Anna Seghers: Sowjetmenschen
An diesen „Sowjetmenschen“ könnte man eine kleine Phänomenologie stiefmütterlichen Umgangs entfalten. Das Büchlein kommt vor und es kommt nicht vor. Es kommt auf eine Weise vor, die auch hätte verlustlos unterbleiben können. Es füllt eine Buchseite, die über das Register leider nicht erschlossen werden kann. Denn die Bearbeiterinnen vergaßen die „Sowjetmenschen“ einfach und/ oder zufällig. Eine Autorin hat einfach das Inhaltsverzeichnis abgeschrieben, nicht ein Wort mehr dazu gefunden. Sie muss also nicht eine einzige Zeile des Buches selbst gelesen haben. Fünf Jahre später sammelt ein Herausgeber Belege zum Thema „Die Sowjetunion im Werk deutscher Schriftsteller“, das Buch heißt mit diesem Untertitel dann „Sieg der Zukunft“. Heute, wo, im Bild zu bleiben, die Vergangenheit gesiegt hat, erscheint die eilfertige Blindheit der damaligen Seher verblüffend. Im Buch sind wohl mehrere Texte von Anna Seghers, um die es ja geht: keiner aber aus diesen „Sowjetmenschen“. Was war mit ihnen? Hatten ihre Ahnungen die Autorin doch nicht getrogen, war das Ausbleiben von drei der sieben angekündigten Bände womöglich Ergebnis eines Machtworts? Am heutigen 125. Geburtstag von Anna Seghers sind mir das sehr interessante Fragen.
Wir müssen weit zurück in die frühe Zeit der heimgekehrten Emigrantin Anna Seghers gehen, dabei schon nicht mehr ahnungslos und naiv, diese Zeit in diesem Land betreffend. Sie trug ihre Sorgen über das, was sie sah und erlebte 1947 und 1948, nicht in einem Bauchladen vor sich her. Aber sie schrieb Briefe. Am 22. April 1947 kam sie nach Berlin, lebte zunächst in Zehlendorf. Am 30. Juni wurde die „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“ gegründet, die zwei Jahre später „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ hieß. DDR-Bürgern war das Kürzel DSF sehr vertraut. Sie hatte allein deshalb viele Mitglieder, weil es beispielsweise zu den Voraussetzungen gehörte, ein „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu werden, dass alle in der DSF waren. Erster Präsident wurde 1947 Jürgen Kuczynski, seine Stellvertreterin Anna Seghers. Die Gesellschaft bekam einen eigenen Verlag, den Verlag Kultur und Fortschritt. Dort veröffentlichte der Präsident das Buch „Das Land der frohen Zuversicht“, eine Geschichte der Sowjetunion für Jugendliche, die auch Erwachsene lesen können. Wir sehen zukunftsfrohe junge Menschen auf dem Titelbild der 2. Organisationsausgabe der FDJ. Mit Weizensäcken, einem Fußball, einem Sektglas und Baugerüst.
Jürgen Kuczynski schrieb das Einheits-Vorwort für die kleinformatigen Broschüren der Reihe „Deutsche sehen die Sowjetunion“, Klammerheftung, sehr leserfreundliche Schriftgröße. Das Vorwort ist mit 17. September 1948 datiert und beginnt mit der Reiseauskunft: „Im April und Mai dieses Jahres verbrachte eine Delegation deutscher Kulturschaffender, vornehmlich Schriftsteller, auf Einladung des Allsowjetischen Schriftstellerverbandes, vier Wochen in der Sowjetunion. Es war der erste Besuch einer solchen Gruppe nach dem Kriege.“ Vornehmlich Schriftsteller heißt nicht: Schriftsteller. Denn es waren auch andere Kulturschaffende Mitglied der Delegation, deren Größe ich leider nicht kenne. Am 20. April 1948 veröffentlichte Neues Deutschland einen ersten Bericht unter der Überschrift: „Deutsche Schriftsteller in Moskau. Jürgen Kuczynski und Anna Seghers berichten über ihre Eindrücke“. Klar, dass sich bisher niemand der Mühe unterzog, diesen Zeitungsbericht mit dem zu vergleichen, was wenig später zwischen Buchdeckeln landete. Wenn schon die Büchlein selbst niemandes Interesse erregten! Die digitalisierten Ausgaben des ND sind momentan nicht zugänglich, leider. So bleibt ein Rest offen. Das gilt auch für „Sowjetmenschen“.
