Christoph Hein: Der Tangospieler
Zu vermuten ist, dass er nichts gegen die Deutsche Post hat. Zu vermuten ist auch, dass die Deutsche Post nichts gegen ihn hat, obwohl die Pointe seines neuen Buches auf ihre Kosten geht. Christoph Hein schickt seinen Geschichtsdozenten Roessler am 21. August 1968 in die Sieben-Uhr-Vorlesung, womit er uns gleichzeitig darüber belehrt, dass es vor der III. Hochschulreform mitten im schönsten August tatsächlich Geschichtsvorlesungen gab. Der Dozent Roessler hat noch keine Zeitung gelesen zu dieser frühen Stunde, und die Minutenansage des morgendlichen Rasiersenders hat er vermutlich schnöde missachtet. Was sein Pech wird. Denn nun behauptet er vor seinen Studenten, dass die Nachrichten vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR schlimmste Feindpropaganda im Stile eines Joseph Goebbels seien. Das bringt ihn um seine Dozentur. Die Stelle wird frei für den promovierten Historiker Hans-Peter Dallow, um den es eigentlich geht in diesem Buch.
Der hat anno 1966 für ein Studentenkabarett Klavier gespielt, einen alten Tango. Dafür ist am nächsten Morgen mit entschiedenem Nachdruck der Wunsch an ihn herangetreten worden, seine Zahnbürste einzupacken. 21 Monate später ist er wieder frei. Und will in diesem historischen Jahr 1968 die Gelegenheit beim Schopfe packen, um ganz neu anzufangen. Dabei macht er eine sehr merkwürdige Erfahrung: „Er hatte eine Freiheit gewonnen, die er zu nutzen nicht fähig war.“ Hans-Peter Dallow hat Probleme, die ersehnte Freiheit zu ertragen. „In der Zelle hatte er nichts entscheiden müssen.“ Es gibt in diesem Buch auch noch einen philosophierenden Rohrleger in einer Kneipe, der sich mit Schopenhauer beschäftigt, es gibt eine Elke, die ihr Kind vorsorglich auf einer Matratze im Hausflur schlafen lässt, wenn sie einen Mann mit nach Hause bringen will. Und die Herren Müller und Schulze … Christoph Heins neues Buch „Der Tangospieler“, erschien im Aufbau-Verlag, der als Taschenbuch in diesem Jahr auch noch „Das Wildpferd unterm Kachelofen“ herausbringen wird, ist ein Buch, das keine Reklame braucht. Verständlicherweise.
Zuerst gedruckt in: Neue Hochschule Nummer 11, 9. Juni 1989, Seite 4, unter dem Titel: Tango und Geschichte, Druckfassung
Ein neuer Hein ist da. Das von einem Autor sagen zu können, ist für den Kritiker ein gutes Gefühl. Zählen sie doch nicht nach Dutzenden, diese Autoren, auf deren neue Bücher man gespannt wartet, ungeduldig auch und voller Vorfreude in der Erinnerung an bedeutende Bücher, die sie uns geschenkt haben. Da ist jetzt „Der Tangospieler“ und weil nicht lange davor auch die zweite Auflage von Heins Essais und Gesprächen unter dem Titel „Öffentlich arbeiten“ zu kaufen war, will ich ihn wörtlich nehmen: „Meinen Stoff habe ich in meinen Augen und Ohren, er sitzt unter meiner Haut, da er mir tief unter die Haut ging. Wie immer ist es der Balken im eigenen Auge, der Pfahl im eigenen Fleisch.“ Hieß es dort und kann auch den „Tangospieler“ treffen. „Die einzigen Bereiche, in denen nach meiner Ansicht die Wissenschaften nicht oder nur zu höchst unvollkommenen Erkenntnissen kamen und die somit als terra inkognita, als unbekanntes, mythisches, widersprüchliches Land der Kunst verblieben, sind der Mensch und die menschliche Gemeinschaft.“
Für mich ist der Tangospieler Dr. Hans-Peter Dallow, der nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis zurückkehrt, um neu anzufangen, wenn möglich ganz neu, und der dann am Ende dort weitermacht, wo er mit seiner Inhaftierung aufhören musste, in seinem Institut nämlich, vor allem der Schritt der Literatur in das unbekannte Land Mensch. Sie geht doch nicht auf, die Rechnung, die aufgehen sollte in manchen Kopfes Vorstellung, die Literatur betreffend, es bleibt ein rätselhafter Rest! Die Entscheidung zum Beispiel, das Angebot der Dozentur doch zu übernehmen. Die im Widerspruch steht zu dem vorigen. Die dreist im Widerspruch steht, denn eben dieser Widerspruch macht ja, dass es vorangeht, das Leben. Christoph Hein hat für mich auch eine Parabel von der Freiheit geschrieben und das nicht nur, weil oft und auffällig von Freiheit die Rede ist in diesem Buch. Der Gedanke, es könnte dies wirklich ein Buch von der Freiheit sein, von der jeweils konkreten, hat im Angesicht dieses Buches auch etwas Erschreckendes und ich meine, dies könnte beabsichtigte Hein-Wirkung sein. „Der Tangospieler“ ist zudem ein Buch über Geschichte, weil und indem er ein Buch über DDR-Geschichte ist.
