Die befleckte Empfängnis

Vorbemerkung am 6. März 2014, 85. Geburtstag von Günter Kunert: Der mit dem Buchtitel „Die befleckte Empfängnis“ überschriebene Artikel ging am 22. Oktober 1989 in die Post gen Berlin. Als er am 10. Dezember 1989 im „Sonntag“ erschien, war die Welt eine andere. Jeder Versuch, Sätze und Satzteile zu erklären, hätte schon vor 25 Jahren mehr Platz beansprucht als der Beitrag selbst. Um so mehr muss er jetzt für sich stehen. Er wurde als sechsundzwanzigster zugleich mein letzter für die Wochenzeitung des Kulturbundes, was nicht abzusehen war. Der Text:

Vierzig Jahre ist es her ... So hätte ich vielleicht meine Notizen zu diesem Buch begonnen, wenn ich sie eher begonnen hätte. Vierzig Jahre ist es nämlich her, daß der Allgemeine Deutsche Verlag GmbH eine Anthologie herausbrachte mit dem Titel „Aufforderung zum Zuhören“ - das Titelgedicht war eines von den vieren, die ihm beizusteuern gestattet wurde: Günter Kunert. Vielleicht wäre auch ein Blick in Johannes R. Bechers Tagebuch „Auf andere Art so große Hoffnung“ eine Idee gewesen, um dezent darauf hinzulenken, daß dieser Kunert einer war, der DDR-Literaturgeschichte geschrieben hat: Bechers andächtiges Aufzeichnen von Zeilen des „Grashüpfers“, wie er Kunert damals nannte. Da aber hätten meine Schwierigkeiten schon begonnen:  kühl literaturwissenschaftlich-literaturgeschichtlich fortzufahren, wie ich es vielleicht sogar noch 1980 gekonnt hätte, ehe meine lange vorbereitete und mit einem immensen Materialberg grundierte Diplomarbeit zu Kunert von einem rückgratlosen Professor untersagt wurde, ist mir versagt.

Ich bin noch heute stolz auf meine wahrscheinlich selten umfangreiche Materialsammlung zu Günter Kunert, die nie nachgedruckte Arbeiten von ihm aus „Weltbühne“ und „Sonntag“, aus „Ulenspiegel“ und „Aufbau“ und und und enthält, stolz darauf, ein Heft aus der Reihe „Das neue Abenteuer“ zu besitzen (Verlag Neues Leben 1955, mit dem Kunert wohl seine finanzielle Lage aufbessern wollte damals und das in keiner Bibliographie erwähnt wird. Aber ... Schon diese Titel: „Aufforderung zum Zuhören“, „Auf andere Art so große Hoffnung“ - sie führen mich als Kritiker zu Assoziationsketten weit weg von Kunert. Als anders. Ich vermelde mit Nachdruck, daß es nicht der mangelhafte Mut des „Sonntag“ ist, der diese Kritik, die keine ist, erst jetzt erscheinen läßt. Ich vermelde mit gleichem Nachdruck, daß es auch mein mangelnder Mut nicht war, der mich das mir sehr frühzeitig zugegangene Buch immer wieder beiseite schieben ließ. Eine Sammlung meiner in den letzten zwei Jahren gestrichenen (redaktionell gestrichenen) Zeilen würde mühelos belegen, daß es das nicht ist: es sind meine Emotionen, die mich bremsten.

Ich lese in einem meiner Kunertordner dies: „Zu viele „Literaturtheoretiker“ haben sich im Verlaufe des letzten Jahrzehnts ihre Stiefel an mir abgewischt, als daß ich auch nur noch eine einzige derartige Erniedrigung hinnehmen würde. Diese Köche, denen wir den ungenießbaren Brei ihrer unfrommen ideologischen Denkungsart verdanken, ihnen verdanken wir damit zugleich die bedrückenden Verluste, die die DDR-Literatur betroffen haben, weil einer unabgeschlossenen Anzahl von Dichtern und Schriftstellern das Leben unerträglich gemacht wurde, so daß, wie sie meinten, ihnen kein anderer Ausweg blieb, als fortzugehen. Ich weigere mich anzuerkennen, daß dies die einzige Alternative sein soll. Günter Kunert 22. 5. 1979.“ Kunerts zutiefst berechtigte Verärgerung traf auch diesen „Sonntag“, dem er einst das „Wort des Sonntag“ reimte...

