Valentin Rasputin: Der Brand
Wenn es zu einem Schriftsteller kontroverse Auffassungen gibt, ist das Wort „umstritten“ rasch bei der Hand, so wenig es auch besagt. Valentin Rasputin, geboren 1937, ist ein umstrittener Schriftsteller, weil er ein Moralist ist. Er stellt bohrende Fragen und er stellt in Frage. Er konfrontiert Tradition und Gegenwart, Nachsichtigkeit ist seine Sache nicht. „Damit sich der Mensch in seinem Leben erträglich fühlen kann, muss er zu Hause sein. Das ist es: zu Hause. Zuallererst muss er zu Hause sein, nicht irgendwo einquartiert, muss er in sich selbst, in seiner eigenen inneren Ordnung ruhen, wo alles seinen bestimmten, althergebrachten Platz und seine Aufgabe hat.“ So steht es in Rasputins jüngst veröffentlichten Buch „Der Brand“, in dem erzählt wird, wie es zugeht, wenn Menschen nicht zu Hause sind. Als das Lebensmittel- und Industriewarenlager der Siedlung Sosnowka eines Nachts brennt, offenbaren die Menschen, die in dieser Siedlung wohnen, ihren Charakter.
Verhältnisse werden deutlich und Entwicklungen schlimmen Zuschnitts. Die Einwohner Sosnowkas stammen alle aus Dörfern, die einem Stausee weichen mussten, in „Abschied von Matjora“ hat Rasputin diesen konfliktreichen Stoff höchst wirksam gestaltet, und mit ihren alten Dörfern sind ihnen die alten Werte abhanden gekommen. Sie retten den Wodka und lassen das Mehl brennen. Fast auf sich allein gestellt, versucht der Kraftfahrer Jegorow zu bergen, was zu bergen ist, er sieht Chaos, Plünderung und Hilflosigkeit. Fast allein steht er mit seiner Moral, seine Identifikation mit seiner Arbeit wirkt wie ein fossiler Überrest aus längst vergangenen Tagen. Valentin Rasputin hat nichts beschönigt in seiner Erzählung, die etwa Ende der 70er Jahre spielt, scharf und umfassend ist seine Kritik. Man versteht die Tragweite der Beschlüsse des XXVII. Parteitages der KPdSU besser, wenn man dieses Buch gelesen hat, und man legt das Buch nicht entmutigt beiseite, wenn man diese Beschlüsse kennt. „Der Brand“ ist ein brennend aktuelles Buch, eines zum Streiten.
Zuerst veröffentlicht in NEUE HOCHSCHULE, 31. Jahrgang, Nr. 12, 17. Juni 1988.
Seite 5, unter dem Titel „Beschreibung einer Brandnacht“
Dass Valentin Rasputins Bücher kontroverse Diskussionen auslösen, überrascht mittlerweile niemanden mehr. Auch die Erzählung „Der Brand“, die jetzt in der gefragten Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt erschienen ist, fordert geradezu gebieterisch die öffentliche Diskussion. Es ist eine Erzählung von novellistischem Zuschnitt, und es ist eine eindringliche, eine unerbittliche Erzählung. In der Siedlung Sosnowka an der Angara brennt das Lebensmittel- und Industriewarenlager nieder, Löscharbeiten sind nicht möglich, es gibt weder eine Feuerwehr noch einsatzfähiges Gerät zum Löschen. Die Bewohner der Siedlung versuchen deshalb zu retten, was zu retten ist. Wir erleben die dramatische Brandnacht aus der Perspektive des Kraftfahrers Iwan Petrowitsch Jegorow, mit seinen Augen sehen wir die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Menschen in dieser Brandnacht. Wir erleben Panik und Plünderung, wir erleben hilflose Anmaßung und chaotische Zustände. Aber wir erleben auch selbstlosen Kampf um die Rettung lebenswichtiger Güter: bis zur äußersten physischen Erschöpfung schleppt Jegorow, nur von wenigen unterstützt, Mehl aus dem brennenden Lager, andere dagegen retten zuallererst den Wodka, sind nach kurzer Zeit bereits sinnlos betrunken.
Ihre Tiefendimension erhält die Erzählung vor allem aus dem besonderen Umstand, dass die Bewohner der Siedlung Sosnowka aus verschiedenen Dörfern stammen, die vor Jahren einem Stausee weichen mussten. Rasputin knüpft damit an sein inzwischen auch eindrucksvoll verfilmtes Buch „Abschied von Matjora“ an: die Umgesiedelten sind in ihrer neuen Heimat nicht heimisch geworden. Im Brand und im Verhalten der Mitmenschen zum Brand sieht deshalb die Hauptfigur Iwan Petrowitsch Jegorow Symptomatisches: mit ihrer alten Heimat, mit dem Dorf Jegorowka und den anderen überfluteten Dörfern haben diese Menschen nicht einfach nur ihren festen Platz auf der Erde verloren, vor allem haben sie, das konstatiert Jegorow mit unerbittlicher Klarheit und – wie sich am Ende zeigt – auch resignierend, ihre Bindung an die Werte des alten Gemeindelebens verloren. Jegorow empfindet sich selbst mit seinem hartnäckigen Fragen nach dem moralisch Guten und dem moralisch Bösen wie ein lebendes Fossil einer unwiederbringlichen Zeit. Für ihn ergibt sich, wie es scheint, eine irreparable Negativbilanz gesellschaftlicher Entwicklung und Rasputin lässt ihn am Morgen nach dem Brand die Menschen fliehen: „Ein kleiner verirrter Mensch geht über die Frühlingserde, der die Hoffnung aufgegeben hat, ein Zuhause zu finden, gleich wird er ein Wäldchen erreichen und für immer dahinter verschwinden.“
Valentin Rasputins Sympathie gehört unübersehbar dem Arbeiter Jegorow, die Frage, die dieser sich stellt, sind wohl auch die Fragen des Autors, Figurenperspektive und Autorenperspektive überlagern sich, die Wiederkehr bestimmter Sichtweisen aus früheren Werken Rasputins belegt das zusätzlich. Und so wird auch die Frage nach Rasputins eigener Weltsicht unabweislich. Jegorows Meditationen, denen naturgemäß eine wissenschaftliche Grundierung abgeht, kreisen um höchste philosophisch-weltanschauliche Kategorien: um die Wahrheit, das Gewissen, die Seele. Nichts deutet darauf hin, dass die Seele metaphorisch verstanden wird, einiges aber deutet darauf hin, dass bestimmte Grundfiguren idealistischen Denkens bis hin zu quasireligiösen Anschauungen in dieser Weltsicht Bedeutung haben. Rasputin führt das ohne Distanz vor, er lässt seine Leser teilhaben an der fast verzweifelten Suche Jegorows, feste geistige Grenzlinien zu finden, mithin, und darum handelt es sich objektiv, dialektischen Widersprüchen ohne Dialektik weltanschaulich beizukommen.
Das aufrüttelnde, streckenweise bohrend anklägerische Buch Valentin Rasputins wirft brisante Fragen auf, auf deren Beantwortung wir nicht verzichten können. Zugleich drängt es uns auch, das Arsenal unserer Mittel zu überdenken, mit denen wir diese Antworten angehen können. Denn Antworten, die unbesehen zu akzeptieren sind, enthält das Buch nicht. Die Diskussion um Valentin Rasputin hat neue Nahrung.
Zuerst veröffentlicht in TRIBÜNE Nr. 128, 1. Juli 1988, Seite 13, unter dem Titel „Ein
Brand mit Folgen in der Siedlung Sosnowka“, nach dem Typoskript