Valentin Rasputin: Der Junge, der Fluss und der große Wald

Rasputin für Kinder? Der Kinderbuchverlag Berlin hat, entgegen sonstigen Gepflogenheiten, auf die Angabe „Für Kinder von … Jahren an“ verzichtet. So bietet sich denn „Der Junge, der Fluss und der große Wald“ ohne Einschränkung allen Lesern an, gleich welchen Alters, und das ist gut so. Es handelt sich, Schwärmen sei mir erlaubt, um eine ganz wunderbare, ganz unvergleichlich poetische, ganz einfache und ganz tiefe Geschichte, freundlich bebildert von Waltraud Fischer und augenfreundlich gedruckt in der Übertragung von Aljonna Möckel. Als Zugabe bietet der Klappentext Sätze von Wladimir Krupin über Rasputin und sein Kinderbuch, das im russischen Original den treffenderen, allerdings wohl weniger verlockenden Titel „Heimaterde“ trägt.

Eine Geschichte im strengen Sinne ist es gar nicht, was Rasputin erzählt. Fast zur Hälfte kommt es als lockere Bilderfolge daher, die sich zu einem Hohelied auf Sibirien, genauer auf das Gebiet um den Baikal und die Angara rundet. Naturbeschreibungen voller Poesie und plastischer Bildhaftigkeit bezeugen Rasputins Heimatliebe. Nie, möchte ich behaupten, könnten solche Beschreibungen aus rein äußerlicher Begeisterung für eine Landschaft entstehen: „Wenn die Winde toben, grüßen die Berge einander, indem sie sich mit den Zweigen der Bäume zuwinken.“ Die Art und Weise, wie Walentin Rasputin sich das ideale Verhältnis von Mensch und Natur vorstellt, wirkt bis in die Struktur dieses kleinen Buches hinein: die Passagen, in deren Mittelpunkt der Junge Sanja steht, fügen sich nahtlos und in keiner Hinsicht exponiert in das Ganze ein.

Wir begegnen Sanja im ersten und im dritten Teil des Buches. Am Anfang wartet er auf das Bersten des Angara-Eises, am Ende ist er mit seinem Onkel Mitjai auf Beerensuche, verbringt seine erste Nacht in der Taiga und wird sich bewusst, dass ihm ein unvergessliches und vielleicht sogar unwiederholbares Erlebnis zuteil wurde. Für die Geschichte der Beerensuche, die kindgemäßeste des Buches, hat Rasputin auf die auch bei uns schon veröffentlichte Erzählung „Leb und Liebe“ (Volk und Welt Spektrum 197) zurückgegriffen, hat die Wolodja-Figur entfernt und das tragische Element jenes Textes insgesamt. Belassen hat er das elementare Naturerlebnis seines Helden, der einen neuen Begriff von Reichtum gewinnt und an sich selbst ein „gewaltiges Verlangen“ nach Schönheit und Leidenschaft entdeckt.

Erwachsene Leser werden ohne weiteres „ihren“ Rasputin auch in diesem Buch wiederentdecken. Zwar hat er hier zugunsten eines rundum harmonischen Gesamtbildes seiner „Heimaterde“ für Kinder bis auf kaum merkliche Reste alles Problematische, alle Gefährdungen, alle regressiven Entwicklungen, die er sonst thematisiert in der gleichen Landschaft, unter den gleichen Menschen, ausgeklammert, seine moralische Botschaft jedoch, die auch in diesem Buch recht direkt formuliert wird, ist unverändert. „Was brauche ich mehr? Es ist so herrlich!“ denkt Sanja am Morgen nach seiner ersten Taiga-Nacht und: „Mochte kommen, was wollte – er hatte das gesehen!“ Ich halte diese Botschaft für bedenklich, wie ich auch das Credo des Klappentextes von der „Kraft der Güte“ für bedenklich halte. Die Welt ist noch anders und die Menschen brauchen sehr viel mehr als das noch so einmalige Harmonie-Erlebnis in der Natur, mit ihrer Heimat. Ohne das sind sie allerdings und ohne jeden Zweifel entschieden ärmer und die Sehnsucht danach weckt Rasputin.
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE Nr. 252, Seite 13, am 23. Dezember 1988 unter dem
Titel „Sibirische Ansichten der Sehnsucht nach Harmonie“, nach dem Typoskript


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