jahr 2003 aber ist der erste Dezember für mich ein Tag des Rückblicks. An diesem Tag habe ich meine letzte dienstliche Tat für die Lokalredaktion Ilmenau von Freies Wort getan: ein langes, ein überlanges Gespräch mit dem zum damaligen Jahresende Ilmenau verlassenden Richter Schmidt. Wohl 100 Verhandlungen unter seinem Vorsitz habe ich erlebt, eine stattliche Zahl Berichte darüber geschrieben und an diesem Montag wurde mir klar, dass es nur wenig noch gegeben hatte neben der unten rechts auf meiner Gehaltsabrechnung stehenden Zahl, das mich bei der journalistischen Stange gehalten hat. Die Gerichtstage, Dienstage und Donnerstage, gehörten dazu.
Am 25. November 2003 aber war ich einer dienstlichen Einladung nach Suhl gefolgt und dort hatte mir ein Mann mit einem stechenden Blick, assistiert von einem schweigenden Mann mit einem Ohrring, die Mitteilung gemacht, dass zum ersten Januar 2004 ein anderer sich auf meinem Arbeitsplatz Bahnhofstraße 19 breit machen wird. Es ging schnell an diesem späten Mittwoch und noch am Abend habe ich meinen Schreibtisch beräumt, meine Bürowände von Privatheiten gesäubert. Es gibt Schnitte, die sind ebenso überraschend wie folgerichtig.
Manchmal später habe ich gedacht: Wenn ich einen der beiden Herren oder beide, was noch besser gewesen wäre, in einem Straßengraben gefunden hätte, röchelnd und hilfsbedürftig neben einem Schrottauto, ich hätte mir das Delikt der unterlassenen Hilfeleistung gegönnt. Vielleicht hätte Richter Schmidt über mich urteilen müssen, ein souveräner Mann und ohne manche Ambitionen seiner Nachfolger im inzwischen gar nicht mehr selbständigen Ilmenauer Amtsgericht.
An jenem ersten Dezember 2003 habe ich die Fragen meines Interview-Partners beantwortet, meine eigenen Fragen fast nebenbei gestellt. Es ist ein leidlicher Artikel daraus geworden und dann war das Kapitel abgeschlossen. Nur manchmal habe ich die Zeit bedauert, die ich über Jahre opferte. Nur manchmal habe ich länger darüber nachgedacht, dass nichts von dem, was der Herr mit dem stechenden Blick mir an einem 20. Juni, auch 2003, 90 Minuten lang an den Kopf schleuderte, mich eigentlich betroffen hat, wie die Zeit nach meinem Ausscheiden auf eine Weise bewies, die ihm hätte peinlich werden müssen. Freilich müsste man dazu ein Mann sein, dem etwas peinlich sein kann.
Damals, dass vergesse ich natürlich nicht, trösteten mich Kollegen und Betriebsratsmitglieder mit der trostarmen Aussage: Mach Dir nichts draus, das hat er mit jedem von uns schon so gemacht. Heute bin ich dem Mann dankbar, dachte ich doch lange, er kann gar nichts und weiß jetzt: das konnte er doch. Und seit jenem ersten Dezember bekomme ich keine nummerierten Rundschreiben mehr, keine brechreizenden Memos, muss mir keine albernen Konzeptionen mehr zu Gemüte führen, brauche nicht mehr bei Schnee und Nebel in ein Glashaus zu reisen, um Zeuge zu werden, wie der Mann mit dem stechenden Blick den Mann mit dem Ohrring als dummen Jungen behandelt. Das sind Gefühle, die sich durchaus genießen lassen.
Zuerst veröffentlicht in: Ullrichs Ecke, 1. Dezember 2006