Schlichte braune Lederbände

Zum 200. Todestag von Friedrich Melchior Grimm

Aus der Tatsache, dass jenes Haus, in dem Friedrich Melchior Grimm mit Unterbrechungen von 1790 bis zu seinem Tod am 19. Dezember 1807 lebte und Gäste empfing, in den späten DDR-Jahren abgerissen wurde, wie auch aus der Tatsache, dass seine Grabstätte in Siebleben, um deren Erneuerung sich noch Gustav Freytag 1867 rührig kümmerte, spurlos verschwunden ist, lässt sich eine Folgerung ganz sicher nicht ziehen: Dass an Grimm an seinem 200. Todestag in Gotha nichts mehr erinnert.

Denn die gewichtigste Erinnerung an den Mann, der am zweiten Weihnachtsfeiertag 1723 in Regensburg als Pfarrerssohn geboren wurde, ist eine, die mehr darstellt als jede Tafel an einem vielleicht sanierten alten Bau, jedes noch so gut gepflegte Grabmal auf einem kleinen Dorffriedhof. Es ist das Haupt- und Kernstück seines Werkes, das in Gotha liegt, bewahrt in der Forschungsbibliothek im Schloss Friedenstein, ein Werk, das man ohne allzu große lokalpatriotische Übertreibung als eines der wichtigsten Dokumente der europäischen Aufklärung bezeichnen kann. Es ist das wenn nicht vollständige, dann auf alle Fälle nach heutigem Kenntnisstand ganz sicher vollständigste Exemplar der CORRESPONDANCE LITTÉRAIRE.

Die Gothaer Bibliothekarin Maria Mitscherling hat es im Mai 1986 in einem Vortrag vor der Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft so beschrieben: „Das Äußere der Correspondance ist unscheinbar: In Quartformat schlichte braune Lederbände mit sparsamer Goldprägung oder auch nur einfache Pappbände, darin die Lagen der einzelnen Lieferungen, die bis zu 16 Blatt umfassen, vom Bundsteg bis zum Blattrand in kleiner Schrift eng beschrieben, ohne Bilder, ohne viele leserfreundliche Absätze, so präsentieren sich die Handschriften, die zu benutzen Wissenschaftler aus aller Welt nach Gotha gereist kommen. Nur hier sind die Berichte so sorgfältig aufbewahrt worden, wie es ihrer Bedeutung zukam.“

Was damals sicher noch in einer Nebenbedeutung als Lob der ganz besonderen sozialistischen Erbepflege zu Gotha gehört werden sollte, war aber zuallererst berechtigter Stolz. Und noch heute, so merkwürdig das vielleicht manchem erscheinen mag, ist Melchior Grimm auf besondere Weise an die nicht mehr existierende DDR gebunden. Denn bis jetzt gibt es keine einzige deutschsprachige Ausgabe der im Original französisch geschriebenen Korrespondenz, es gibt allein die umfangreiche Auswahl, die der Leipziger Romanist Kurt Schnelle für die in Leipzig erscheinende Sammlung Dieterich unter dem Titel „Paris zündet die Lichter an“ veranstaltete, die später in die „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ übernommen wurde, ein Gemeinschaftsunternehmen mehrerer DDR-Verlage.

Noch ein ganzseitiger Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus dem Jahr 1996 über Friedrich Melchior Grimm und die elfte Folge der Reihe Große Journalisten der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2002 zu Grimm waren auf die Schnelle-Ausgabe verwiesen, die freilich rasch nach ihrem ersten Erscheinen in Leipzig vom Münchener Hanser-Verlag in Lizenz übernommen worden war. Dabei war Grimm für die DDR eigentlich nicht sonderlich kompatibel, er floh vor der Revolution in Paris und Frankreich, seine Correspondance schrieb und lieferte er für Könige, Fürsten, die Zarin und in Gotha nahm ihn das dortige Herrscherhaus als Emigranten auf und wies ihm das jetzt nicht mehr existierende „Prinzenhaus“ am Hauptmarkt zwischen Salzengasse und Hützelsgasse als Domizil an.

Was den Menschen Friedrich Melchior Grimm interessant und wertvoll macht, ist seine Stellung, die er in Paris erlangte und die er so nutzte, dass sein Name eben nicht nur als Bekannter und Freund Bekannterer und Berühmterer in die Geschichte des bürgerlichen Aufstiegszeitalters eingegangen ist. Natürlich kannte er Voltaire, er kannte Marmontel und Rousseau, er kannte d'Alembert und Helvetius, er kannte Buffon und Fontenelle. Natürlich war er der beste Freund des vielleicht bedeutendsten Kopfes der französischen Aufklärung, Denis Diderot. Aber er war immer auch und zuerst Grimm.