Ich mag nicht gleich von Kontinuität reden, nur weil „Horns Ende“ die fünfziger Jahre zu Stoff machte und nun die Jahre 1966 bis 1968 mehr als nur den Hintergrund bilden. „Der Tangospieler“ ist natürlich zugleich ein Buch voller Bezüglichkeiten auf andere Literatur, es waltet da ein schlitzohriger Humor, er waltet im Umkehren und im Verdrehen und er kann der Sache gemäß bisweilen nicht anders als schwarz sein. Nebenher provoziert er auch geradezu aufreizend die Frage nach der Haltbarkeit von Christoph Heins mit Heiner Müller gestützter Maximal-Ästhetik, die alles, womit die Kritik nicht ihre Ratlosigkeit demonstriert, zur Makulatur erklärt. „Der Tangospieler“ verführt den Kritiker geradezu zu der Selbsttäuschung, dieser Dallow-Geschichte auf den Grund zu sehen. So herkömmlich kommt sie daher, brav der Reihe nach erzählt, farbig bis zur saftigen Karikatur sich aufschwingend von Mal zu Mal. Eine Leimrute für Kritiker? Bestätigt der Einzug ins alte Institut die Vermutung des Historikers Dallow vom „Nullsummenspiel“ seines Lebens?
„Ja, Vater, die Wahrheit ist so lächerlich. Jede unsinnige Vermutung ist glaubwürdiger.“ Antwortet Dallow seinem Vater. Scheint das Buch zu antworten, Bequemeres hat es nicht zu bieten. Christoph Heins Buch ist kein Buch von den überwundenen Kinderkrankheiten, obwohl es auch ein Buch von den überwundenen Kinderkrankheiten ist. Es spielt sichtlich genussvoll mit Kolportage-Elementen, die Szene im Kinderzimmer von Dallows Schwester zum Beispiel ist regelrechter Kintopp. Es ist gerade das Spielerische, von dem Verführung ausgeht, an der sichtbaren Oberfläche zu bleiben. Unter ihr aber liegen die Wahrheiten geschichtet, die lächerlichen und die bestürzenden. Der studierte Philosoph Hein kennt wohl den alten Schotten Shaftesbury, der einst meinte, dem denkenden Menschen werde die Welt zur Komödie. Ich lese sein neues Buch als Fragezeichen hinter dieser dreisten Gewissheit.
Bisher unveröffentlicht, geschrieben für Tribüne, nach dem Typoskript
Zu vermuten ist, dass Christoph Hein nichts gegen die Deutsche Post hat. Zu vermuten ist auch, dass die Deutsche Post nichts gegen Christoph Hein hat, obwohl die Pointe seines neues Buches auf ihre Kosten geht. Hätte nämlich der Geschichtsdozent Roesseler die Zeitungen schon vor seiner 7-Uhr-Vorlesung am 21. August 1968 in den Händen gehabt, hätte er gewusst, dass die Truppen des Warschauer Vertrages tatsächlich in die ĈSSR einmarschiert sind und sein übereifriges Dementi wäre unterblieben. Seine Dozentenstelle wäre nicht frei geworden und Christoph Heins Unheld Hans-Peter Dallow, um den es eigentlich geht in „Der Tangospieler“, hätte auf andere Weise von der Insel Hiddensee geführt werden müssen oder aber dortbleiben. Das aber wäre eine Geschichte geworden, die nicht so herrlich aufsitzt auf der alten These Friedrich Dürrenmatts: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Welcher Geschichte gibt nun Christoph Hein jene Wendung? Der des promovierten Historikers Dallow, der einem Studentenkabarett am Klavier aushalf mit einem Tango und daraufhin zu 21 Monaten Haft verurteilt wurde: „Die Anklage lautete auf Verächtlichmachung führender Persönlichkeiten des Staates.“.