In diesen Tagen aber, da der „Sonntag“ schon fast seine so rühmenswerte Vorreiterrolle verliert – worüber er kaum böse sein kann – in diesen Tagen kann für mich das Sprechen über Günter Kunerts „Die befleckte Empfängnis“ nur ein Sprechen bei Gelegenheit des Buches sein. In der sicheren Gewißheit, daß letzte Wörter nicht auf der Tagesordnung stehen jetzt, kann es nun auf keinen Fall darum gehen, etwa beckmesserisch an der Auswahl herumzurütteln zum Beispiel. Almut Giesecke hat wohl, nehme ich an, das Mögliche getan. Aber: es war das Mögliche von vorgestern. Ich denke, wir haben jetzt, wo wir gemeinsam neuen Mut geschöpft haben, wo es uns herausdrängt aus den beschränkten Tätigkeiten, in denen wir uns so gut verstecken konnten, so wir es wollten, eine große Chance. Denn kurzfristig zu vollbringen ist – wir sind keine Wundertäter und auch Egon Krenz ist es nicht – mit Sicherheit eines: wir können eine Atmosphäre schaffen, in der es Spaß macht (wieder oder erstmals oder überhaupt), hier zu leben und hier zu arbeiten. Dazu sind Taten möglich, die keine Investitionen erfordern. Blicke in die Geschichte etwa, wie sie Kunert immer riskiert hat: gegen das VERGESSEN.

Ich beispielsweise kann nicht aus meiner Haut: hätte ich nicht anno 1970 einen Deutschlehrer gehabt, der wider alle Lehrpläne eines schönen Tages mit zwei der damals noch rabenschwarzen Reclambücher sich auf seinen kreidigen Lehrertisch lümmelte und vorzutragen begann: „Notizen in Kreide“ und aus der „Menschheitsdämmerung“ - wäre ich heute, der ich bin? Hätte ich nicht dreist als mein dichterisches Vorbild Günter Kunert genannt 1974 im Jugendmagazin „Neues Leben“, mich meines begeisterten Epigonentums nicht schämend – wäre ich heute, der ich bin? Wir haben jetzt Gelegenheit, den ideellen Schrott, der sich öffentlich unwidersprochen angesammelt hat in Jahren, beiseite zu fegen: das unerträgliche Geschwätz vom Geschichtspessimismus, dem es zu wehren gälte, als hätte es nicht immer gegolten, den Ursachen für Geschichtspessimismus, einen fatalen Geschichtsverlauf nämlich, zu Leibe zu rücken.

Günter Kunert hat, das wird ein bald fälliger Überblick über sein Werk zeigen, wie andere seines Ranges auch, viel früher und tapferer seinen Dichterfinger auf die Wunden gelegt. Er hat sich selbst nichts geschenkt, seine Betroffenheit schreibend an der Grenze zum Lebensbedrohlichen (als Minimum) gehalten. Uns würde es zur Ehre gereichen, wenn wir nun sehr genau darauf achten, wer was wann wo schon längst gesagt hat, bevor es in aller Munde kam. Öffentliche Scham wäre wohl nicht zu viel verlangt da und dort und dort auch. Den Dichtern sind junge Leute gefolgt, zehntausende den einzelnen und da wir den zehntausenden die Rückkehr anbieten im nicht unsicher zu machenden Wissen, daß dieses der bessere deutsche Staat ist, sollten wir es den einzelnen nicht auch erstrebenswert machen: den Dichtern? Ich sage es so: brauchen wir sie nicht viel nötiger als die dort, die ihre kritischen Dichter mit Böll zu reden als „Vorzeigeidioten“ mißbrauchen, damit um so sicherer alles beim Alten bleibt? Und gar, wie es heute aus ihren Mäulern schäumt, möglichst beim Uralten (von 1937)?

Mir hat Günter Kunert, will ich sagen, schmerzlich gefehlt. Ich habe meine Kunert-Sammlung, will ich sagen, mit nicht benennbar großer Freude um den neuen Band aus dem Hause Aufbau erweitert. Der sollte ein Anfang sein. Und, um sogleich in die schon mächtig ausufernde Hoffnung zu verfallen: jetzt, wo die Presse, der Rundfunk, das Fernsehen dem Buch nicht mehr auf die Weise zuarbeiten, die Christoph Hein so sarkastisch-treffend beschrieben hat auf dem Kongreß der Schriftsteller, jetzt können dem Dichten ungeahnte Möglichkeiten zufließen. Denn eines steht fest (und wenigstens einmal will ich aus dem Buch zitieren, das ich aus hoffentlich verzeihlichen Gründen „benutzt“ habe): „Und wenn es selber / ausbricht und aufschreit / ... / erstirbt das Gedicht im Gedicht / rettungslos“ (Schicksal des Gedichts).
 Zuerst veröffentlicht in: Sonntag Nr. 50, S. 5, 10. Dezember 1989,
 nach dem Typoskript


Joomla 2.5 Templates von SiteGround