Die ihm zu Lebzeiten und danach übel wollten, haben ihm gern Karrierismus nachgeredet, Anpassung, sie haben aus seinen Briefen an Zarin Katharina II. übergroße Servilität abgeleitet. Die Tradition der boshaften Darstellung Grimms geht auf Rousseau zurück, in dessen „Bekenntnissen“ sich vom achten Buch an manches dazu nachlesen lässt. Wer kontrastierend dagegen liest, was derselbe Rousseau an Grimm in einem Brief über dessen „Brief über Omphale“ schrieb, darf sich fragen, wer nun wann wirklich unaufrichtig war. Auch der Gothaer Autor Karl August Georges, der 1904 ein Buch publizierte mit dem Titel „Friedrich Melchior Grimm als Kritiker der zeitgenössischen Literatur in seiner „Correspondance littéraire“ (1753 – 1770), hat die Boshaftigkeit jener Grimmkritiker festgehalten, die Rousseau ohne eigene Urteilsbildung in der Sache folgen.

Doch die seltsame Geschichte der Beziehung zwischen Jean-Jacques Rousseau und Grimm wäre ein eigenes Thema, das man nicht ohne Einbeziehung der wunderbarsten und knappsten Darstellung dazu, die nicht zufällig Heinrich Heine gegeben hat in seinen „Geständnissen“, abhandeln könnte.

Gotha hat dabei keine Rolle gespielt. Gotha war jedoch für Grimm schon lange bevor er sich dort nicht ganz freiwillig ansiedelte, mehr als nur ein Bezugspunkt. Schon in seiner Geburtsstadt Regensburg knüpfte er erste indirekte Kontakte, pflegte sie später, als er in Leipzig bei Gottsched, Ernesti und Mascov studierte und landete sehr folgerichtig, als er in Paris ankam 1749, beim dort weilenden Gothaer Thronfolger. Der Gothaer Hof hat Grimm seine Dienste vergolten, die natürlich weit über die Lieferung der Correspondance hinausgingen. Zitiert sei noch einmal Maria Mitscherling: „Für Gotha ist Grimm seit 1768 als Legationsrat mit 1600 Livres Jahresgehalt, seit 1772 als Geheimer Legationsrat und seit 1775 als bevollmächtigter Minister des Herzogs Ernst II. am französischen Hofe mit 4000 Livres Jahresgehalt tätig.“

Die Goethe-Chronik von Rose Unterberger weist für den achten Oktober 1777 eine erste Begegnung Goethes mit dem Baron Melchior von Grimm aus, denn das war der inzwischen auch geworden. Für 1781 nennt die Chronik die Zeit vom dritten bis zum elften Oktober, in der Goethe in nähere Bekanntschaft zu Grimm kam und zwar in Gotha. Entsprechende Belege liefern ein Brief an Charlotte von Stein und einer an den Weimarer Herzog vom neunten und vom elften Oktober 1781. Warum die Chronik dann rasch zum Jahr 1801 übergeht in der Beziehung des Dichters und des Diplomaten und Journalisten Grimm, obwohl Goethe selbst in der „Campagne in Frankreich“ von seinem Zusammentreffen mit Grimm und jener Madame de Bueil in Düsseldorf 1792 berichtet, die nach ihrer Flucht aus Frankreich auch im Gothaer „Prinzenhaus“ wohnen darf, ist nicht zu erkennen.

Noch in den zahlreichen Gesprächen, die nicht nur Eckermann aufzeichnete, ist Goethe in seinen späten Jahren ab und an auf Grimm zurückgekommen und er hat dem Unternehmen ausdrücklich seinen Respekt gezollt, dessen Zeugnis in Gotha in so großer Vollständigkeit bis heute aufbewahrt wird. Als Goethe freilich Nutznießer der Correspondance wurde, die auch der Weimarer Hof als einer von in der besten Zeit 16 Abnehmern bezog, war Friedrich Melchior Grimm schon nicht mehr Spiritus rector der handschriftlichen Nachrichten aus Paris. Er war schon in seiner aktiven Autoren- und Herausgeberzeit oft auf Reisen, bisweilen vertrat ihn da klagend wegen der hohen Belastung Denis Diderot, später war er nur noch Diplomat.

In Gotha verlebte Grimm seine letzten Jahre, ein Augenleiden, das schon in Paris begonnen hatte, verschlechterte sich so sehr, dass er am Ende fast blind war. Katharina von Bechtolsheim verfasste die Grabinschrift: „Hier ruht ein Weiser, ein liebender Freund. Im späten Winter des Lebens starb er zu früh uns und der Welt“.

zuerst veröffentlicht in: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen Heft 2, 2007, S. 85ff


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