Hein erzählt die Monate von der Entlassung Dallows bis zum Vorabend seines Wiedereintritts in sein altes Institut. Dallow möchte neu anfangen und keinesfalls wieder als Historiker arbeiten. Dann aber tut er es doch. Und Christoph Hein rundet damit einen Kreis von fataler Folgerichtigkeit mit einem nur scheinbar unerklärlichen Schluss. Für mich ist „Der Tangospieler“ ein schlitzohriges Buch, das sich an der Oberfläche glatt und gefällig gibt, um mich desto sicherer auf seine bitteren Abgründe zu stoßen. Wenn ein Autor vom Range Heins derart auffallend gegen seine eigenen Postulate schreibt, die unlängst erst wieder in der 2. Auflage von „Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche“ nachzulesen waren, dann hat das Methode. Und geschieht nicht etwa, um dem einen Kritiker das beruhigende Gefühl zu vermitteln, auch Große schrieben bisweilen kleinere Bücher (als ob dies eine Überraschung wäre) und dem anderen gar den Wunsch auszutreiben, das Buch überhaupt zu besprechen. Er tut alles allenfalls auch, um unsere Zunft auf die Probe zu stellen, indem er erzählt, wie er diese Geschichte erzählen muss.
Erschreckend ist für mich nicht dieser Dallow (wie seinerzeit auch nicht die Ärztin Claudia aus „Der fremde Freund“). Erschreckend ist für mich das Buch, wo ich es als Parabel von der Freiheit lesen kann. Und da, wo ich den Hinweis eines am Biertisch philosophierenden Rohrlegers auf seinen Lieblingsautor Arthur Schopenhauer ernst nehme. Da verwandelt sich mir Leser-Empörung über den Zeitgenossen Dallow – nicht über den Autor wohlgemerkt – nämlich unversehens in die verständliche, aber falsche Morgenstern-Pointe von dem, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Hans-Peter Dallow lebt mitten in der DDR von 1968, als hätte er Schopenhauers Philosophie zu praktizieren! Darüber zu erschrecken, finde ich produktiv. Solchen Untertext unter eine Oberfläche zu bauen, die bisweilen unverschämt an Kintopp erinnert, finde ich eine aufregende Kunstleistung Christoph Heins. Sein Buch wimmelt auch von Bezügen auf andere Literatur, es debattiert und attackiert vielfach.
„Meinen Stoff habe ich in meinen Augen und Ohren, er sitzt unter meiner Haut, da er mir tief unter die Haut ging. Wie immer ist es der Balken im eigenen Auge, der Pfahl im eigenen Fleisch.“ Schrieb Hein und könnte damit auch den „Tangospieler“ meinen. Sein Buch ist ein Buch über Geschichte, weil und indem es ein Buch über DDR-Geschichte ist. Das „Nullsummenspiel“, als das Dallow sein Leben sieht und das es letztlich auch ist, wird erzählt mit Aufschwüngen bis zur saftigen Satire. Unter der spielerisch-verführerischen Oberfläche liegen Wahrheiten geschichtet – lächerliche und bestürzende – die den Schriftsteller Hein auch als Philosophen zeigen, der Bequemeres nicht bieten kann. Christoph Hein setzt mit „Der Tangospieler“ auch ein großes Fragezeichen hinter die dreiste Gewissheit des alten Schotten Shaftesbury, dass dem denkenden Menschen die Welt zur Komödie werde.
Zuerst gedruckt in Tribüne, Nummer 167 am 25. August 1989, Seite 13, unter der Überschrift „Eine Parabel mit bitteren Abgründen“; nach dem Typoskript