Einen ersten sehr subjektiven Eindruck mag ich nicht verschweigen. Er betrifft das erste Kapitel „Ein Schuldirektor“ (wenn man „Original-Eindruck“ davor als Vorwort ansieht). Ich dachte: O Gott, hoffentlich geht das nicht so weiter. Es geht nicht, weiß ich bald. Allerdings geht auch der allererste Abschnitt des Büchleins so nicht, wie er dasteht. Ganz abgesehen davon, dass später festgestellt wurde, der Begriff „Original-Eindruck“ komme bei Goethe gar nicht vor. Seghers schreibt: „Goethe erklärt in einem ziemlich wenig bekannten Abschnitt den Eindruck, den ein sehr junger Mensch von einem Ding oder einem Ereignis empfängt, dem er zum erstenmal im Leben gegenübersteht. Er nennt ihn „Original-Eindruck“. Wer auch immer das Manuskript gegenlas, bevor es in Druck ging, hat Anna Seghers vertraut und es nicht besser gewusst. Allerdings hätte er sie fragen müssen, von welchem wenig bekannten Abschnitt welchen Goethe-Werkes die Rede sei. Die Herausgeberinnen der zweibändigen Briefausgabe von Anna Seghers (Aufbau Verlag), Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke, nennen in ihren Anmerkungen die vermutliche Stelle aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, an die sich die Moskau-Reisende wohl nur vage erinnerte. Sehr viel bringt das nicht.
Von der Sowjetunion hatte Anna Seghers, anders als etwa der Mitreisende Bernhard Kellermann, der dann gemeinsam mit seiner Frau Ellen auch ein Büchlein im Rückblick auf die Reise schrieb, keinen „Original-Eindruck“. Als Emigrantin war sie hauptsächlich in Frankreich und in Mexiko, damit vielleicht ohne es zu wissen, allen Gefahren entgangen, die deutschen Emigranten, auch und gerade Kommunisten, begegnen konnten. Viele haben das Land der Zukunft, das Land der frohen Zuversicht nicht überlebt. Und die es überlebten, erlegten sich selbst Schweigen darüber auf, was bis heute nur schwer nachzuvollziehen ist. Mein Eindruck nach neunzig Seiten „Sowjetmenschen“: Wann immer im Manuskript sich die Gelegenheit ergab, erzählte die Autorin von Paris oder Mexiko, wo sie sich auskannte. Das war ihr gutes Recht, gefiel aber womöglich nicht allen, die ein wachsames Auge auf alles zu werfen gewohnt waren damals in der sowjetischen Besatzungszone, die sich noch nicht zur DDR gemausert hatte. Von solch kruder Hymnik, wie sie etwa Bernhard Kellermann zu Papier brachte in seinen Kapiteln „Wir kommen aus Sowjetrussland“, ist Anna Seghers weit entfernt. Schon auf dem Flugplatz sah er nur Imposantes und allerletzten Komfort.
Dennoch sind seine Aussagen vonnöten wie auch die von Stephan Hermlin, der in seinem Bericht „Russische Eindrücke“ Anna Seghers sogar dreifach namentlich erwähnt. Aus der oben genannten Briefausgabe wissen wir, dass er Anna Seghers vergeblich an eine Begegnung in Paris zu erinnern suchte. Falls die nicht eine freie Erfindung war, wie sie Hermlins Biographie bekanntlich mehrfach aufweist, ist es wahrscheinlich, dass Seghers sich nicht an das singuläre Zusammentreffen erinnern konnte: mit einem fast 15 Jahre jüngeren Mann, der mit Literatur noch nichts zu tun hatte. Karl Corino, der dieser Tage 83 Jahre alt wurde, hat vor Jahren zum Leidwesen vieler Hermlin-Anhänger Beweise vorgelegt, die jedemVerdacht Nahrung geben. Von Hermlin wissen wir, wie während der vier Wochen Sowjetunion Begegnungen zustande kamen. Einen Besuch bei Familie Durniaschow absolvierte er gemeinsam mit Anna Seghers, beide suchten diese Familie ohne weitere Mitglieder der Delegation auf, die anderen waren vermutlich zu anderen Familien unterwegs. Die Frau des Hauses war erst am Vortag gefragt worden, ob sie eventuell bereit wäre, zwei deutsche Schriftsteller bei sich zu begrüßen. Sie war bereit, sie empfing Seghers und Hermlin im Kreis ihrer Großfamilie.
