Wladimir Makanin: Die Verfolgungsjagd

Höchste Zeit ist es, dass dieser Name zum Begriff wird: Wladimir Makanin. Er ist 1937 in Orsk im Ural geboren und lebt heute als freischaffender Schriftsteller in Moskau. Gegen das Etikett, ein Schüler von Juri Trifonow zu sein, hat er sich gewehrt, und in der Tat, Makanin ist ein eigenständiger, ein wichtiger, mittlerweile sicher auch repräsentativer Autor. Seit 1965 veröffentlicht er Romane und Erzählungen; zu uns kam als erstes seiner Bücher „Alte Bücher oder Das Porträt einer jungen Frau“, das war 1979. Damals mochte es Erstaunen hervorrufen, von einer jungen Frau zu lesen, die auf dem Schwarzmarkt zu Hause war, dunkle Geschäfte mit gefragten Büchern tätigte und die Miliz übertölpelte. Inzwischen ist uns Makanin vertrauter geworden, zu lesen gab es seither „Der Mann aus der Suite“, „Wo der Himmel mit den Hügeln zusammentrifft“, „Der Wunderdoktor“, „Der Mann mit den zwei Gesichtern“ und „Der Ausreißer“.

Immer sind es richtige Geschichten, die Makanin erzählt, er behauptet nicht, sondern führt vor. Das ist wohltuend inmitten zahlreicher Bücher, die an Kopflastigkeit kranken, an Helden, die auf ihren Nabel starren, an wehleidigen Krisengeschichten. Für mich der bisherige Höhepunkt, wenn das überhaupt zu sagen ist: „Die Verfolgungsjagd“, erschienen in der ENT-Reihe des Aufbau-Verlages. es gibt eine Wiederbegegnung mit Swetik, der jungen Frau vom schwarzen Markt, sie ist gemeinsam mit einem Schriftsteller auf der Jagd nach einer wertvollen alten Ikone, die zwanzigtausend Rubel einbringen soll. Was da alles passiert auf nur 150 Seiten – es ist aberwitzig und streckenweise rabenschwarz. Blasphemischer Umgang mit geheiligten Traditionen, mit Puschkin etwa und dem Bauernführer Stepan Rasin, steht neben deftigen Szenen auf einem nächtlichen Friedhof. Lesegenuss ist garantiert.
Zuerst veröffentlicht in: NEUE HOCHSCHULE, 31. Jahrgang, Nr. 15, Seite 5 unter dem
Titel „Ikonenjäger und anderes“

Nein, keineswegs verlacht Makanin seine Helden gnadenlos als Opfer von Trivialromanen, nach deren Verwirklichung im Leben sie sich so sehr sehnen, wie Oksana Bulgakowa in ihrem Nachwort behauptet. Weder Swetik noch Igor Petrowitsch, ebensowenig Stepan Rasin, der sich seines Namens schämt oder das Ehepaar Tonkstrunow werden verlacht und gnadenlos schon gar nicht. Letztlich geht es ums Glück in Wladimir Makanins Buch „Die Verfolgungsjagd“, das jetzt in der Edition Neue Texte des Aufbau-Verlages erschienen ist. Und es geht auch um Freiheit. Glück und Freiheit haben verschiedene Gesichter, nicht abzutrennen sind sie von dem, was einzelne Menschen sich darunter vorstellen und damit ist keineswegs die Objektivierbarkeit der beiden Begriffe in Frage gestellt.

Stepan Rasin zum Beispiel, der Ingenieur, der ein unscheinbares, ein fast bis zur Unsichtbarkeit unscheinbares Leben führt, explodiert förmlich, als ihm Verfügungsgewalt über jene fünfzehntausend Rubel zufällt, die Swetik für die lange gejagte Ikone einhandelt, die so gewonnene neue Freiheit ist natürlich kaum mehr als eine gewisse Bewegungsfreiheit und nicht etwa DIE Freiheit. Für Rasin aber entsteht die Möglichkeit, bis dahin nicht entdeckte Persönlichkeitseigenschaften zu entfalten, rauschhaft lebt er sich aus, holt nach, was er lange versäumte. In seiner Geschichte ist eine kräftige Prise Tragik, lebensecht verwoben mit Komik. Zentrum der Geschichte ist jedoch Swetlana, genannt Swetik, Makanin-Liebhabern bereits aus „Alter Bücher oder Das Porträt einer jungen Frau“ bekannt (1979 im Verlag Neues Leben).

Swetiks Wesen ist charakterisiert zwischen den Polen frappierender Intelligenz und Menschenkenntnis und erschütternder Dummheit, ein höchst widerspruchsvolles Wesen also und als solches in hohem Grade literaturwürdig. Bewegte sie sich in „Alte Bücher“ auf dem schwarzen Buchmarkt Moskaus in windigen Geschäften, so jagt sie nun einer wertvollen alten Ikone nach aus dem Nachlass eines alten Mannes, in dessen verfallener Hütte sie ein paar Tage krank gelegen hatte. Swetik ist einfallsreich und findig. Sie kann mit Menschen umgehen, weiß sie zu nehmen. Sie ist nicht eigentlich raffgierig, möchte nur ihren Traum vom Glück realisieren. Dass sie scheitert, liegt nicht an den Dimensionen dieses Glückstraums, die klein sind, allzu klein vielleicht für den Rahmen einer sozialistischen Gesellschaft.

