Brigitte Burmeister 75

Es ist möglich. Selten genug kommt es vor, aber es ist möglich: ein erstes Buch mitten in einem durchaus kräftigen Strom erster Bücher ist anders. Keine Geschichte vom wahnwitzig-wagemutigen Sprung über den eigenen Schatten, keine spitzfingrig ausgepopelten Beziehungsmelodramen aus dem Sechzig-Quadratmeter-Kosmos der Wohnungsbauserie Siebzig. Nicht beweinter Käfertod und nicht die pummlige Sinnlichkeit kerzenbeschienener Selbstverwirklichung. „Anders oder Vom Aufenthalt in der Fremde“ steht auf dem Schutzumschlag, oben links gibt es einen nicht eben aufheiternden Ausblick auf eine Industriestadt-Skyline, alles andere sind Kacheln, weiße Kacheln im Zwielicht – wohl ein Raum mit besonderen Forderungen an Sauberkeit, an Sterilität. „Ein kleiner Roman“ steht noch unter dem Titel.

Beigegeben ist dem kleinen Roman ein „Leseeindruck“ von Rolf Gerlach, der dem Leser noch einmal sagt, was er soeben gelesen hat, sicherheitshalber, es wirkt wie eine getarnte Arbeitsschutzbelehrung für Leser, die aus dem Gleichgewicht geraten sind nach der Lektüre. Überflüssig zu sagen, dieser Leseeindruck sei völlig überflüssig, wie ein Blinddarm eben. Der kleine Roman aber leistet den Offenbarungseid einer Debütantin, die ich nach diesem faszinierenden Buch nur höchst ungern als solche bezeichne. War das zu ahnen aus den ganz normalen, soliden, durch nichts auffälligen Sätzen über historische Bedingungen und Hauptetappen der Entwicklung der französischen Aufklärung, über feudale Ständeordnung und Menschenrechte, über politische Theorien der Aufklärung und die Revolution von 1789, mit denen Brigitte Burmeister den Ertrag ihrer Dissertation in das immer noch lobenswerte Reclam-Kompendium „Französische Aufklärung“ (RUB 562) einbrachte?

Oder aus den Nachworten, die sie schrieb, beispielsweise zur gesammelten Prosa von Antoine de Saint-Exupery, zu Claude Simons „Das Gras“, zu Nathalie Sarrautes „Kindheit“? Wohl nicht, oder nun, nach genussreicher, über alle Maßen genussreicher Lektüre eben doch? Scheint es mir nur so oder atmen die letzten Nachworte wirklich schon den Geist einer ach so seltenen ruhigen Souveränität, einer Selbstgewissheit jenseits aller Pose? Brigitte Burmeister hat seit längerem vorzugsweise zum Nouveau Roman publiziert und sie hat letztlich eine Innensicht ihres Gegenstandes erreicht, die Früchte trägt. Was sie über Nathalie Sarrautes „Kindheit“ schreibt, liest sich jetzt auch wie ein Kommentar zum eigenen Buch. Sie hat Konzepte des Nouveau Roman ernst genommen, sie nicht lediglich gelesen als den theoretischen Unterbau einer einmalig-unwiederholbaren literarischen Strömung, an diese gebunden und jenseits davon ohne Geltungsanspruch.

Die zeugende Kraft der Moderne mitten im Zeitgeist der Postmoderne – auch das ist ein Ertrag, den sie einbringt. Natürlich lebt der Roman – seine Krise, die vielbeschworene, ist keine zum Tode!Unverdrossen lebt er fort in der endlosen Variation mechanistisch-metaphysischer Fabelkonstruktionen nach dem Grundmuster von Charles Dickens, dem unfreiwilligen Vater aller Trivialromane, aller Kolportagen, neue Sterne gehen sogar auf an seinem Himmel, ihr Sinken von Buch zu Buch, wie es Isabel Allende mit ihrem dritten Buch vorführt, bedeutet nichts und alles. Unverdrossen lebt er aber auch durch seine Erneuerer, zu denen die von Brigitte Burmeister favorisierten Franzosen ganz unzweifelhaft gehören. Beide Linien setzen auf das Publikum, die eine rennt ihm nach, die andere lässt sich von ihm einholen.

Verführerisch sind beide Möglichkeiten: hier winkt eines Tages vielleicht die große internationale Koproduktion mit Richard Chamberlain in der Hauptrolle (wenn er nicht gar zu faltig geworden ist inzwischen), die Titelblätter der Illustrierten, da winkt immerhin die mitternächtliche Talkshow für Freiberufler, die ausschlafen können. Brigitte Burmeisters kleiner Roman braucht sich nicht nur nicht zu verstecken, er kann sich sehen lassen, er ist mittlerweile ja auch gesehen worden. Den Quervergleich fordert er geradezu heraus, zu deutlich hebt er sich heraus aus dem Üblichen. „Anders“ ist anders, „Anders“ ist gut. Ist aufregend rätselhaft, frappierend in seinen listig gebauten Irritationen, voller Bezüglichkeiten, Anspielungen, Eindeutigkeiten, Vieldeutigkeiten. Es ist kein Buch zum Nacherzählen. Das wenige an äußerer Handlung verdient kaum Aufmerksamkeit.

Einer kommt nach Berlin - und Berlin wird selbstredend niemals benannt -, arbeitet in seiner geheimnisvoll-offensichtlichen Tätigkeit, schreibt an die Lieben daheim. Schon da aber, gleich zu Anfang, dieser verfängliche Satz: „Nehmt heraus, was euch interessiert.“ Eine Zufallsbekanntschaft, vermittelt durch einen eher lächerlichen Hilfsdienst. Anders geraten seine Mitteilungen an die Lieben daheim zunehmend außer Kontrolle. Fast immer kann alles auch anders sein. Sätze gehen bisweilen über fünfzig und mehr Druckzeilen hinweg, der Blickwinkel verändert sich unterwegs, optische Eindrücke wie von Mehrfachbelichtungen geben Reize frei, die sich dem bannenden Wort verwehren. Ironie waltet mal kräftiger, mal ganz versteckt, bitter auch. Sätze, die wie vorgefertigt wirken für spätere Rezensionen, stehen in dem Buch.

Sie widersprechen sich, sie ergänzen sich auch, aber nie zu einer vollen Rundung. Das Stichwort Labyrinth taucht auf und damit die Verführung, den kleinen Roman selbst als ein labyrinthisches Unternehmen zu lesen. Der Unheld Anders schreibt seine Texte auf Blätter, die schon teilweise beschrieben sind von einer Frau, liest dann immer wieder mal seine eigenen Texte wie fremde und den fremden auch wie seinen eigenen, kann sich wundern über sich selbst. Am Ende, nach dreiundfünfzig Aufzeichnungen und einem Jahr Aufenthalt in der Fremde, schließt sich ein Kreis und öffnet sich zugleich.Die Lektüre könnte sofort neu beginnen, das Buch wäre anders. Es bleibt fremd und deshalb verlockend zum Aufenthalt.
Zuerst veröffentlicht in SONNTAG 47/1988, Seite 5, Titel der Redaktion: Rätsel,
nach dem Typoskript


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