Der Familienbesuch ereignete sich am Nachmittag des 1. Mai, den die Delegation auf dem Roten Platz verbrachte, Stalin war zu sehen. „Die Frauen umarmen und küssen Anna Seghers nach gutem russischen Brauch. Draußen ist es dunkel geworden.“ Guter russischer Brauch auch das, nur kennt es Hermlin offenbar nicht: „Dafür achtet er darauf, dass mein Teller immer voll ist, schiebt mir den Eierkuchen hin, überhäuft meinen Teller trotz aller Proteste immer wieder mit Wurst und Käse, schenkt mir Wodka ein.“ Wer je mit Russen in einem Hotelrestaurant saß, kennt die überhäuft vollen Teller, kennt die Abfallberge, die die Kellnerinnen und Kellner kopfschüttelnd beräumen müssen. Abgegessene Teller bedeuten auf Russisch: ich bin noch nicht satt. Außerdem bleibt in Russland beim Gastmahl alles so lange auf dem Tisch, bis die Tafel aufgehoben ist. Auch Hermlin verfügte über keinen sowjetischen Original-Eindruck. Wie es Anna Seghers vor den Bergen erging, erzählt er nicht. Und sie natürlich auch nicht. Sie beschließt ihr Büchlein mit dem Kapitel „Der Abend des 1. Mai“. Das behandelt das bunte Treiben nach dem Besuch, den sie mit keiner Silbe erwähnt. Vielleicht gab es sogar eine Absprache mit Hermlin, um jede Dopplung zu vermeiden.
Sonja Hilzinger hat in ihrem Seghers-Buch (Reclam Stuttgart) die „Sowjetmenschen“ nicht einfach ignoriert, wie es Andreas Schrade (Sammlung Metzler) oder Kurt Batt (Reclam Leipzig) taten. Ihr fiel zur Vorstellung einiger Kapitel ein, drei Textsorten darin zu benennen: bearbeitete Protokolle, Porträts und Berichte. Dergleichen interessiert in der Regel nicht einmal das Amt für literarische Statistik. Dafür erweckt sie den Anschein, als sei Anna Seghers allein in die Sowjetunion gereist, möglicherweise sogar, um Material für eine Auftragsarbeit zu sammeln. Das wäre im Jahr 2000 wohl schon besser zu wissen gewesen. Aus Anna Seghers Büchlein geht nicht hervor, dass die Delegation auch in Leningrad war, das muss man bei Bernhard Kellermann in Erfahrung bringen, dem sogar das noch dicke Eis der Newa imponierte. Von Jürgen Kuczynski erfahren wir viele Jahre später, wie es zum sehr kurzen Kapitel „Der Pope“ kam. Denn der war nicht am Vortag gefragt worden, ob er gern ein paar deutsche Schriftsteller treffen würde. Anna Seghers: „Wir hielten bei einer Fahrt durch die Vorstadt vor seiner offenen Kirche. Wie ungewohnt die Architektur ist, die von Ikonen bedeckte Wand! Das Innere erinnert an die Kirchen Lateinamerikas und Südeuropas.“
Kuczynski: „Wir waren auf einem Spaziergang in der Sowjetunion, auf dem Lande, an einem Sonntag. Anna Seghers entdeckte eine Kirche, aus der Stimmen erklangen. Immer neugierig auf Situationen und Menschen, wollte sie (gegen meinen Rat) in die Kirche gehen.“ Nach dem Ende des Gottesdienstes erlebt Kuczynski dies: „Anna ging auf ihn zu, und zu meinem Schrecken fragte sie ihn, wie es möglich sei, dass man in der Sowjetunion den religiösen Glauben mit dem Sozialismus verbinde. Ganz ehrlich, ernsthaft interessiert schaute sie ihn an.“ Bei Anna Seghers liest sich das so: „Wir haben auf der Fahrt einen Streit gehabt. Ein junger Mensch hat gemeint, man könne nicht gleichzeitig Sozialist und Christ sein. Was hätten Sie ihm erwidert?“ Ob nun Fahrt oder Spaziergang: warum nur wollte Kuczynski den Kontakt mit dem Popen möglichst vermeiden, warum erschreckte ihn eine völlig normale Frage? Könnte es sein, dass gerade diese spezielle Frage bestimmten Menschen als Fangfrage diente, um unbedacht antwortende Menschen als Volksfeinde zu entlarven, damals ein Kampfbegriff des unversöhnlichen ideologischen Klassenkampfes? Anna Seghers: „In der Kirche wird gescheuert und geschmückt wie alle Häuser vor dem ersten Mai.“