Wladimir Makanin hat ihren Charakter mit viel Liebe gezeichnet und er hat es auf eine Wiese getan, die so vielen anderen jüngeren Autoren leider nicht gegeben scheint: er zeigt sie in ihrem Handeln, distanziert-ironisch wohl, aber mit großem Einfühlungsvermögen. Eine Aburteilung findet nicht statt, vordergründiges Moralisieren ist überhaupt nicht Makanins Sache. „Die Verfolgungsjagd“ ist ein handlungspralles, höchstes Lesevergnügen bietendes schmales Buch. Schön wäre es, wenn es eine Verfolgungsjagd der Leser auf sich ziehen würde.
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE, Nr. 158, 12. August 1988, Seite 13, unter dem Titel
„Swetik – ein höchst widerspruchsvolles Wesen“, nach dem Typoskript

Ist Hans Dampf in allen Gassen, sprichwörtlich geworden bei uns durch die gleichnamige Erzählung des großen Schweizer Aufklärers und Pädagogen Heinrich Zschokke, eigentlich eine festgeschriebene Männerrolle? Wladimir Makanin, Moskauer Schriftsteller des Jahrgangs 1937, hat – natürlich nicht, um dies Frage zu beantworten – eine Figur erschaffen, die ein modernes Urbild dieses Typus sein könnte: Swetlana, genannt Swetik. DDR-Lesern begegnete diese junge Dame 1979 zum ersten Male, trieb sich damals auf dem schwarzen Büchermarkt Moskaus herum, tätigte allerlei windige Geschäfte in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität, bis der Arm des Gesetzes sie schließlich erreichte. „Alte Bücher oder Das Porträt einer jungen Frau“ erschien damals im Berliner Verlag Neues Leben, es war gewissermaßen ein Frühstart. Mittlerweile scheinen sich unsere Verlage geradezu um neue Makanin-Editionen zu rangeln, der Verlag Volk und Welt jedenfalls und auch der Aufbau-Verlag präsentieren Bücher Makanins.

„Die Verfolgungsjagd“, die jetzt in der Edition Neue Texte des Aufbau-Verlages erschienen ist, verschafft uns eine neue Begegnung mit Swetik. Und was für eine! Ließen die strengen Gepflogenheiten unserer Literaturgesellschaft es zu, dass Kritiker lediglich ihr wohliges Stöhnen vermelden angesichts eines rasanten, sich überschlagenden Handlungsablaufes, der in rabenschwarze Humore aufgipfelt – ich würde es tun (und habs ja hiermit auch getan). Was für Szenen, was für eine Geschichte! Da gräbt der Schriftsteller Igor Petrowitsch gemeinsam mit einem versoffenen Totengräber nächtens eine 108 Jahre alte adlige Dame wieder aus, die kurz zuvor beerdigt worden war und siehe: die alte Dame öffnet die Augen und lebt. Sie friert allerdings heftig in ihrem Sterbegewand, gediegner Schieberware, und will nach Hause.

Dieser Schriftsteller Iwan Petrowitsch ist der zwischenzeitliche Partner von Swetik bei ihrem neuesten Unternehmen: sie jagt einer kostbaren alten Ikone hinterher, die zwanzigtausend Rubel einbringen soll, der einzigen Hinterlassenschaft eines alten einsamen Mannes, der in einer verfallenen Taiga-Hütte starb, während Swetik dort mit hohem Fieber auf dem Ofen lag. Die Geschichte folgt der guten alten Stationen-Dramaturgie und Makanin zeigt überzeugend, dass mit einer richtigen Erzählidee einer scheinbar allzu erprobten Form allemal noch etwas abzugewinnen ist, im Nachwort, das Oksana Bulgakowa verfasst hat, wird dazu auf die berühmten Stühle-Jäger von Ilf/Petrow verwiesen (leider sind die rein sachlichen Informationen im Nachwort das einzige, das dieses lesbar macht).

Natürlich hat die Geschichte ein kritisches Potential, natürlich tendiert der Figurenreigen heftig in Richtung Panoptikum – das aber hat seinen hohen Reiz. Und neben die Komik hat Wladimir Makanin auch Tragisches gestellt: die Geschichte des Ingenieurs Rasin hat von beidem. Sein kurzer Höhenflug an der Seite von Swetik endet im Wahn und in eben der Hütte, von der aus die Ikonenjagd ihren Anfang nahm. Swetik fällt übrigens am Ende – folgerichtig – auf die Füße: sie landet in einem Wohnraumvermittlungsbüro, unvergesslich – auf sie trifft dieses Wort nun wirklich einmal zu.
Geschrieben am 28. Juli 1988 für FREIES WORT Suhl, unveröffentlicht,
nach dem Typoskript


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