Zwei Kapitel erwähnt Sonja Hilzinger in ihrer Aufzählung gar nicht, vermutlich aus einem gut zu verstehenden Grund: sie entsprachen nicht ihrer Textsorten-Aufteilung. Es sind die Kapitel „Ismen“ und „Der wichtigste Ismus“. Zufällig sind das Kapitel, von denen Anna Seghers in einem undatierten Brief an Kuczynski, vermutlich von Ende Mai 1948, annimmt, sie könnten Anstoß erregen: „Z.B. „Ismen“ oder Textilarbeiterin in Polen, überhaupt alles Kritische.“ Sie ist durchaus kompromisswillig, bereit etwas hinzuzufügen, „wenn man das für sehr richtig hält“. Was für eine Formulierung: wenn man das für richtig hält. In „Ismen“ kommt Anna Seghers von ausgestellten Geschenken diverser Gesandter am jeweiligen Zarenhof auf die Frage nach dem Kitsch in Moskau. Sie nennt manches Wandgemälde, vor dem sich in Moskau Schulklassen stauen, Kitsch. Und ist sofort bei mexikanischen Indiokindern. Dann bei Kindern, die aus dem KZ befreit wurden und in Frankfurt am Main fragten angesichts einer Puppe: „Warum gebt ihr mir ein totes Kind zum Spielen?“ Anna Seghers fragt: „Warum macht es hier in der bildenden Kunst nicht ebenso rasch den Weg vom Februar zum Oktober!“ Sie versucht keine eigene Antwort, verweist auf Experimente.
Aber sie schaut genau hin und stellt trotzdem manche Frage nicht. Es ist kaum anzunehmen, dass sie, wenn sie mit einem Schuldirektor sprach, mit dem Direktor einer Blindenanstalt, mit einem Stachanow-Arbeiter, nicht merkte, mit wem sie nicht sprach: sie sprach mit keinem Lehrer, mit keinem Blinden, mit keinem Arbeiter, der nicht als Vorbild die Wandzeitungen und Zeitungsseiten zierte. Wer Offiziere erzählen lässt, wie es in der Armee ist, wird alles bekommen: Wunschbild, Teilwahrheit, pure Propaganda. Das, was manche rasch „Wahrheit“ nennen, bekommt man nicht. Und das Phänomen ist lebendiger als wir alle es vermutlich gern hätten. Selbst am 1. Mai in Moskau denkt Anna Seghers sofort an den 14. Juli in Paris. Die Stachanow-Arbeiterin aus der Textilfabrik erzählt von einem Besuch in Polen, wo ihre Rede nicht verstanden wurde. Dort war Mehrarbeit schlicht mehr Ausbeutung. Eine Übersetzerin sagt zu Anna Seghers: „Manchmal sind in den großen Ja-Schriftstellern noch einzelne Stücke vom alten Nein.“ Sie sagt zum Glück nicht, dass ihnen das mit Gewalt ausgetrieben werden müsse. Trost und Ermutigung holt sich Seghers bei der schwer kranken Alexandra Kollontai, hier gönnt sie sich erstmals im Buch das kleine Wort „ich“.
Bernhard Kellermann zu Moskau 1948: „Moskau zeigte nicht die leiseste Spur des Krieges mehr. Wir besuchten Schulen und Universitäten, Museen und Galerien und waren täglich in einem der dreiunddreißig Theater Moskaus.“ Hat sich Anna Seghers davor gedrückt? Im Buch kein Wort über einen Theaterbesuch, geschweige denn über tägliche Theaterbesuche. Kellermann: „Kein einziger von den antifaschistischen Teilnehmern unserer Delegation erlebte auch nur das geringste unfreundliche, geschweige denn antideutsche Wort oder einen abweisenden Blick.“ Noch 40 Jahre später erlebte ich es in Belorussland anders und hatte das Gefühl der Scham, nicht der Empörung. Eine ganze Woche Leningrad ist bei Anna Seghers nicht erwähnt, auch dort sah Kellermann fast alle Spuren des Krieges „nahezu überwunden“. Fast alle und nahezu, wie herrlich lässt sich mit Worten jonglieren! Als wäre es ein Kratzer am Bild der Sowjetunion, wenn drei Jahre nach Kriegsende noch nicht alles wieder oder überhaupt aussieht wie im Freiluftmuseum für Touristen. Anna Seghers: „Die Sowjetmacht steht so stark da, dass es nicht mehr auf sie zurückwirkt, ob ihr Echo in einer hohlen Hand aufgefangen wird oder ob eine Welt davon dröhnt.“ 40 Jahre später zerfiel sie.